Aus eben diesen Jahren nun stammen jene Gedichte des jungen Josef Knecht, die in der Abschrift Ferromontes sich erhalten haben; es ist wohl möglich, daß ihrer mehr waren, als auf uns gekommen sind, und es ist anzunehmen, daß auch diese Gedichte, deren früheste noch vor Knechts Einführung ins Glasperlenspiel entstanden sind, mitgeholfen haben, ihm die Durchführung seiner Rolle und das Überstehen jener kritischen Jahre zu ermöglichen. Jeder Leser wird da und dort in diesen zum Teil kunstvollen, zum Teil sichtlich rasch hingeschriebenen Versen Spuren der tiefen Erschütterung und Krise entdecken, welche Knecht damals unter Plinios Einfluß durchgemacht hat. Es klingt in mancher Zeile eine tiefe Beunruhigung, ein grundsätzlicher Zweifel an sich selbst und am Sinn seines Daseins, bis in dem Gedicht »Glasperlenspiel« die fromme Hingabe gelungen scheint. Übrigens lag ein gewisses Zugeständnis an die Welt Plinios, ein Stück Rebellion gegen gewisse kastalische Hausgesetze schon in der bloßen Tatsache, daß er diese Gedichte geschrieben und sie sogar mehreren Kameraden gelegentlich gezeigt hat. Denn wenn schon im allgemeinen Kastalien auf das Hervorbringen von Kunstwerken Verzicht geleistet hat (auch musikalisches Produzieren kennt und duldet man dort nur in der Form von stilistisch streng gebundenen Kompositionsübungen), so galt Gedichtemachen gar für das denkbar Unmöglichste, Lächerlichste, Verpönteste. Ein Spiel also, ein müßiges Schnitz- und Schnörkelwerk sind diese Gedichte nicht; es bedurfte eines hohen Drucks, um diese Produktivität in Fluß zu bringen, und es gehörte ein gewisser trotziger Mut dazu, diese Verse zu schreiben und sich zu ihnen zu bekennen.
Es bleibe nicht unerwähnt, daß auch Plinio Designori unter dem Einfluß seines Antagonisten erhebliche Wandlungen und Entwicklungen erfuhr, und zwar nicht nur im Sinn einer Erziehung zur Läuterung seiner Kampfmethoden. Während des kollegialen und kämpferischen Austausches jener Schuljahre sah er seinen Gegenspieler sich in stetiger Steigerung zum vorbildlichen Kastalier entwickeln, es trat ihm der Geist der Provinz in der Gestalt des Freundes immer sichtbarer und lebendiger entgegen, und ebenso wie er jenen bis zu einem gewissen Gärungsgrade mit der Atmosphäre seiner Welt infiziert hatte, atmete er selbst die kastalische Luft und erlag ihrem Reiz und Einfluß. Im letzten Jahr seiner Schulzeit, nach einer zweistündigen Disputation über die Ideale des Mönchtums und deren Gefahren, welche sie im Beisein der obersten Glasperlenspiel-Klasse ausgekämpft hatten, nahm er Josef zu einem Spaziergang mit und machte ihm auf diesem Gang ein Geständnis, das wir nach einem Brief Ferromontes zitieren: »Ich weiß natürlich längst, Josef, daß du der frommgläubige Glasperlenspieler und Provinzheilige nicht bist, dessen Rolle du so ausgezeichnet spielst. Jeder von uns beiden steht an exponierter Stelle in einem Kampf, und jeder von uns weiß ja wohl, daß das, wogegen er kämpft, zu Recht existiert und seine unbestrittenen Werte hat. Du stehst auf der Seite der Hochzucht des Geistes, ich auf der Seite des natürlichen Lebens. In unsrem Kampf hast du gelernt, die Gefahren des natürlichen Lebens auszuspüren und aufs Korn zu nehmen; dein Amt ist es, darauf hinzuweisen, wie das natürliche, naive Leben ohne geistige Zucht zum Sumpf werden und ins Tierische und noch weiter zurückführen muß. Und ich wieder muß immer wieder daran erinnern, wie gewagt, gefährlich und schließlich unfruchtbar ein Leben sei, das rein auf den Geist gestellt ist. Gut, jeder verteidigt das, an dessen Primat er glaubt, du den Geist, ich die Natur. Aber nimm es nicht übel, es will mir manchmal so vorkommen, als haltest du mich tatsächlich und naiv für so etwas wie einen Feind eures kastalischen Wesens, für einen Mann, dem eure Studien, Übungen und Spiele im Grunde nur Firlefanz bedeuten, wenn er sie auch aus diesen oder jenen Gründen eine Weile mitmacht. Ach, mein Lieber, wie sehr wärest du im Irrtum, wenn du das wirklich glauben solltest! Ich will dir bekennen, daß ich zu eurer Hierarchie eine ganz närrische Liebe habe, daß sie mich oft entzückt und verlockt wie das Glück selbst. Ich will dir auch bekennen, daß ich vor Monaten, als ich eine Weile zu Hause bei den Eltern war, eine Aussprache mit meinem Vater durchgekämpft und es erreicht habe, daß er mir erlaubt, Kastalier zu bleiben und in den Orden einzutreten für den Fall, daß am Ende meiner Schulzeit dies mein Wunsch und Entschluß sein sollte; und ich war glücklich, als er endlich seine Einwilligung dazu gab. Nun, ich werde keinen Gebrauch von ihr machen, das weiß ich seit kurzem. O nicht, daß ich die Lust dazu verloren hätte! Aber ich sehe mehr und mehr: für mich würde das Verbleiben bei euch eine Flucht bedeuten, eine anständige, eine edle Flucht vielleicht, aber eben doch eine Flucht. Ich werde zurückkehren und ein Weltmensch werden. Aber ein Weltmensch, der eurem Kastalien dankbar bleibt, einer, der manche eurer Übungen weiter üben und jedes Jahr das große Glasperlenspiel mitfeiern wird.«
Mit tiefer Bewegung teilte Knecht dies Geständnis Plinios seinem Freunde Ferromonte mit. Und dieser fügt der Erzählung in eben jenem Briefe die Worte bei: »Mir, dem Musiker, war dies Bekenntnis Plinios, dem ich nicht immer gerecht geworden war, wie ein musikalisches Erlebnis. Der Gegensatz: Welt und Geist, oder der Gegensatz: Plinio und Josef hatte sich vor meinen Augen aus dem Kampf zweier unversöhnlicher Prinzipien in ein Konzert sublimiert.«
Als Plinio seinen vierjährigen Schulkurs beendet hatte und nach Hause zurückkehren sollte, brachte er dem Vorstand einen Brief seines Vaters, der Josef Knecht für die Ferien einlud. Dies war ein ungewöhnliches Ansinnen. Urlaub zu Reisen und Aufenthalt außerhalb der pädagogischen Provinz gab es zwar, vor allem zu Studienzwecken, nicht allzu selten, doch war er allerdings eine Ausnahme und wurde nur älteren und bewährteren Studierenden, niemals aber Schülern gewährt. Schulvorstand Zbinden hielt immerhin die Einladung, da sie von einem so hochgeachteten Hause und Manne kam, für wichtig genug, um sie nicht von sich aus abzulehnen, sondern legte sie dem Ausschuß der Erziehungsbehörde vor, welche sie alsbald mit einem lakonischen Nein beantwortete. Die Freunde mußten Abschied voneinander nehmen.
»Wir werden es später wieder mit der Einladung versuchen,« sagte Plinio, »irgendeinmal wird es schon glücken. Du mußt einmal mein Vaterhaus und meine Leute kennenlernen und sehen, daß auch wir Menschen sind und nicht bloß so ein Geschmeiß von Welt- und Geschäftsleuten. Du wirst mir sehr fehlen. Und nun sieh zu, Josef, daß du in diesem komplizierten Kastalien bald nach oben kommst; du eignest dich zwar sehr zum Glied einer Hierarchie, aber nach meiner Meinung doch mehr zum Bonzen als zum Famulus, deinem Namen zum Trotz. Ich prophezeie dir eine große Zukunft, du wirst eines Tages Magister sein und zu den Erlauchten zählen.«
Josef sah ihn traurig an.
»Spotte nur!« sagte er, mit der Bewegung des Abschiednehmens kämpfend. »Ich bin nicht so ehrgeizig wie du, und wenn ich es jemals zu einem Amt bringe, so wirst du längst Präsident oder Bürgermeister, Hochschulprofessor oder Bundesrat sein. Denke freundlich an uns, Plinio, und an Kastalien, entfremde dich uns nicht ganz! Es muß doch bei euch draußen auch einige Leute geben, die von Kastalien mehr wissen als die Witze, die dort draußen über uns gemacht werden.«
Sie drückten einander die Hände, und Plinio reiste ab. Für sein letztes Waldzeller Jahr wurde es um Josef sehr still, seine exponierte und anstrengende Funktion als gewissermaßen öffentliche Persönlichkeit hatte plötzlich ein Ende, Kastalien brauchte keinen Verteidiger mehr. Seine Freizeit widmete er in diesem Jahr vorwiegend dem Glasperlenspiel, das ihn mehr und mehr anzog. Ein Heftchen Notizen aus jener Zeit über Bedeutung und Theorie des Spieles beginnt mit dem Satz: »Das Ganze des Lebens, des physischen wie des geistigen, ist ein dynamisches Phänomen, von welchem das Glasperlenspiel im Grunde nur die ästhetische Seite erfaßt, und zwar erfaßt es sie vorwiegend im Bild rhythmischer Vorgänge.«
Josef Knecht war nun etwa vierundzwanzig Jahre alt. Mit der Entlassung aus Waldzell war seine Schülerzeit abgeschlossen, und es begannen die Jahre des freien Studierens; mit Ausnahme der harmlosen Eschholzer Knabenjahre sind sie wohl die heitersten und glücklichsten seines Lebens gewesen. Es ist ja auch immer aufs neue etwas Wunderbares und rührend Schönes um die schweifende Entdeckungs- und Eroberungslust eines Jünglings, der zum erstenmal frei vom Schulzwang sich den unendlichen Horizonten des Geistigen entgegen bewegt, dem noch keine Illusion zerflattert, kein Zweifel weder an der eigenen Fähigkeit zu unendlicher Hingabe, noch an der Unbegrenztheit der geistigen Welt gekommen ist. Gerade für Begabungen von Josef Knechts Art, welche nicht von einem Einzeltalent schon früh zur Konzentration auf ein Spezialfach gedrängt werden, sondern ihrem Wesen nach auf Ganzheit, auf Synthese und Universalität zielen, ist dieser Frühling der Studienfreiheit nicht selten eine Zeit intensiven Glückes, ja beinahe Rausches; ohne die vorangegangene Zucht der Eliteschule, ohne die seelische Hygiene der Meditationsübungen und ohne die mild geübte Kontrolle der Erziehungsbehörde wäre diese Freiheit für solche Begabungen eine schwere Gefahr und müßte vielen zum Verhängnis werden, wie sie es in den Zeiten vor unsrer heutigen Ordnung, in den vorkastalischen Jahrhunderten, unzähligen hohen Begabungen gewesen ist. An den Hochschulen jener Vorzeit hat es zu gewissen Zeiten von jungen faustischen Naturen geradezu gewimmelt, welche mit vollen Segeln aufs hohe Meer der Wissenschaften und der akademischen Freiheit fuhren und alle Schiffbrüche eines ungezügelten Dilettantismus erleiden mußten; Faust selber ist ja der Prototyp des genialen Dilettantismus und seiner Tragik. In Kastalien nun ist die geistige Freiheit der Studierenden noch unendlich viel größer, als sie es je an den Universitäten früherer Epochen war, denn die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu Studien sind viel reichhaltiger, außerdem fehlt in Kastalien völlig die Beeinflussung und Beschränkung durch materielle Rücksichten, durch Ehrgeiz, Ängstlichkeit, Armut der Eltern, Aussichten auf Brot und Karriere und so weiter. In den Akademien, Seminaren, Bibliotheken, Archiven, Laboratorien der pädagogischen Provinz ist jeder Studierende, was seine Herkunft und was seine Aussichten betrifft, vollkommen gleichgestellt; die Hierarchie stuft sich lediglich aus den intellektuellen und charakterlichen Anlagen und Qualitäten der Schüler. In materieller und geistiger Hinsicht dagegen sind von den Freiheiten, Verlockungen und Gefahren, welchen an weltlichen Hochschulen viele Begabte zum Opfer fallen, in Kastalien die meisten nicht vorhanden; es besteht auch hier noch Gefahr, Dämonie und Verblendung genug – wo wäre das Menschendasein von ihnen frei? – aber der kastalische Student ist immerhin manchen Möglichkeiten der Entgleisung, der Enttäuschung und des Untergangs entzogen. Weder kann es ihm geschehen, daß er der Trunksucht verfällt, noch kann er seine Jugendjahre an die renommistischen oder geheimbündlerischen Gepflogenheiten gewisser Studentengenerationen der älteren Zeit verlieren, noch auch kann er eines Tages die Entdeckung machen, daß sein studentisches Reifezeugnis ein Irrtum war, daß er erst im Lauf seiner Studienzeit auf nicht wieder auszufüllende Lücken in seiner Vorbildung stößt; vor diesen Mißständen schützt ihn die kastalische Ordnung. Auch die Gefahr, sich an Frauen oder an sportliche Exzesse zu verschwenden, ist nicht eben groß. Was die Frauen betrifft, so kennt der kastalische Student weder die Ehe mit ihren Verlockungen und Gefahren, noch kennt er die Prüderie mancher vergangenen Epoche, welche den Studenten entweder zu geschlechtlicher Askese zwang oder ihn auf mehr oder weniger käufliche und dirnenhafte Weiber anwies. Da es für die Kastalier keine Ehe gibt, gibt es auch keine auf die Ehe hin gerichtete Liebesmoral. Da es für den Kastalier kein Geld und so gut wie kein Eigentum gibt, existiert auch die Käuflichkeit der Liebe nicht. Es ist in der Provinz Sitte, daß die Bürgertöchter nicht allzu früh heiraten, und in den Jahren vor der Ehe scheint ihnen der Student und Gelehrte als Geliebter ganz besonders begehrenswert; er fragt nicht nach Herkunft und Vermögen, ist gewohnt, geistige Fähigkeiten den vitalen mindestens gleichzustellen, hat meistens Phantasie und Humor und muß, da er kein Geld hat, mehr als andre mit dem Einsatz seiner selbst bezahlen. Die Studentenliebste in Kastalien kennt die Frage nicht: wird er mich heiraten? Nein, er wird sie nicht heiraten. Zwar ist tatsächlich auch dies schon geschehen; es hat sich je und je der seltene Fall ereignet, daß ein Elitestudent auf dem Weg der Heirat in die bürgerliche Welt zurückkehrte, unter Verzicht auf Kastalien und die Zugehörigkeit zum Orden. Doch spielen diese paar Fälle von Abtrünnigwerden in der Geschichte der Schulen und des Ordens kaum eine andre Rolle als die einer Kuriosität.