Einst fiel einer der seltenen Besuche des Musikmeisters in eine Zeit, wo Josef, von seiner Aufgabe ermüdet und zermürbt, große Mühe hatte, das Gleichgewicht zu bewahren. Der Meister konnte es aus einigen Andeutungen des Jünglings schließen, las es aber weit deutlicher aus seinem überanstrengten Aussehen, seinen unruhigen Blicken, seinem etwas fahrigen Wesen. Er stellte einige forschende Fragen, stieß auf Unlust und Hemmungen, gab das Fragen auf und nahm, dadurch ernstlich besorgt geworden, ihn mit in eine Übungskammer, unter dem Vorwand, ihm eine kleine musikalische Entdeckung mitteilen zu wollen. Er hieß ihn ein Klavichord bringen und stimmen und verwickelte ihn so lange in ein Privatissimum über die Entstehung der Sonatenform, bis der Schüler seine Nöte einigermaßen vergaß, sich hingab und entspannt und dankbar seinen Worten und seinem Spiele zuhörte. Geduldig ließ er sich Zeit, ihn in den Zustand der Bereitschaft und Empfänglichkeit zu versetzen, den er an ihm vermißt hatte. Und als es gelungen war, als er seinen Vortrag beendet und zum Schluß eine der Gabrielischen Sonaten gespielt hatte, stand er auf, ging langsam in der kleinen Stube auf und ab und erzählte:
»Diese Sonate hat mich vor langen Jahren einmal sehr beschäftigt. Es war noch in den Jahren meines freien Studiums, noch ehe ich zum Lehrer und später dann zum Musikmeister berufen wurde. Ich hatte damals den Ehrgeiz, eine Geschichte der Sonate mit neuen Gesichtspunkten auszuarbeiten, aber es kam da eine Zeit, in der ich nicht nur nicht mehr vorwärtskam, sondern mehr und mehr daran zu zweifeln anfing, ob alle diese musikalischen und historischen Forschungen denn überhaupt einen Wert hätten, ob sie wirklich mehr seien als ein leeres Spiel für müßige Leute und ein flitterhafter, geistig-künstlerischer Ersatz für echtes, gelebtes Leben. Kurz, ich hatte eine von den Krisen durchzumachen, in denen alles Studium, alle geistige Bemühung, aller Geist überhaupt uns zweifelhaft und entwertet wird und wo wir dazu neigen, jeden pflügenden Bauern und jedes abendliche Liebespaar zu beneiden oder auch jeden Vogel, der im Baume singt, und jede Zikade, die im Sommergrase zirpt, denn sie scheinen uns so natürlich, so erfüllt und glücklich zu leben, und von ihren Nöten und von den Härten, Gefahren und Leiden ihres Lebens wissen wir ja nichts. Kurz, ich hatte das Gleichgewicht so ziemlich verloren, es war kein hübscher Zustand, er war sogar recht schwer erträglich. Ich dachte mir die wunderlichsten Möglichkeiten zu Flucht und Befreiung aus, ich dachte daran, als Musikant in die Welt hinauszuziehen und tanzenden Hochzeitsgesellschaften aufzuspielen, und wäre wie in alten Romanen ein ausländischer Werber erschienen und hätte mich eingeladen, eine Uniform anzuziehen und einer beliebigen Truppe in einen beliebigen Krieg zu folgen, ich wäre mitgegangen. Und so ging es denn, wie es bei solchen Zuständen oft zu gehen pflegt: ich verlor mich so sehr, daß ich allein nicht mehr fertig wurde und eine Hilfe brauchte.«
Er blieb einen Augenblick stehen und lachte vor sich hin. Dann fuhr er fort: »Natürlich hatte ich einen Studienberater, wie es Vorschrift ist, und natürlich wäre es vernünftig und richtig und meine Pflicht gewesen, mir bei ihm Rat zu holen. Aber es ist nun einmal so, Josef: gerade wenn man in Schwierigkeiten gerät und vom Weg abgekommen ist und eine Korrektur am nötigsten brauchte, gerade dann hat man die größte Abneigung dagegen, auf den normalen Weg zurückzukehren und die normale Korrektur aufzusuchen. Mein Studienberater war mit meinem letzten Quartalsbericht nicht zufrieden gewesen, er hatte mir ernstliche Einwendungen gemacht, ich aber hatte geglaubt, auf dem Weg zu neuen Entdeckungen oder Einsichten zu sein, und hatte ihm seine Einwände einigermaßen übelgenommen. Kurz, ich mochte zu ihm nicht gehen, ich mochte nicht zu Kreuze kriechen und zugeben, daß er recht gehabt habe. Auch meinen Kameraden wollte ich mich nicht anvertrauen, aber es gab da einen Sonderling in meiner Nachbarschaft, den ich nur vom Sehen und Hörensagen kannte, einen Sanskritgelehrten mit dem Spitznamen »der Yogin.« In einer Stunde, in der mein Zustand mir genügend unerträglich geworden war, ging ich zu diesem Manne hin, dessen etwas einsame und absonderliche Gestalt ich ebensooft belächelt wie heimlich bewundert hatte. Ich suchte ihn in seiner Zelle auf, wollte ihn anreden, fand ihn aber in der Versenkung, er hatte dabei die rituelle indische Haltung inne und war nicht erreichbar, er schwebte leise lächelnd in einer vollkommenen Abseitigkeit, ich konnte nichts tun, als bei der Tür stehenbleiben und warten, bis er aus der Versunkenheit zurückkehre. Dies dauerte sehr lange, es dauerte eine Stunde und zwei Stunden, ich wurde schließlich müde und ließ mich zu Boden gleiten; dort saß ich, an die Wand gelehnt, und wartete weiter. Am Ende sah ich den Mann langsam erwachen, er bewegte den Kopf ein wenig, er reckte die Schultern, er schlug langsam die gekreuzten Beine auseinander, und indem er sich zum Aufstehen anschickte, fiel sein Blick auf mich. »Was willst du?« fragte er. Ich erhob mich und sagte, ohne etwas überlegt zu haben und ohne recht zu wissen, was ich sagte: »Es sind die Sonaten von Andrea Gabrieli.« Er stand vollends auf, setzte mich in seinen einzigen Stuhl, nahm auf dem Tischrande Platz und sagte: »Gabrieli? Was hat er dir denn getan mit seinen Sonaten?« Ich fing an, ihm zu erzählen, wie es mir gegangen war, zu beichten, wie es um mich stehe. Er fragte mich mit einer Genauigkeit, die mir pedantisch schien, nach meiner Geschichte aus, nach den Studien um Gabrieli und die Sonate, er wollte wissen, wann ich aufgestanden, wie lang ich gelesen, wieviel ich musiziert, zu welchen Stunden ich gegessen und mich schlafen gelegt habe. Ich hatte mich ihm anvertraut, ja aufgedrängt, so mußte ich seine Fragen dulden und beantworten, aber sie beschämten mich, sie gingen immer unerbittlicher ins einzelne, es wurde mein geistiges und mein moralisches Leben in den letzten Wochen und Monaten analysiert. Dann schwieg er plötzlich, der Yogin, und als ich auch daraus nicht klug wurde, zuckte er mit den Schultern und sagte: »Siehst du es denn nicht selber, wo der Fehler liegt?« Nein, ich konnte es nicht sehen. Und jetzt rekapitulierte er erstaunlich genau alles, was er aus mir herausgefragt hatte, bis zurück zu den ersten Anzeichen von Ermüdung, Widerwillen und geistiger Verstopfung, und wies mir nach, daß dies nur einem allzu frei drauflos Studierenden habe passieren können und daß es hohe Zeit für mich gewesen sei, die mir verlorengegangene Kontrolle über mich und meine Kräfte mit fremder Hilfe wiederzufinden. Ich hätte, so wies er mir nach, wenn ich mir schon die Freiheit genommen hatte, auf regelmäßige Meditationsübungen zu verzichten, doch wenigstens gleich bei den ersten üblen Folgen mich dieser Versäumnis erinnern und sie wiedergutmachen sollen. Und er hatte vollkommen recht. Ich hatte nicht nur eine ganze Zeit lang das Meditieren unterlassen, hatte keine Zeit gehabt, war immer zu unlustig und zerstreut oder allzu studienbeflissen und angeregt gewesen – ich hatte sogar mit der Zeit ganz das Bewußtsein meiner dauernden Unterlassungssünde verloren, und hatte mich jetzt, da ich beinah gescheitert und verzweifelt war, erst durch einen andern an sie erinnern lassen müssen. Und in der Tat hatte ich dann die größte Mühe, mich aus der Verwahrlosung herauszureißen, ich mußte zu den Schul- und Anfängerübungen im Meditieren zurückkehren, um nur die Fähigkeit zu Sammlung und Versenkung allmählich mir wieder anzueignen.«
Der Magister endete seinen Stubenspaziergang mit einem kleinen Seufzer und mit den Worten: »So ist es mir damals gegangen, und es beschämt mich noch heute ein wenig, davon zu sprechen. Aber es ist so, Josef: je mehr wir von uns verlangen, oder je mehr unsre jeweilige Aufgabe von uns verlangt, desto mehr sind wir auf die Kraftquelle der Meditation angewiesen, auf die immer erneute Versöhnung von Geist und Seele. Und – ich wüßte noch manche Beispiele dafür – je intensiver eine Aufgabe uns in Anspruch nimmt, uns bald erregt und steigert, bald ermüdet und niederdrückt, desto leichter kann es geschehen, daß wir diese Quelle vernachlässigen, so wie man beim Verbohrtsein in eine geistige Arbeit leicht dazu neigt, den Körper und seine Pflege zu vernachlässigen. Die wirklich großen Männer der Weltgeschichte haben alle entweder zu meditieren verstanden oder doch unbewußt den Weg dorthin gekannt, wohin Meditation uns führt. Die andern, auch die begabtesten und kräftigsten, sind alle am Ende gescheitert und unterlegen, weil ihre Aufgabe, oder ihr ehrgeiziger Traum, so von ihnen Besitz ergriff, sie so besaß und zu Besessenen machte, daß sie die Fähigkeit verloren, sich immer wieder vom Aktuellen zu lösen und zu distanzieren. Nun, du weißt dies ja, man lernt es ja schon bei den ersten Übungen. Es ist unerbittlich wahr. Wie unerbittlich wahr es ist, sieht man erst, wenn man den Weg einmal verloren hat.«
Es blieb von dieser Erzählung so viel in Josef wirksam, daß er die Gefahr, in der er selber stand, witterte und sich den Übungen mit erneuter Hingabe unterzog. Einen tiefen Eindruck machte es ihm, daß der Meister ihm zum erstenmal ein Stückchen aus seinem ganz persönlichen Leben gezeigt hatte, aus seiner Jugend und Studienzeit; zum erstenmal wurde ihm klar, daß auch ein Halbgott, ein Meister, einmal jung und auf Irrwegen habe sein können. Er empfand dankbar, welches Vertrauen der Verehrte ihm mit seinem Bekenntnis gezeigt hatte. Man konnte irrgehen, ermüden, Fehler machen, gegen Vorschriften verstoßen, und konnte doch wieder damit fertig werden, zurückfinden und am Ende noch ein Meister werden. Er überwand die Krise.
In den zwei bis drei Waldzeller Jahren, während die Freundschaft zwischen Plinio und Josef bestand, erlebte die Schule das Schauspiel dieser kämpferischen Freundschaft wie ein Drama mit, an welchem jeder ein wenig teilhatte, vom Vorstand bis zum jüngsten Schüler. Die beiden Welten, die beiden Prinzipien hatten sich in Knecht und Designori verkörpert, jeder steigerte den andern, jede Disputation wurde ein feierlicher und repräsentativer Wettkampf, der alle anging. Und wie Plinio aus jedem Ferienbesuch, aus jeder Umarmung seines Mutterbodens neue Kräfte mitbrachte, so sog Josef aus jedem Nachdenken, aus jeder Lektüre, aus jeder Versenkungsübung, aus jedem Wiedersehen mit dem Magister Musicae neue Kräfte, machte sich geeigneter zum Vertreter und Anwalt Kastaliens. Einst, als Kind noch, hatte er die erste Berufung erlebt. Jetzt erfuhr er die zweite, und diese Jahre schmiedeten und prägten ihn zur Gestalt des vollkommenen Kastaliers. Längst hatte er nun auch den ersten Unterricht im Glasperlenspiel absolviert und begann damals schon, in den Ferien und unter Kontrolle eines der Spielleiter, eigene Glasperlenspiele zu entwerfen. Hier nun entdeckte er eine der ergiebigsten Quellen der Freude und innern Entspannung; seit seinen unersättlichen Cembalo- und Klavichordübungen mit Carlo Ferromonte hatte nichts ihm so wohlgetan, ihn so gekühlt, gestärkt, bestätigt und beglückt wie diese ersten Vorstöße in die Sternenwelt des Glasperlenspiels.