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Die Stunde mußte kommen, und sie kam, in der Designori bemerkte, daß er unter seinen Zuhörern einen hatte, dem seine Worte mehr bedeuteten als anregende oder auch anstößige Unterhaltungen und Befriedigungen der Disputierlust, einen schweigsamen blonden Knaben, der hübsch und fein, aber etwas schüchtern aussah und der denn auch rot wurde und verlegene, knappe Antworten gab, als er ihn freundlich ansprach. Offenbar war dieser Junge ihm schon länger nachgegangen, dachte Plinio, und dachte ihn nun mit einer freundschaftlichen Gebärde zu belohnen und vollends zu gewinnen: er lud ihn für den Nachmittag zu einem Besuch auf seiner Stube ein. So leicht war dieser schüchterne und spröde Knabe nicht zu haben. Plinio mußte zu seiner Verwunderung erleben, daß er ihm auswich und nicht Rede stehen wollte, auch die Einladung nahm er nicht an; dies wieder reizte den Älteren, und er begann von dem Tag an um den schweigsamen Josef zu werben, anfangs wohl nur aus Eigenliebe, später im Ernst, denn er spürte hier einen Gegenspieler, vielleicht einen künftigen Freund, vielleicht das Gegenteil. Immer wieder sah er Josef in seiner Nähe erscheinen und spürte sein intensives Zuhören, und immer wieder zog der Scheue sich zurück, sobald er ihm nähertreten wollte.

Dieses Verhalten hatte seine Ursachen. Längst hatte Josef gespürt, daß ihn bei diesem andern etwas Wichtiges erwarte, vielleicht etwas Schönes, eine Erweiterung seines Horizontes, eine Erkenntnis, eine Aufklärung, vielleicht auch eine Versuchung und Gefahr, jedenfalls etwas, was es zu bestehen galt. Er hatte die ersten Regungen von Zweifel und Kritiklust, die Plinios Reden in ihm geweckt hatten, seinem Freunde Ferromonte mitgeteilt, aber dieser hatte wenig darauf geachtet, er hatte Plinio für einen eingebildeten und wichtigtuerischen Kerl erklärt, auf den man nicht zu hören brauche, und sich alsbald wieder in seine musikalischen Übungen vertieft. Ein Gefühl sagte Josef, daß der Vorstand die Instanz wäre, vor welche er seine Zweifel und Beunruhigungen hätte bringen müssen; nun hatte er aber seit jener kleinen Auseinandersetzung kein herzliches und offenes Verhältnis mehr zu ihm: er fürchtete, von ihm nicht verstanden zu werden, und noch mehr fürchtete er, eine Aussprache über den Rebellen Plinio würde vom Vorstand am Ende als eine Art von Denunziation aufgefaßt werden. In dieser Verlegenheit, die durch Plinios Versuche zu freundschaftlicher Annäherung immer peinlicher wurde, wandte er sich nun an seinen Gönner und guten Geist, den Musikmeister, in einem sehr langen Brief, der uns erhalten ist. Er schrieb darin unter andrem: »Es ist mir noch nicht klar, ob Plinio in mir einen Gesinnungsgenossen zu gewinnen hofft oder nur einen Gesprächspartner. Ich hoffe das letztere, denn mich zu seinen Auffassungen bekehren, hieße ja mich zur Untreue verführen und mein Leben zerstören, das nun einmal in Kastalien verwurzelt ist; ich habe keine Eltern und Freunde draußen, zu denen ich zurückkehren könnte, wenn ich wirklich einmal diesen Wunsch haben sollte. Aber auch wenn Plinios respektlose Reden gar keine Bekehrung und Beeinflussung bezwecken, bin ich ihnen gegenüber in Verlegenheit. Denn um Ihnen gegenüber, verehrter Meister, ganz aufrichtig zu sein: es tritt mir in Plinios Denkart etwas entgegen, dem ich nicht einfach mit einem Nein antworten kann, er appelliert an eine Stimme in mir, die zuweilen sehr dazu neigt, ihm recht zu geben. Vermutlich ist es die Stimme der Natur, und sie steht zu meiner Erziehung und der uns geläufigen Anschauungsweise in grellem Widerspruch. Wenn Plinio unsre Lehrer und Meister als Priesterkaste bezeichnet und uns Schüler als gegängelte und kastrierte Herde, so sind das natürlich derbe und übertreibende Worte, aber irgend etwas Wahres enthalten sie vielleicht doch, sonst könnten sie mich ja auch nicht so beunruhigen. Plinio kann so erstaunliche und entmutigende Sachen sagen. Etwa: das Glasperlenspiel sei ein Rückfall in die feuilletonistische Epoche, ein bloßes verantwortungsloses Spielen mit den Buchstaben, in welche wir die Sprachen der verschiedenen Künste und Wissenschaften aufgelöst hätten; es bestehe aus lauter Assoziationen und spiele mit lauter Analogien. Oder: beweisend für den Unwert unsrer ganzen geistigen Bildung und Haltung sei unsre resignierte Unfruchtbarkeit. Wir analysieren zum Beispiel, sagt er, die Gesetze und Techniken aller Stilarten und Zeiten der Musik und bringen selber keine neue Musik hervor. Wir lesen und erläutern, sagt er, den Pindar oder den Goethe und schämen uns, selber Verse zu machen. Das sind Vorwürfe, über die ich nicht lachen kann. Und sie sind noch nicht die schlimmsten, nicht die, die mich am meisten verwunden. Schlimm ist es, wenn er etwa sagt, wir Kastalier führten das Leben von künstlich gezüchteten Singvögeln, ohne unser Brot selber zu verdienen, ohne die Not und den Kampf des Lebens zu kennen, ohne von dem Teil der Menschheit etwas zu wissen und wissen zu wollen, dessen Arbeit und Armut die Grundlage für unsere Luxusexistenz sei.« Und der Brief schloß mit den Worten: »Ich habe vielleicht Ihre Freundlichkeit und Güte mißbraucht, Reverendissime, und ich bin darauf gefaßt, von Ihnen ausgescholten zu werden. Schelten Sie mich nur, und erlegen Sie mir Bußen auf, ich werde Ihnen dafür danken. Aber eines Rates bin ich äußerst bedürftig. Ich kann den jetzigen Zustand noch eine kleine Weile so hinhalten. Ihm zu einer wirklichen und fruchtbaren Entwicklung verhelfen kann ich nicht, dazu bin ich zu schwach und unerfahren, und was vielleicht das schlimmste ist, unsrem Herrn Schulvorstand kann ich mich nicht anvertrauen, es sei denn, daß Sie es mir ausdrücklich beföhlen. Darum habe ich Sie mit der Sache, die für mich eine große Not zu werden beginnt, belästigt.«

Es wäre uns überaus wertvoll, die Antwort des Meisters auf diesen Hilferuf ebenfalls schwarz auf weiß zu besitzen. Diese Antwort ist aber mündlich erfolgt. Kurze Zeit nach Knechts Brief traf der Magister Musicae selbst in Waldzell ein, um eine Musikprüfung zu leiten, und hat sich während der Tage seines dortigen Aufenthaltes seines kleinen Freundes aufs beste angenommen. Wir wissen davon aus späteren Erzählungen Knechts. Leicht hat er es ihm nicht gemacht. Er begann damit, daß er Knechts Schulzeugnisse sowie namentlich seine Privatstudien einer genauen Prüfung unterzog und diese Studien allzu einseitig fand, hierin gab er dem Waldzeller Vorstand recht und bestand auch darauf, daß Knecht dies dem Vorstand gegenüber zugab. Für Knechts Verhalten gegen Designori gab er genaue Richtlinien und reiste nicht ab, ehe auch diese Frage mit dem Vorstand Zbinden besprochen war. Die Folge war nicht nur das merkwürdige und allen Miterlebenden unvergeßliche Kampfspiel zwischen Designori und Knecht, sondern auch ein ganz neues Verhältnis zwischen diesem und dem Vorstand. Dies Verhältnis war nach wie vor kein herzliches und geheimnisvolles, wie etwa das zum Musikmeister, aber ein geklärtes und entspanntes.

Die Rolle, welche Knecht nun zugefallen war, bestimmte sein Leben für längere Zeit. Es war ihm erlaubt, Designoris Freundschaft anzunehmen, sich seinem Einfluß und seinen Angriffen zu stellen, ohne Einmischung oder Überwachung von selten der Lehrer. Die ihm vom Mentor gestellte Aufgabe aber war, Kastalien gegen seinen Kritiker zu verteidigen und die Auseinandersetzung der Anschauungen auf das höchste Niveau zu bringen; das bedeutete unter andrem, daß Josef sich die Grundlagen der Ordnung, die in Kastalien und im Orden herrschte, intensiv zu eigen machen und immer wieder vergegenwärtigen mußte. Die Redekämpfe zwischen den beiden befreundeten Gegnern wurden bald berühmt, man drängte sich, sie zu hören. Designoris aggressiver und ironischer Ton wurde feiner, seine Formulierungen strenger und verantwortlicher, seine Kritik sachlicher. Bisher war Plinio der Bevorzugte in diesem Kampf gewesen; er kam aus der »Welt,« er hatte ihre Erfahrung, ihre Methoden, ihre Angriffsmittel und auch etwas von ihrer Unbedenklichkeit, er kannte aus den Gesprächen mit den Erwachsenen zu Hause alles, was die Welt gegen Kastalien einzuwenden hatte. Jetzt zwangen ihn Knechts Repliken einzusehen, daß er zwar die Welt recht gut kenne, besser als jeder Kastalier, daß er aber keineswegs Kastalien und seinen Geist ebenso gut kenne wie die, die hier zu Hause waren und deren Heimat und Schicksal Kastalien war. Er lernte einsehen und lernte allmählich auch zugeben, daß er hier ein Gast sei, kein Einheimischer, und daß es nicht nur draußen, sondern auch hier in der pädagogischen Provinz jahrhundertealte Erfahrungen und Selbstverständlichkeiten gebe, auch hier eine Tradition, ja eine »Natur,« die er nur zum Teil kannte und die ihren Anspruch auf Achtung nun durch ihren Sprecher Josef Knecht kundgab. Knecht hingegen, um seiner Rolle als Apologet zu genügen, war genötigt, mit Hilfe von Studium, Meditation und Selbstzucht sich das, was zu verteidigen er dastand, immer deutlicher und inniger zu eigen und bewußt zu machen. Im Rhetorischen blieb Designori der Überlegene, außer dem Feuer und Ehrgeiz seiner Natur kam ihm da eine gewisse Weltschulung und Gewitztheit zu Hilfe, er verstand namentlich auch im Unterliegen noch an die Zuhörer zu denken und sich einen würdigen oder doch witzigen Abgang zu sichern, während Knecht, wenn ihn der Gegner in die Enge getrieben hatte, etwa sagen konnte: »Darüber muß ich erst noch nachdenken, Plinio. Warte ein paar Tage, ich werde dich wieder daran erinnern.«

Wenn nun dies Verhältnis auch in eine würdige Form gebracht war, ja für die Teilnehmer und Zuhörer der Dispute ein unentbehrliches Element des damaligen Wald-zeller Schullebens wurde, so war doch für Knecht die Not und der Konflikt kaum leichter geworden. Kraft des hohen Maßes von Vertrauen und Verantwortlichkeit, die ihm damit auferlegt waren, bewältigte er die Aufgabe, und es ist ein Beweis für die Kraft und Wohlbeschaffenheit seiner Natur, daß er sie ohne sichtbare Schädigung durchgeführt hat. Im stillen aber hatte er viel zu leiden. Wenn er für Plinio Freundschaft empfand, so empfand er sie ja nicht nur für den gewinnenden und witzigen Kameraden, für den weit- und redegewandten Plinio, sondern nicht minder für jene fremde Welt, welche sein Freund und Gegner vertrat, die er in seiner Gestalt und in seinen Worten und Gebärden kennen oder ahnen lernte, jene sogenannte »reale« Welt, in der es zärtliche Mütter und Kinder, Hungernde und Armenhäuser, Zeitungen und Wahlkämpfe gab, jene primitive und zugleich raffinierte Welt, in welche Plinio zu allen Ferienzeiten zurückkehrte, um Eltern und Geschwister zu besuchen, Mädchen den Hof zu machen, Arbeiterversammlungen beizuwohnen oder Gast in vornehmen Klubs zu sein, während Knecht in Kastalien blieb, mit Kameraden wanderte und schwamm, Frobergersche Ricercari übte oder Hegel las.

Es war keine Frage für Josef, daß er nach Kastalien gehöre und zu Recht das kastalische Leben führe, ein Leben ohne Familie, ohne mancherlei sagenhafte Zerstreuungen, ein Leben ohne Zeitungen, ein Leben auch ohne Not und Hunger – übrigens hatte ja auch Plinio, der den Eliteschülern ihr Drohnendasein so eindringlich vorhalten konnte, niemals bisher gehungert oder sich sein Brot selber verdient. Nein, jene Plinio-Welt war nicht die bessere und richtigere. Aber sie war da, es gab sie, und sie war, wie er aus der Weltgeschichte wußte, immer dagewesen und immer ähnlich gewesen wie heute, und viele Völker hatten keine andre Welt gekannt als sie, wußten nichts von Eliteschulen und pädagogischer Provinz, von Orden, Meistern und Glasperlenspiel. Die große Mehrzahl aller Menschen auf der ganzen Erde lebte anders, als man in Kastalien lebte, einfacher, primitiver, gefährlicher, unbehüteter, ungeordneter. Und diese primitive Welt war jedem Menschen eingeboren, man spürte etwas von ihr im eigenen Herzen, etwas von Neugierde nach ihr, von Heimweh nach ihr, von Mitleid mit ihr. Ihr gerecht zu werden, ihr ein gewisses Heimatrecht im eigenen Herzen zu bewahren, aber dennoch nicht an sie zurückzufallen, war die Aufgabe. Denn es gab neben und über ihr die zweite Welt, die kastalische, die geistige, eine künstliche, eine geordnetere, geschütztere, aber der beständigen Aufsicht und Übung bedürftige Welt, die Hierarchie. Ihr zu dienen, ohne doch jener andern Welt unrecht zu tun oder sie gar zu verachten, auch ohne mit irgendeinem unklaren Verlangen oder Heimweh nach ihr zu schielen, müßte das Richtige sein. Denn die kleine kastalische diente ja der großen anderen Welt, sie gab ihr Lehrer, Bücher, Methoden, sie sorgte für die Reinhaltung der geistigen Funktionen und Moral, und sie stand als Schule und Zuflucht jener kleinen Zahl von Menschen offen, deren Bestimmung es schien, ihr Leben dem Geist und der Wahrheit zu widmen. Warum nur lebten die beiden Welten anscheinend nicht harmonisch und brüderlich neben- und ineinander, warum konnte man sie nicht beide in sich hegen und vereinen?

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