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Danach? Was er danach tun würde? Er wusste es nicht. Vielleicht wieder sein gewohntes Leben aufnehmen, vielleicht heiraten, vielleicht einen Sohn zeugen, vielleicht nichts tun, vielleicht sterben. Es war ihm völlig gleichgültig. Darüber nachzudenken erschien ihm so sinnlos, als dächte er darüber nach, was er nach seinem eigenen Tode tun sollte: nichts natürlich. Nichts, was er jetzt schon wissen könnte.

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Die Hinrichtung war auf fünf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen kamen die ersten Schaulustigen und sicherten sich Plätze. Sie brachten Stühle und Trittbänkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder. Als gegen Mittag die Landbevölkerung aus allen Himmelsrichtungen in Massen herbeiströmte, war der Cours schon so dicht besetzt, dass die Neuankömmlinge auf den terrassenförmig ansteigenden Gärten und Feldern jenseits des Platzes und auf der Straße nach Grenoble lagern mussten. Die Händler machten bereits gute Geschäfte, man aß, man trank, es summte und brodelte wie bei einem Jahrmarkt. Bald waren wohl an die zehntausend Menschen zusammengekommen, mehr als zum Fest der Jasminkönigin, mehr als zur größten Prozession, mehr als jemals zuvor in Grasse. Bis weit die Hänge hinauf standen sie. Sie hingen in den Bäumen, sie hockten auf den Mauern und Dächern, sie drängten sich zu zehnt, zu zwölft in den Fensteröffnungen. Nur im Zentrum des Cours, geschützt vom Barrikadenzaun, wie herausgestochen aus dem Teig der Menschenmenge, blieb noch ein freier Platz für die Tribüne und für das Schafott, das sich plötzlich ganz klein ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die Bühne eines Puppentheaters. Und eine Gasse wurde freigehalten, vom Richtplatz zur Porte du Cours und in die Rue Droite hinein.

Kurz nach drei erschienen Monsieur Papon und seine Gehilfen. Beifall rauschte auf. Sie trugen das aus Holzbalken gefügte Andreaskreuz zum Schafott und brachten es auf die geeignete Arbeitshöhe, indem sie es mit vier schweren Tischlerböcken unterstützten. Ein Tischlergeselle nagelte es fest. Jeder Handgriff der Henkersknechte und des Tischlers wurde von der Menge mit Applaus bedacht. Als dann Papon mit der Eisenstange herbeitrat, das Kreuz umging, seine Schritte ausmaß, bald von dieser, bald von jener Seite einen imaginierten Schlag führte, brach regelrechter Jubel aus.

Um vier begann sich die Tribüne zu füllen. Es gab viel feine Leute zu bestaunen, reiche Herren mit Lakaien und guten Manieren, schöne Damen, große Hüte, glitzernde Kleider. Der gesamte Adel aus Stadt und Land war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem Zug, angeführt von den beiden Konsuln. Richis trug schwarze Kleider, schwarze Strümpfe, schwarzen Hut. Hinter dem Rat marschierte der Magistrat ein, unter Leitung des Gerichtspräsidenten. Als letzter kam der Bischof im offenen Tragstuhl, in leuchtend violettem Ornat und grünem Hütchen. Wer noch bedeckt war, nahm spätestens jetzt die Mütze ab. Es wurde feierlich.

Dann geschah etwa zehn Minuten lang nichts. Die Herrschaften hatten Platz genommen, das Volk harrte reglos, niemand aß mehr, alles wartete. Papon und seine Knechte standen auf der Bühne des Schafotts wie angeschraubt. Die Sonne hing groß und gelb über dem Esterei. Aus dem Grasser Becken kam ein lauer Wind und trug den Duft der Orangenblüten herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still.

Endlich, als man schon meinte, die Spannung könne nicht länger andauern, ohne in einen tausendfachen Schrei, einen Tumult, eine Raserei oder ein sonstiges Massenereignis zu zerplatzen, hörte man in der Stille Pferdegetrappel und das Knirschen von Rädern.

Die Rue Droite herunter kam ein geschlossener zweispänniger Wagen gefahren, der Wagen des Polizeilieutenants. Er passierte das Stadttor und erschien, nun für jedermann sichtbar, in der schmalen Gasse, die zum Richtplatz führte. Der Polizeilieutenant hatte auf diese Art der Vorführung bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu können glaubte. Üblich war sie durchaus nicht. Das Gefängnis lag kaum fünf Minuten vom Richtplatz entfernt, und wenn ein Verurteilter diese kurze Strecke, aus welchem Grunde immer, zu Fuß nicht mehr bewältigte, so hätte es ein offner Eselskarren auch getan. Dass einer zur eigenen Hinrichtung in der Karosse vorfuhr, mit Kutscher, livrierten Dienern und Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt.

Trotzdem kam in der Menge nicht Unruhe oder Unmut auf, im Gegenteil. Man war zufrieden, dass überhaupt etwas geschah, hielt die Sache mit der Kutsche für einen gelungenen Einfall, ähnlich wie im Theater, wo man es schätzt, wenn ein bekanntes Stück auf überraschend neue Weise präsentiert wird. Viele fanden sogar, der Auftritt sei angemessen. Einem so außergewöhnlich abscheulichen Verbrecher gebührte eine außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie einen ordinären Straßenräuber in Ketten auf den Platz zerren und erschlagen. Daran wäre nichts Sensationelles gewesen. Ihn vom Equipagenpolster weg auf das Andreaskreuz zu führen – das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit.

Die Kutsche hielt zwischen Schafott und Tribüne. Die Lakaien sprangen ab, öffneten den Schlag und klappten das Treppchen herunter. Der Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier der Wache und endlich Grenouille. Er trug einen blauen Rock, ein weißes Hemd, weiße Seidenstrümpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand führte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann.

Und dann geschah ein Wunder. Oder so etwas Ähnliches wie ein Wunder, nämlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerhörtes und Unglaubliches, dass alle Zeugen es im nachhinein als Wunder bezeichnet haben würden, wenn sie überhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen wären, was nicht der Fall war, da sie sich später allesamt schämten, überhaupt daran beteiligt gewesen zu sein.

Es war nämlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und auf den umliegenden Hängen sich von einem Moment zum anderen von dem unerschütterlichen Glauben durchtränkt fühlten, der kleine Mann im blauen Rock, der soeben aus der Kutsche gestiegen war, könne unmöglich ein Mörder sein. Nicht dass sie an seiner Identität zweifelten! Da stand derselbe Mensch, den sie vor wenigen Tagen auf dem Kirchplatz am Fenster der Prévoté gesehen hatten und den sie, wären sie damals seiner habhaft geworden, in wütendem Hass gelyncht hätten. Derselbe, der zwei Tage zuvor aufgrund erdrückender Beweise und eigenen Geständnisses rechtskräftig verurteilt worden war. Derselbe, dessen Erschlagung durch den Scharfrichter sie noch vor einer Minute gierig ersehnt hatten. Er war's, unzweifelhaft! Und doch – er war es auch nicht, er konnte es nicht sein, er konnte kein Mörder sein. Der Mann, der auf dem Richtplatz stand, war die Unschuld in Person. Das wussten in diesem Moment alle vom Bischof bis zum Limonadenverkäufer, von der Marquise bis zur kleinen Wäscherin, vom Präsidenten des Gerichts bis zum Gassenjungen.

Auch Papon wusste es. Und seine Fäuste, die den Eisenstab umklammert hielten, zitterten. Ihm war mit einem Mal so schwach in seinen starken Armen, so weich in den Knien, so bang im Herzen wie einem Kind. Er würde diesen Stab nicht heben können, niemals im Leben würde er die Kraft aufbringen, ihn gegen den kleinen unschuldigen Mann zu erheben, ach, er fürchtete den Moment, da er heraufgeführt würde, er schlotterte, er musste sich auf seinen mörderischen Stab stützen, um nicht vor Schwäche in die Knie zu sinken, der große, starke Papon!

Nicht anders erging es den zehntausend Männern und Frauen und Kindern und Greisen, die versammelt waren: Sie wurden schwach wie kleine Mädchen, die dem Charme ihres Liebhabers erliegen. Es überkam sie ein mächtiges Gefühl von Zuneigung, von Zärtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit, ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen Mördermann, und sie konnten, sie wollten nichts dagegen tun. Es war wie ein Weinen, gegen das man sich nicht wehren kann, wie ein lange zurückgehaltenes Weinen, das aus dem Bauch aufsteigt und alles Widerständliche wunderbar zersetzt, alles verflüssigt und ausschwemmt. Nur noch liquide waren die Menschen, innerlich in Geist und Seele aufgelöst, nur noch von amorpher Flüssigkeit, und einzig ihr Herz spürten sie als haltlosen Klumpen in ihrem Innern schwanken und legten es, eine jede, ein jeder, in die Hand des kleinen Mannes im blauen Rock, auf Gedeih und Verderb: Sie liebten ihn.

Grenouille stand nun wohl schon mehrere Minuten lang am geöffneten Schlag der Kutsche und rührte sich nicht. Der Lakai neben ihm war in die Knie gesunken und sank noch immer weiter bis hin zu jener völlig prostrativen Haltung, wie sie im Orient vor dem Sultan und vor Allah üblich ist. Und selbst in dieser Haltung zitterte und schwankte er noch und wollte weitersinken, sich flach auf die Erde legen, in sie hinein, unter sie. Bis ans andre Ende der Welt wollte er sinken vor lauter Ergebenheit. Der Offizier der Wache und der Polizeilieutenant, beides trutzige Männer, deren Aufgabe es gewesen wäre, den Verurteilten jetzt aufs Blutgerüst zu führen und seinem Henker auszuliefern, konnten keine koordinierten Handlungen mehr zustande bringen. Sie weinten und nahmen ihre Hüte ab, setzten sie wieder auf, warfen sie zu Boden, fielen sich gegenseitig in die Arme, lösten sich, fuchtelten unsinnig mit den Armen in der Luft herum, rangen die Hände, zuckten und grimassierten wie vom Veitstanz Befallene.

Die weiter entfernt befindlichen Honoratioren gaben sich ihrer Ergriffenheit auf kaum diskretere Weise hin. Ein jeder ließ dem Drang seines Herzens freien Lauf. Da waren Damen, die sich beim Anblick Grenouilles die Fäuste in den Schoß stemmten und seufzten vor Wonne; und andere, die vor sehnsüchtigem Verlangen nach dem herrlichen Jüngling – denn so erschien er ihnen – sang- und klanglos in Ohnmacht versanken. Da waren Herren, die in einem fort von ihren Sitzen aufspritzten und sich wieder niederließen und wieder aufsprangen, mächtig schnaufend und die Fäuste um die Degengriffe ballend, als wollten sie ziehen, und, indem sie schon zogen, den Stahl wieder zurückstießen, dass es in den Scheiden nur so klapperte und knackte; und andere, die die Augen stumm zum Himmel richteten und ihre Hände zum Gebet verkrampften; und Monseigneur, der Bischof, der, als sei ihm übel, mit dem Oberkörper vornüberklappte und die Stirn auf seine Knie schlug, bis ihm das grüne Hütchen vom Kopfe kollerte; und dabei war ihm gar nicht übel, sondern er schwelgte nur zum ersten Mal in seinem Leben in religiösem Entzücken, denn ein Wunder war geschehen vor aller Augen, der Herrgott höchstpersönlich war dem Henker in den Arm gefallen, indem er den als Engel offenbarte, der vor der Welt ein Mörder schien – o dass dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. Wie groß war der Herr! Und wie klein und windig war man selbst, der man einen Bannfluch gesprochen hatte, ohne daran zu glauben, bloß zur Beruhigung des Volkes! O welche Anmaßung, o welche Kleingläubigkeit! Und nun tat der Herr ein Wunder! O welch herrliche Demütigung, welch süße Erniedrigung, welche Gnade, als Bischof von Gott so gezüchtigt zu werden.

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