Für den kleinen Grenouille war das Etablissement der Madame Gaillard ein Segen. Wahrscheinlich hätte er nirgendwo anders überleben können. Hier aber, bei dieser seelenarmen Frau gedieh er. Er besaß eine zähe Konstitution. Wer wie er die eigene Geburt im Abfall überlebt hatte, ließ sich nicht mehr so leicht aus der Welt bugsieren. Er konnte tagelang wässrige Suppen essen, er kam mit der dünnsten Milch aus, vertrug das faulste Gemüse und verdorbenes Fleisch. Im Verlauf seiner Kindheit überlebte er die Masern, die Ruhr, die Windpocken, die Cholera, einen Sechsmetersturz in einen Brunnen und die Verbrühung der Brust mit kochendem Wasser. Zwar trug er Narben davon und Schrunde und Grind und einen leicht verkrüppelten Fuß, der ihn hatschen machte, aber er lebte. Er war zäh wie ein resistentes Bakterium und genügsam wie ein Zeck, der still auf einem Baum sitzt und von einem winzigen Blutströpfchen lebt, das er vor Jahren erbeutet hat. Ein minimales Quantum an Nahrung und Kleidung brauchte er für seinen Körper. Für seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung, Zärtlichkeit, Liebe – oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind angeblich bedurfte – waren dem Kinde Grenouille völlig entbehrlich. Vielmehr, so scheint uns, hatte er sie sich selbst entbehrlich gemacht, um überhaupt leben zu können, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, der Schrei unter dem Schlachttisch hervor, mit dem er sich in Erinnerung und seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach Mitleid und Liebe gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast möchte man sagen ein reiflich erwogener Schrei gewesen, mit dem sich das Neugeborene gegen die Liebe und dennoch für das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden Umständen war dieses ja auch nur ohne jene möglich, und hätte das Kind beides gefordert, so wäre es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen. Es hätte damals allerdings auch die zweite ihm offenstehende Möglichkeit ergreifen und schweigen und den Weg von der Geburt zum Tode ohne den Umweg über das Leben wählen können, und es hätte damit der Welt und sich selbst eine Menge Unheil erspart. Um aber so bescheiden abzutreten, hätte es eines Mindestmaßes an eingeborener Freundlichkeit bedurft, und die besaß Grenouille nicht. Er war von Beginn an ein Scheusal. Er entschied sich für das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit.
Selbstverständlich entschied er sich nicht, wie ein erwachsener Mensch sich entscheidet, der seine mehr oder weniger große Vernunft und Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen Optionen zu wählen. Aber er entschied sich doch vegetativ, so wie eine weggeworfene Bohne entscheidet, ob sie nun keimen soll oder ob sie es besser bleiben lässt.
Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch das Leben nichts anderes zu bieten hat als ein immerwährendes Überwintern. Der kleine häßliche Zeck, der seinen bleigrauen Körper zur Kugel formt, um der Außenwelt die geringstmögliche Fläche zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht, um nichts zu verströmen, kein bisschen von sich hinauszutranspirieren. Der Zeck, der sich extra klein und unansehnlich macht, damit niemand ihn sehe und zertrete. Der einsame Zeck, der in sich versammelt auf seinem Baume hockt, blind, taub und stumm, und nur wittert, jahrelang wittert, meilenweit, das Blut vorüberwandernder Tiere, die er aus eigner Kraft niemals erreichen wird. Der Zeck könnte sich fallen lassen. Er könnte sich auf den Boden des Waldes fallen lassen, mit seinen sechs winzigen Beinchen ein paar Millimeter dahin und dorthin kriechen und sich unters Laub zum Sterben legen, es wäre nicht schade um ihn, weiß Gott nicht. Aber der Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis ihm der höchst unwahrscheinliche Zufall das Blut in Gestalt eines Tieres direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zurückhaltung auf, lässt sich fallen und krallt und bohrt und beisst sich in das fremde Fleisch…
So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot; kein Lächeln, keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen eigenen Duft. Jede andere Frau hätte dieses monströse Kind verstoßen. Nicht so Madame Gaillard. Sie roch ja nicht, dass es nicht roch, und sie erwartete keine seelische Regung von ihm, weil ihre eigene Seele versiegelt war.
Die andern Kinder dagegen spürten sofort, was es mit Grenouille auf sich hatte. Vom ersten Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die Kiste, in der er lag, und rückten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen, als wäre es kälter geworden im Zimmer. Die jüngeren schrien manchmal des Nachts; ihnen war, als zöge ein Windzug durch die Kammer. Andere träumten, es nehme ihnen etwas den Atem. Einmal taten sich die älteren zusammen, um ihn zu ersticken. Sie häuften Lumpen und Decken und Stroh auf sein Gesicht und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame Gaillard ihn am nächsten Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdrückt und blau, aber nicht tot. Sie versuchten es noch ein paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erwürgen, am Hals, mit eigenen Händen, oder ihm Mund oder Nase zu verstopfen, was eine sicherere Methode gewesen wäre, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn nicht berühren. Sie ekelten sich vor ihm wie vor einer dicken Spinne, die man nicht mit eigner Hand zerquetschen will.
Als er größer wurde, gaben sie die Mordanschläge auf. Sie hatten wohl eingesehen, dass er nicht zu vernichten war. Statt dessen gingen sie ihm aus dem Weg, liefen davon, hüteten sich in jedem Fall vor Berührung. Sie hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersüchtig oder futterneidisch auf ihn. Für solche Gefühle hätte es im Hause Gaillard nicht den geringsten Anlass gegeben. Es störte sie ganz einfach, dass er da war. Sie konnten ihn nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.
Dabei besaß er, objektiv gesehen, gar nichts Angsteinflößendes. Er war, als er heranwuchs, nicht besonders groß, nicht stark, zwar häßlich, aber nicht so extrem häßlich, dass man vor ihm hätte erschrecken müssen. Er war nicht aggressiv, nicht link, nicht hinterhältig, er provozierte nicht. Er hielt sich lieber abseits. Auch seine Intelligenz schien alles andere als fürchterlich zu sein. Erst mit drei Jahren begann er auf zwei Beinen zu stehen, sein erstes Wort sprach er mit vier, es war das Wort »Fische«, das in einem Moment plötzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo, als von ferne ein Fischverkäufer die Rue de Charonne heraufkam und seine Ware ausschrie. Die nächsten Wörter, derer er sich entäußerte, waren »Pelargonie«, »Ziegenstall«, »Wirsing« und »Jacqueslorreur«, letzteres der Name eines Gärtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der Filles de la Croix, der bei Madame Gaillard gelegentlich gröbere und gröbste Arbeiten verrichtete und sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein einziges Mal gewaschen hatte. Mit den Zeitwörtern, den Adjektiven und Füllwörtern hatte er es weniger. Bis auf »ja« und »nein« – die er übrigens sehr spät zum ersten Mal aussprach – gab er nur Hauptwörter, ja eigentlich nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich, und auch nur dann, wenn ihn diese Dinge, Pflanzen, Tiere oder Menschen unversehens geruchlich überwältigten.
In der Märzsonne auf einem Stapel Buchenscheite sitzend, die in der Wärme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort »Holz« aussprach. Er hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal gehört. Er verstand es auch, war er doch im Winter oft hinausgeschickt worden, um Holz zu holen. Aber der Gegenstand Holz war ihm nie interessant genug vorgekommen, als dass er sich die Mühe gegeben hätte, seinen Namen auszusprechen. Das geschah erst an jenem Märztag, als er auf dem Stapel saß. Der Stapel war wie eine Bank an der Südseite des Schuppens von Madame Gaillard unter einem überhängenden Dach aufgeschichtet. Brenzlig süß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus der Tiefe des Stapels herauf, und von der Fichtenwand des Schuppens fiel in der Wärme bröseliger Harzduft ab. Grenouille saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Stapel, den Rücken gegen die Schuppenwand gelehnt, er hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht. Er sah nichts, er hörte und spürte nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und sich unter dem Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank darin, imprägnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst Holz, wie eine hölzerne Puppe, wie ein Pinocchio lag er auf dem Holzstoß, wie tot, bis er, nach langer Zeit, vielleicht nach einer halben Stunde erst, das Wort »Holz« hervorwürgte. Als sei er angefüllt mit Holz bis über beide Ohren, als stünde ihm das Holz schon bis zum Hals, als habe er den Bauch, den Schlund, die Nase übervoll von Holz, so kotzte er das Wort heraus. Und das brachte ihn zu sich, errettete ihn, kurz bevor die überwältigende Gegenwart des Holzes selbst, sein Duft, ihn zu ersticken drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von dem Stapel herunter und wankte wie auf hölzernen Beinen davon. Noch Tage später war er von dem intensiven Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte, wenn die Erinnerung daran zu kräftig in ihm aufstieg, beschwörend »Holz, Holz« vor sich hin.
So lernte er sprechen. Mit Wörtern, die keinen riechenden Gegenstand bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und moralischer Natur, hatte er die größten Schwierigkeiten. Er konnte sie nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern und oft falsch: Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut, Dankbarkeit usw. – was damit ausgedrückt sein sollte, war und blieb ihm schleierhaft.
Andrerseits hätte die gängige Sprache schon bald nicht mehr ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe in sich versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz, sondern Holzsorten, Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz, altes, junges, morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne Holzscheite, Holzsplitter und Holzbrösel – und roch sie als so deutlich unterschiedene Gegenstände, wie andre Leute sie nicht mit Augen hätten unterscheiden können. Ähnlich erging es ihm mit anderen Dingen. Dass jenes weiße Getränk, welches Madame Gaillard allmorgendlich ihren Zöglingen verabreichte, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo es doch nach Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und schmeckte, je nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen hatte, wieviel Rahm man ihm belassen hatte und so fort… dass Rauch, dass ein von hundert Einzeldüften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis sich wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde wie der Rauch des Feuers nur eben jenen einen Namen »Rauch« besaß… dass Erde, Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und von Atemzug zu Atemzug von anderem Geruch erfüllt und damit von andrer Identität beseelt waren, dennoch nur mit jenen drei plumpen Wörtern bezeichnet sein sollten – all diese grotesken Missverhältnisse zwischen dem Reichtum der geruchlich wahrgenommenen Welt und der Armut der Sprache, ließen den Knaben Grenouille am Sinn der Sprache überhaupt zweifeln; und er bequemte sich zu ihrem Gebrauch nur, wenn es der Umgang mit anderen Menschen unbedingt erforderlich machte.