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Und damit nahm er zwei andere Leuchter, die am Rand des großen Eichentisches standen, und zündete sie an. Er postierte sie alle drei nebeneinander an der hinteren Längsseite, schob das Leder beiseite, räumte den mittleren Teil des Tisches frei. Dann, mit zugleich ruhigen und raschen Griffen, holte er die Geräte, die das Geschäft erforderte, von einem kleinen Gestell: die große bauchige Mischflasche, den gläsernen Trichter, die Pipette, das kleine und das große Messglas, und stellte sie wohlgeordnet vor sich auf die Eichenplatte.

Grenouille hatte sich inzwischen vom Türrahmen gelöst. Schon während Baldinis pompöser Rede war das Versteifte, lauernd Verdruckte von ihm abgefallen. Er hörte nur die Zustimmung, nur das Ja, mit dem innern Jubel eines Kindes, das sich ein Zugeständnis ertrotzt hat und auf die Einschränkungen, Bedingungen und moralischen Ermahnungen, die sich daran knüpfen, pfeift. Locker dastehend, einem Menschen zum ersten Mal ähnlicher als einem Tier, ließ er den Rest von Baldinis Suada über sich ergehen und wusste, dass er diesen Mann, der ihm nun nachgab, schon überwältigt hatte.

Während Baldini noch mit seinen Kerzenleuchtern auf dem Tisch hantierte, schlüpfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt, wo die Regale mit den kostbaren Essenzen, Ölen und Tinkturen standen, und griff sich, der sicheren Witterung seiner Nase folgend, die benötigten Fläschchen von den Borden. Neun waren es an der Zahl: Orangenblütenessenz, Limettenöl, Nelken- und Rosenöl, Jasmin-, Bergamotte- und Rosmarinextrakt, Moschustinktur und Storaxbalsam, die er sich rasch herunterpflückte und am Rand des Tisches zurechtstellte. Als letztes schleppte er einen Ballon mit hochprozentigem Weingeist heran. Dann stellte er sich hinter Baldini, der noch immer mit bedächtiger Pedanterie seine Mischgefäße arrangierte, dieses Glas ein wenig dahin rückte, jenes noch ein wenig dorthin, damit alles seine gute altgewohnte Ordnung habe und sich im vorteilhaftesten Licht der Leuchter präsentiere – und wartete, zitternd vor Ungeduld, dass der Alte sich entferne und ihm Platz mache.

»So!« sagte Baldini endlich und trat zur Seite. »Hier ist alles aufgereiht, was du für dein – nennen wir es freundlicherweise >Experiment< benötigst. Zerbrich mir nichts, vertropfe mir nichts! Denn merke: Diese Flüssigkeiten, mit denen du jetzt fünf Minuten lang hantieren darfst, sind von einer Kostbarkeit und Seltenheit, wie du sie nie wieder in deinem Leben in so konzentrierter Form in Händen halten wirst!«

»Wie viel soll ich Ihnen machen, Maitre?« fragte Grenouille.»Was machen…?« sagte Baldini, der seine Rede noch nicht beendet hatte. »Wie viel von dem Parfum?« schnarrte Grenouille, »wie viel davon wollen Sie haben? Soll ich diese dicke Flasche bis zum Rand vollfüllen?« Und er deutete auf eine Mischflasche, die gut und gerne drei Liter fasste.

»Nein, das sollst du nicht!« schr ie Baldini entsetzt, und es schrie aus ihm die ebenso tief verwurzelte wie spontane Angst vor der Verschwendung seines Eigentums. Und als geniere er sich über diesen entlarvenden Schrei, brüllte er gleich hinterher: »Und in die Rede fallen sollst du mir auch nicht!« um dann in ruhigerem, ironisch eingefärbtem Ton fortzufahren: »Wozu brauchen wir drei Liter von einem Parfum, das wir beide nicht schätzen? Im Grunde genügte ein halber Messbecher voll. Da solch kleine Quantitäten jedoch unpräzis zu mischen sind, will ich dir gestatten, eine Drittelfüllung der Mischflasche anzusetzen.«

»Gut«, sagte Grenouille. »Ich werde diese Flasche zu einem Drittel mit >Amor und Psyche< füllen. Aber, Maitre Baldini, ich mache es auf meine Art. Ich weiß nicht, ob das die zünftige Art ist, denn die kenne ich nicht, aber ich mache es auf meine Art.«

»Bitte!« sagte Baldini, der wusste, dass es bei diesem Geschäft nicht meine oder deine, sondern eben nur eine, eine einzig mögliche und richtige Art gab, die darin bestand, in Kenntnis der Formel und unter entsprechender Umrechnung auf die zu erzielende Endmenge ein aufs Exakteste vermessenes Konzentrat aus den verschiedenen Essenzen herzustellen, welches daraufhin mit Alkohol in einem wiederum exakten Verhältnis, das meistens zwischen eins zu zehn und eins zu zwanzig schwankte, zum endgültigen Parfum vergeistigt werden musste. Eine andre Art, das wusste er, gab es nicht. Und deshalb musste ihm das, was er nun zu sehen bekam und was er zunächst mit spöttischer Distanz, dann mit Verwirrung und schließlich nur noch mit hilflosem Erstaunen beobachtete, als schieres Wunder erscheinen. Und die Szene ätzte sich so in sein Gedächtnis ein, dass er sie bis ans Ende seiner Tage nicht mehr vergaß.

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Der kleine Mensch Grenouille entkorkte als erstes den Ballon mit Weingeist. Er hatte Mühe, das schwere Gefäß hochzuwuchten. Fast bis in Kopfhöhe musste er es heben, denn so hoch stand die Mischflasche mit dem aufgesetzten Glastrichter, in den er, ohne Zuhilfenahme eines Messbechers, den Alkohol direkt aus dem Ballon goss. Baldini schauderte vor so viel geballtem Unvermögen: Nicht nur, dass der Kerl die parfumistische Weltordnung auf den Kopf stellte, indem er mit dem Lösungsmittel anfing, ohne das zu lösende Konzentrat zu besitzen – er war auch kaum physisch dazu in der Lage! Er zitterte vor Anstrengung, und Baldini rechnete jeden Moment damit, dass der schwere Ballon herunterkrachen und alles auf dem Tisch zertrümmern werde. Die Kerzen, dachte er, um Gottes willen, die Kerzen! Es wird eine Explosion geben, er wird mein Haus abbrennen…! Und er wollte schon hinstürzen, um dem Verrückten den Ballon zu entreißen, als Grenouille ihn selber absetzte, heil zu Boden brachte und wieder verkorkte. In der Mischflasche schwankte die leichte klare Flüssigkeit – es war kein Tropfen danebengegangen. Für ein paar Momente verschnaufte sich Grenouille und machte dabei ein so zufriedenes Gesicht, als habe er den beschwerlichsten Teil der Arbeit schon hinter sich. Und in der Tat ging das Folgende mit einer derartigen Geschwindigkeit vonstatten, dass Baldini mit den Augen kaum folgen konnte, geschweige denn eine Reihenfolge oder auch nur einen irgendwie geregelten Ablauf des Geschehens hätte erkennen können.

Anscheinend wahllos griff Grenouille in die Reihe der Flakons mit den Duftessenzen, riss die Glasstöpsel heraus, hielt sich den Inhalt für eine Sekunde unter die Nase, schüttete dann von diesem, tröpfelte von einem anderen, gab einen Schuss von einem dritten Fläschchen in den Trichter und so fort. Pipette, Reagenzglas, Messglas, Löffelchen und Rührstab – all die Geräte, die den komplizierten Mischprozess für den Parfumeur beherrschbar machen, rührte Grenouille kein einziges Mal an. Es war, als spiele er nur, als pritschle und pansche er wie ein Kind, das aus Wasser, Gras und Dreck einen scheußlichen Sud kocht und dann behauptet, es sei eine Suppe. Ja, wie ein Kind, dachte Baldini; er sieht auch mit einem Mal aus wie ein Kind, trotz seinen klobigen Händen, trotz seinem vernarbten, zerkerbten Gesicht und der knolligen Altmännernase. Ich habe ihn für älter gehalten, als er ist, und jetzt kommt er mir jünger vor; wie drei oder vier kommt er mir vor; wie diese unzugänglichen, unbegreiflichen, eigensinnigen kleinen Vormenschen, die, angeblich unschuldig, nur an sich selber denken, die alles auf der Welt sich despotisch unterordnen wollen und es wohl auch tun würden, wenn man sie in ihrem Größenwahn gewähren ließe und nicht durch strengste erzieherische Maßnahmen nach und nach disziplinierte und an die selbstbeherrschte Existenz des Vollmenschen heranführte. Ein solch fanatisches Kleinkind steckte in diesem jungen Mann, der mit glühenden Augen am Tisch stand und seine ganze Umgebung vergessen hatte, offenbar gar nicht mehr wusste, dass es noch etwas andres gab in der Werkstatt außer ihm und diesen Flaschen, die er mit behender Tapsigkeit an den Trichter führte, um sein wahnsinniges Gebräu zu mischen, von dem er hinterher todsicher behaupten würde – und auch noch daran glaubte! – es sei das erlesene Parfum >Amor und Psyche<. Es schauderte Baldini, als er dem im flackernden Kerzenlicht so gräßlich verkehrt und so gräßlich selbstbewusst hantierenden Menschen zusah: Seinesgleichen – so dachte er, und ihm war für einen Moment wieder so traurig und elend und wütend zumute wie am Nachmittag, als er auf die in der Dämmerung rotglühende Stadt geblickt hatte seinesgleichen hätte es früher nicht gegeben; das war ein ganz neues Exemplar der Gattung, wie es nur in dieser maroden, verlotterten Zeit entstehen konnte… Aber er sollte seine Lehre bekommen, der präpotente Bursche! Zusammenputzen würde er ihn am Ende dieser lächerlichen Aufführung, dass er davonschlich als das geduckte Häuflein Nichts, als welches er gekommen war. Geschmeiß! Man durfte sich überhaupt mit niemandem mehr einlassen heutzutage, denn es wimmelte von lächerlichem Geschmeiß!

So beschäftigt war Baldini mit seiner inneren Empörung und seinem Ekel vor der Zeit, dass er nicht recht begriff, was es bedeuten sollte, als Grenouille plötzlich sämtliche Flakons verstöpselte, den Trichter aus der Mischflasche zog, die Flasche selbst mit einer Hand am Halse packte, sie mit der flachen linken Hand verschloss und heftig schüttelte. Erst als die Flasche mehrmals durch die Luft gewirbelt war, ihr kostbarer Inhalt wie Limonade vom Bauch in den Hals und zurück stürzte, stieß Baldini einen Wut- und Entsetzensschrei aus. »Halt!« kreischte er. »Genug jetzt! Hör augenblicklich auf! Basta! Stell sofort die Flasche auf den Tisch und rühre nichts mehr an, verstehst du, nichts mehr! Ich muss wahnsinnig gewesen sein, mir dein törichtes Geschwätz überhaupt anzuhören. Die Art und Weise, wie du mit den Dingen umgehst,deine Grobheit, dein primitiver Unverstand zeigen mir, dass du ein Stümper bist, ein barbarischer Stümper und ein lausiger frecher Rotzbengel obendrein. Du taugst nicht mal zum Limonadenmischer, nicht einmal zum einfachsten Lakritzwasserverkäufer taugst du, geschweige denn zum Parfumeur! Sei froh, sei dankbar und zufrieden, wenn dich dein Meister weiterhin mit Gerberbrühe panschen lässt! Wage es nicht noch einmal, hörst du mich? Wage es nicht noch einmal, deinen Fuß über die Schwelle eines Parfumeurs zu setzen!«

So sprach Baldini. Und während er noch sprach, war der Raum um ihn herum schon duftgesättigt von >Amor und Psyche<. Es gibt eine Überzeugungskraft des Duftes, die stärker ist als Worte, Augenschein, Gefühl und Wille. Die Überzeugungskraft des Duftes ist nicht abzuwehren, sie geht in uns hinein wie die Atemluft in unsere Lungen, sie erfüllt uns, füllt uns vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie.

Grenouille hatte die Flasche abgesetzt, die mit Parfum benetzte Hand vom Hals genommen und an seinem Rocksaum abgewischt. Ein, zwei Schritt zurück, das linkische Zusammenklappen seines Körpers unter Baldinis Standpauke schlugen genügend Wellen in der Luft, um den neugeschaffnen Duft ringsum zu verbreiten. Mehr war nicht nötig. Zwar, Baldini tobte noch und zeterte und schimpfte; doch mit jedem Atemzug fand seine äußerlich zur Schau gestellte Wut im Innern weniger Nahrung. Ihm schwante, dass er widerlegt war, weswegen seine Rede sich gegen Ende nur noch in hohles Pathos steigern konnte. Und als er schwieg, eine Weile lang geschwiegen hatte, brauchte es gar nicht mehr Grenouilles Bemerkung: »Es ist fertig.« Er wusste es ohnehin.

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