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Bestimmt besaß dieser Bastard Pelissier mit seinen fünfunddreißig Jahren schon jetzt ein größeres Vermögen als er, Baldini, es sich in der dritten Generation durch harte beharrliche Arbeit endlich angehäuft hatte. Und Pelissiers nahm täglich zu, während seins, Baldinis, sich täglich verminderte. So etwas wäre früher doch gar nicht möglich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingeführter Commergant um seine schiere Existenz zu kämpfen hatte, das gab es doch erst seit wenigen Jahrzehnten! Seitdem überall und in allen Bereichen die hektische Neuerungssucht ausgebrochen ist, dieser hemmungslose Tatendrang, diese Experimentierwut, diese Großmannssucht im Handel, im Verkehr und in den Wissenschaften!

Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man die vielen neuen Straßen, die überall gebuddelt wurden, und die neuen Brücken? Wozu? War es von Vorteil, wenn man bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war daran gelegen? Wem nützte es? Oder über den Atlantik zu fahren, in einem Monat nach Amerika zu rasen – als wäre man nicht jahrtausendelang sehr gut ohne diesen Kontinent ausgekommen. Was hatte der zivilisierte Mensch im Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen sie, das lag im Norden, im ewigen Eise, wo Wilde lebten, die rohe Fische fraßen. Und noch einen weiteren Kontinent wollten sie entdecken, der angeblich in der Südsee lag, wo immer das war. Und wozu dieser Wahnsinn? Weil die anderen es auch taten, die Spanier, die verfluchten Engländer, die impertinenten Holländer, mit denen man sich dann herumschlagen musste, was man sich überhaupt nicht leisten konnte. 300000 Livres kostet so ein Kriegsschiff gut und gerne, und versenkt ist es in fünf Minuten mit einem einzigen Kanonenschuss, auf Nimmerwiedersehn, bezahlt von unseren Steuern. Den zehnten Teil auf alle Einkünfte verlangt der Herr Finanzminister neuerdings, und das ist ruinös, auch wenn man diesen Teil nicht zahlt, denn schon die ganze Geisteshaltung ist verderblich.

Das Unglück des Menschen rührt daher, dass er nicht still in seinem Zimmer bleiben will, dort, wo er hingehört. Sagt Pascal. Aber Pascal war ein großer Mann gewesen, ein Frangipani des Geistes, ein Handwerker recht eigentlich, und ein solcher ist heute nicht mehr gefragt. Jetzt lesen sie aufwieglerische Bücher von Hugenotten oder Engländern. Oder sie schreiben Traktate oder sogenannte wissenschaftliche Großwerke, in denen sie alles und jedes in Frage stellen. Nichts mehr soll stimmen, alles soll jetzt plötzlich anders sein. In einem Glas Wassers sollen neuerdings ganz kleine Tierchen schwimmen, die man früher nicht gesehen hat; die Syphilis soll eine ganz normale Krankheit sein und keine Strafe Gottes mehr; Gott soll die Welt nicht an sieben Tagen erschaffen haben, sondern in Jahrmillionen, wenn er es überhaupt war; die Wilden sind Menschen wie wir; unsere Kinder erziehen wir falsch; und die Erde ist nicht mehr rund wie bisher, sondern oben und unten platt wie eine Melone – als ob es darauf ankäme! In jedem Bereich wird gefragt und gebohrt und geforscht und geschnüffelt und herumexperimentiert. Es genügt nicht mehr, dass man sagt, was ist und wie es ist – es muss jetzt alles noch bewiesen werden, am besten mit Zeugen und Zahlen und irgendwelchen lächerlichen Versuchen. Diese Diderots und d'Alemberts und Voltaires und Rousseaus und wie die Schreiberlinge alle hießen – sogar geistliche Herren sind darunter und Herren von Adel! – , sie haben es wahrhaft geschafft, ihre eigne perfide Ruhelosigkeit, die schiere Lust am Nichtzufriedensein und des um alles in der Welt Sich-nicht-begnügen-könnens, kurz: das grenzenlose Chaos, das in ihren Köpfen herrscht, auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen!

Wo man hinsah, herrschte Hektik. Leute lasen Bücher, sogar Frauen. Priester hockten im Kaffeehaus. Und wenn die Polizei mal eingriff und einen dieser Oberschurken ins Gefängnis steckte, dann heulten die Verleger auf und reichten Petitionen ein, und höchste Herren und Damen machten ihren Einfluss geltend, bis man ihn nach ein paar Wochen wieder freisetzte oder ins Ausland ziehen ließ, wo er dann hemmungslos weiterpamphletisierte. In den Salons palaverte man nur noch über Kometenbahnen und Expeditionen, über Hebelkraft und Newton, über Kanalbau, Blutkreislauf und den Durchmesser des Erdballs.

Und selbst der König ließ sich irgendeinen neumodischen Unsinn vorführen, eine Art künstliches Gewitter namens Elektrizität: Im Angesicht des ganzen Hofes rieb ein Mensch an einer Flasche, und es funkte, und Seine Majestät, so hört man, zeigte sich tief beeindruckt. Unvorstellbar, dass sein Urgroßvater, der wahrhaft große Ludwig, unter dessen segensreicher Herrschaft Baldini lange Jahre noch das Glück hatte gelebt zu haben, eine so lächerliche Demonstration vor seinen Augen geduldet hätte! Aber das war der Geist der neuen Zeit, und böse würde alles enden!

Denn wenn man schon ungeniert und auf die frechste Art die Autorität von Gottes Kirche in Zweifel ziehen konnte; wenn man über die nicht minder gottgewollte Monarchie und die geheiligte Person des Königs sprach, als seien beide bloß variable Posten in einem ganzen Katalog von anderen Regierungsformen, die man nach Gusto auswählen könne; wenn man sich schließlich noch so weit verstieg, wie das geschah, Gott selbst, den Allmächtigen, Ihn Höchstpersönlich, als entbehrlich hinzustellen und allen Ernstes zu behaupten, es seien Ordnung, Sitte und das Glück auf Erden ohne Ihn zu denken, rein aus der eingeborenen Moralität und der Vernunft der Menschen selber… o Gott, o Gott! – dann allerdings brauchte man sich nicht zu wundern, wenn sich alles von oben nach unten kehrte und die Sitten verlotterten und die Menschheit das Strafgericht dessen, den sie verleugnete, auf sich herabzog. Böse wird es enden. Der große Komet von 1681, über den sie sich lustig gemacht haben, den sie als nichts als einen Haufen von Sternen bezeichnet haben, er war eben doch ein warnendes Vorzeichen Gottes gewesen, denn er hatte jetzt wusste man es ja – ein Jahrhundert der Auflösung angezeigt, der Zersetzung, des geistigen und politischen und religiösen Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in dem sie dereinst selbst versinken wird und in dem nur noch schillernde und stinkende Sumpfblüten gediehen wie dieser Pelissier!

Er stand am Fenster, der alte Mann Baldini, und schaute mit gehässigem Blick gegen die schrägstehende Sonne auf den Fluss hinaus. Lastkähne tauchten unter ihm auf und glitten langsam nach Westen auf den Pont Neuf und den Hafen vor den Galerien des Louvre zu. Keiner wurde hier gegen die Strömung herauf gestakt, sie nahmen den Flussarm auf der anderen Seite der Insel. Hier strömte alles nur weg, die leeren und die beladenen Schiffe, die Ruderboote und die flachen Kähne der Fischer, das schmutzigbraune Wasser und das golden gekräuselte, alles strömte weg, langsam, breit und unaufhaltsam. Und wenn Baldini ganz steil nach unten blickte, hart an der Hauswand entlang, dann war es, als söge das strömende Wasser die Fundamente der Brücke davon, und es schwindelte ihm.

Es war ein Fehler gewesen, das Haus auf der Brücke zu kaufen, und ein doppelter Fehler, eines auf der westlich gelegenen Seite zu nehmen. Nun hatte er dauernd den wegströmenden Fluss vor Augen, und es war ihm, als ströme er selbst und sein Haus und sein in vielen Jahrzehnten erworbener Reichtum davon wie der Fluss und als sei er zu alt und zu schwach, sich noch gegen diese gewaltige Strömung zu stemmen. Manchmal, wenn er auf dem linken Ufer zu tun hatte, im Viertel um die Sorbonne oder bei Saint-Sulpice, dann ging er nicht über die Insel und den Pont Saint-Michel, sondern er nahm den längeren Weg über den Pont Neuf, denn diese Brücke war unbebaut. Und dann stellte er sich an die östliche Brüstung und schaute flussaufwärts, um wenigstens ein Mal alles auf sich zuströmen zu sehen; und für einige Augenblicke schwelgte er in der Vorstellung, die Tendenz seines Lebens habe sich umgekehrt, die Geschäfte florierten, die Familie gediehe, die Frauen flögen ihm zu und seine Existenz, statt zu zerrinnen, mehre und mehre sich.

Aber dann, wenn er den Blick nur ein klein wenig hob, sah er in einigen hundert Metern Entfernung sein eigenes Haus gebrechlich schmal und hoch auf dem Pont au Change, und er sah das Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stock und sah sich selbst dort am Fenster stehen, sah sich hinaussehen auf den Fluss und das wegströmende Wasser beobachten, wie jetzt. Und damit war der schöne Traum verflogen, und Baldini, auf dem Pont Neuf stehend, wandte sich ab, niedergeschlagener als zuvor, niedergeschlagen wie jetzt, da er sich vom Fenster abwendete, zum Schreibtisch ging und sich setzte.

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Vor ihm stand der Flakon mit Pelissiers Parfum. Die Flüssigkeit schimmerte goldbraun im Sonnenlicht, klar, ohne die geringste Trübung. Ganz unschuldig sah sie aus, wie heller Tee – und enthielt doch neben vier Fünfteln Alkohol ein Fünftel eines geheimnisvollen Gemisches, das eine ganze Stadt in Aufregung versetzen konnte. Dieses Gemisch wiederum mochte aus drei oder aus dreißig verschiedenen Stoffen bestehen, die in einem ganz bestimmten von unzähligen möglichen Volumenverhältnissen zueinander standen. Es war die Seele des Parfums – soweit man bei einem Parfum dieses eiskalten Geschäftemachers Pelissier von Seele reden konnte – , und ihren Aufbau galt es nun herauszufinden.

Baldini schneuzte sich sorgfältig die Nase und ließ die Jalousie am Fenster etwas herunter, denn das direkte Sonnenlicht war jedem Riechstoff und jeder feineren geruchlichen Konzentration abträglich. Aus der Schublade des Schreibtischs holte er ein frisches weißes Spitzentaschentuch und entfaltete es. Dann öffnete er den Flakon durch eine leichte Drehung des Stöpsels. Den Kopf hielt er dabei weit zurück und kniff die Nasenflügel zusammen, denn er wollte um Gottes willen nicht einen vorschnellen Geruchseindruck direkt aus der Flasche erwischen. Parfum musste in entfaltetem, luftigem Zustand gerochen werden, niemals konzentriert. Er sprenkelte einige Tropfen auf das Taschentuch, wedelte es durch die Luft, um den Alkohol davonzujagen, und hielt es sich dann unter die Nase. Mit drei ganz kurzen, ruckartigen Stößen riss er den Duft in sich hinein wie ein Pulver, blies ihn sofort wieder aus, fächelte sich Luft zu, schnüffelte noch einmal im Dreierrhythmus und nahm zum Abschluss einen ganz tiefen Atemzug, den er langsam und mehrmals verhaltend, gleichsam ihn wie über eine lange flache Treppe gleiten lassend, ausströmte. Er warf das Taschentuch auf den Tisch und ließ sich gegen die Sessellehne zurückfallen.

Das Parfum war ekelhaft gut. Dieser miserable Pelissier war leider ein Könner. Ein Meister, Gott sei's geklagt, und wenn er tausendmal nichts gelernt hatte! Baldini wünschte, es wäre von ihm, dieses >Amor und Psyche<. Es war keine Spur ordinär. Absolut klassisch, rund und harmonisch war es. Und trotzdem faszinierend neu. Es war frisch, aber nicht reißerisch. Es war blumig, ohne schmalzig zu sein. Es besaß Tiefe, eine herrliche, haftende, schwelgerische, dunkelbraune Tiefe – und war doch kein bisschen überladen oder schwülstig.

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