Kriegsenkel – Aufarbeitung der eigenen Geschichte
Der Filmemacher Sebastian Heinzel hat Albträume vom Zweiten Weltkrieg, den er nie erlebt hat. Er sucht nach den Gründen in seiner Familiengeschichte und erkennt dabei seine Rolle in der Aufarbeitung.
Als der Filmemacher Sebastian Heinzel Mitte zwanzig war, begann er vom Zweiten Weltkrieg zu träumen. Für seine Albträume hatte er jedoch keine Erklärung: Kriegshandlungen kannte Heinzel, 1979 geboren, nur aus dem Fernsehen. Er fing an, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Denn Heinzels Großvater war Teil dieses Kriegs gewesen.
In Heinzels Familie wurde nur selten über den Krieg gesprochen – wie in vielen anderen deutschen Familien auch. Er gehört zu den sogenannten Kriegsenkeln, deren Eltern als Kinder stark vom Krieg beeinflusst worden waren. Oft haben diese nicht gelernt, sich mit den Gefühlen auseinanderzusetzen, die die Schrecken des Kriegs bei ihnen verursacht haben. Und das hat Einfluss auf die nächsten Generationen. Wenn sich Eltern zum Beispiel emotional nicht öffnen können, dann können sie diese Fähigkeit auch nicht an ihre Kinder weitergeben.
Heinzel fand heraus, dass sein Großvater bei der Wehrmacht in Belarus war. Was er genau gemacht hat und warum er nie darüber gesprochen hat, weiß Heinzel nicht. Aber er stellte fest, dass es in seiner Familie einen hohen Leistungsdruck gibt. Er sagt: „Es ist nicht genug, dass ich einfach so bin, wie ich bin, sondern ich muss etwas leisten, um anerkannt zu sein und mich selbst anzuerkennen.“
Die Psychologin Iris Wangermann erklärt die Situation der Kriegsenkel so: „Viele haben keine Ahnung, wer sie wirklich sind.“ Oft mussten sie sich so verhalten, wie die Eltern es aushalten konnten – und nicht, wie sie waren, so Wangermann. Heinzel sucht in seinem Film „Der Krieg in mir“ eine Antwort auf die Frage, was der Krieg mit ihm gemacht hat. Er sagt: „Ich glaube, es gibt viele Dinge, die nicht aufgearbeitet wurden (…). Und da ist es jetzt irgendwie meine Aufgabe in der Familie, mich noch mit diesen seelischen Trümmern zu beschäftigen. Ich glaube, das gehört auch zu der Aufgabe unserer Generation.“
Vokabular
Kriegsenkel – Aufarbeitung der eigenen Geschichte
Kriegsenkel, -/Kriegsenkelin, -nen – eine Person, deren Großeltern einen Krieg erlebt haben und die dadurch beeinflusst wurde
Albtraum, -träume (m.) – ein böser, schrecklicher Traum
etwas auf|arbeiten – sich mit etwas Schlimmen beschäftigen, das früher passiert ist (Nomen: die Aufarbeitung)
Filmemacher, -/Filmemacherin, -nen – eine Person, die Filme dreht
Kriegshandlung, -en (f.) – hier: Kämpfe im Krieg
sich mit etwas auseinander|setzen – sich Gedanken über etwas machen; sich mit etwas beschäftigen
sogenannt – hier: so wie etwas genannt wird
Schrecken, – (m.) – hier: die negativen Folgen von etwas; etwas, das Angst macht
Generation, -en (f.) – eine Gruppe von Menschen, die ungefähr gleich alt sind
sich emotional öffnen – mit anderen Personen über die eigenen Gefühle sprechen
Fähigkeit, -en (f.) – die Tatsache, dass man etwas kann
etwas heraus|finden – hier: etwas feststellen; etwas in Erfahrung bringen
Wehrmacht (f., nur Singular) – das Militär (Heer, Kriegsmarine, Luftwaffe) im nationalsozialistischen Deutschland
Leistungsdruck (m., nur Singular) – die hohe Erwartung an eine Person, gute Leistungen zu erbringen; der Druck, Erfolg haben zu müssen
etwas/jemanden an|erkennen – hier: etwas/jemanden akzeptieren
keine Ahnung haben – umgangssprachlich für: etwas nicht wissen
etwas aus|halten – hier: etwas Unangenehmes so akzeptieren, wie es ist, und ertragen
seelische Trümmer (nur Plural) – gemeint ist hier: psychische Probleme, weil man sich mit etwas (z. B. einem schrecklichen Erlebnis) nicht beschäftigt hat
Warum unsere Geschwister so wichtig für uns sind
Rund die Hälfte aller Menschen in Deutschland hat sie: Geschwister. In den ersten Lebensjahren verbringen wir die meiste Zeit mit ihnen. Diese besondere Beziehung hat großen Einfluss auf unsere Persönlichkeit.
Oft können wir uns schwer an ein Leben ohne unsere Geschwister erinnern. Etwa die Hälfte aller Menschen wächst in Deutschland mit Geschwistern auf. Im Kindesalter bedeutet das oft Streit, aber auch Zusammenhalt – eine besondere Erfahrung mit großem Einfluss auf die Entwicklung unserer Persönlichkeit.
Das bestätigt auch die Erziehungswissenschaftlerin Inés Brock: „Durch Geschwister bekommen Kinder mit, dass sie nicht der Mittelpunkt der Welt sind. Sie lernen Empathie, also sich in andere hineinzuversetzen und Konflikte zu lösen.“ Einzelkinder lernen das zwar auch, aber ihnen fehlen in der Familie Bezugspersonen im gleichen Alter. Sie müssen sie sich außerhalb der Familie suchen.
Früher glaubte man, dass die Ältesten verantwortungsvoller und sogenannte Sandwichkinder sozialer sind als ihre Geschwister. Nesthäkchen hielt man für risikofreudiger. Heute weiß man, dass vieles Einfluss auf die Beziehung von Geschwistern haben kann – wie der Altersunterschied oder das Geschlecht. Auch Ereignisse, die große Veränderungen bringen, beeinflussen sie. Die Trennung der Eltern kann zum Beispiel zusammenschweißen.
Nicht alle Geschwisterbeziehungen sind unproblematisch. Manche Geschwister haben später keinen Kontakt mehr zueinander. Schon in der Kindheit kann es zu Schwierigkeiten kommen, etwa wenn ein neues Geschwisterkind dazukommt. Inés Brock findet, dass die Beziehung zwischen Geschwistern in der Forschung mehr Beachtung finden sollte – höchste Zeit, dass auch wir die vielleicht längste Beziehung unseres Lebens noch etwas mehr würdigen.
Vokabular
Warum unsere Geschwister so wichtig für uns sind
Persönlichkeit, -en (f.) – der Charakter eines Menschen; das Wesen eines Menschen
auf|wachsen – als Kind älter und größer werden; seine Kindheit verbringen
Zusammenhalt (m., nur Singular) – hier: die enge Beziehung zueinander
Erziehungswissenschaftler, -/-wissenschaftlerin, -nen – jemand, der die Erziehung und Bildung von Kindern erforscht
etwas mit|bekommen – etwas bemerken; etwas verstehen
Empathie (f., nur Singular) – die Fähigkeit, die Emotionen eines anderen Menschen zu verstehen
sich in jemanden hinein|versetzen – hier: sich in jemanden hineindenken
Konflikt, -e (m.) – die Schwierigkeit; das Problem
Einzelkind, -er (n.) – jemand ohne Geschwister
Bezugsperson, -en (f.) – jemand, zu dem man ein enges Verhältnis hat
Geschlecht, -er (n.) – die Tatsache, ob man ein Mann oder eine Frau ist
Sandwichkind, -er (n.) – umgangssprachlich für: das Kind, das zwischen älteren und jüngeren Geschwistern geboren wurde
Nesthäkchen, – (n.) – umgangssprachlich für: das jüngste Kind unter Geschwistern
risikofreudig – so, dass man weniger Angst vor Gefahren hat
Trennung, -en (f.) – die Tatsache, dass etwas nicht mehr zusammen ist, was vorher zusammen war
zusammen|schweißen – durch bestimmte Ereignisse besonders verbunden sein
etwa – hier: zum Beispiel
etwas/jemanden würdigen – etwas/jemanden als wichtig anerkennen