JOHANNA: Nicht sie ist stärker, sondern du bist schwächer.
MARINA: Du solltest ihm nichts vorwerfen. Das ist nicht der Zeitpunkt dazu.
JOHANNA: Du beschützt ihn ewig.
MARINA: Und du willst, dass ich ihn angreife? (Pause.)
JOHANNA: Es ist Zeit, auseinanderzugehen.
MARINA: (An Johanna.) Gehen wir, ich will dir etwas sagen.
ANTON: Ich geh´ mit euch.
JOHANNA: Nein, bleib hier! So werden wir ruhiger sein.
Marina und Johanna gehen. Bleibt alleine im Sessel des Doktors. Der Doktor tritt ein.
ANTON: Zu wem möchten Sie?
DOKTOR: Ich? Zu niemandem.
ANTON: Der Doktor ist nicht da. Warten Sie im Wartezimmer.
DOKTOR: Der Doktor bin ich!
ANTON: Seit wann?
DOKTOR: Wie, „seit wann“?
ANTON: Seit wann sind Sie Doktor?
DOKTOR: Ich bin es schon immer. Und werde es sein, bis ich verrückt werde. Was dank Ihnen sehr bald passieren wird.
ANTON: Nun, wenn Sie Doktor sind, dann gestatten Sie mir, eine Frage zu stellen. Aber ärgern Sie sich bloß nicht… Erinnern Sie mich, wie ich heiße.
DOKTOR: Haben Sie das denn wieder vergessen?
ANTON: (In die Enge getrieben.) Ja, irgendwie… Ärgern Sie sich bloß nicht.
DOKTOR: Ich ärgere mich auch nicht. Ich bin außer mir. Man kann das Gedächtnis verlieren, aber doch nicht bis zu so einem Grad!
ANTON: (Schuldbewusst.) Zum letzten Mal, Ehrenwort. Ich werd´s nicht mehr vergessen.
DOKTOR: Nun, gut. Sie heißen… (Hält inne.) Sie heißen… (Ist verwirrt.) Und wozu wollen Sie das alles wissen?
ANTON: Nun, wie denn… Vielleicht fragen Sie plötzlich danach?
DOKTOR: Wozu sollte ich fragen? Ich weiß es auch so.
ANTON: Dann also, wie denn?
DOKTOR: Sie heißen… Sie heißen… Warten sie… (Blättert in seinen Aufschrieben.) Sie heißen… Aha. (Feierlich.) Marina Glöckner.
ANTON: Ich – Marina?
DOKTOR: Nein, warten Sie… Das ist offenbar nicht Ihr Name. Aber Sie heißen… Ich hab´s doch aufgeschrieben… (Stöbert wieder in Papieren.) Hier:. (Wiederholt mit zusammengebissenen Zähnen.) Anton Glöckner, und seien Sie verdammt! Und wie viele Frauen Sie haben, wissen Sie?
ANTON: (Denkt angespannt nach.) Ich weiß nicht.
DOKTOR: Und ich weiß es auch nicht. Gehen Sie ins Wartezimmer und erinnern Sie sich. Und stören Sie mich nicht beim Arbeiten. Ich muss… schreiben… (Hält inne.) Verdammt nochmal, was muss ich schreiben?
ANTON: Meine Krankengeschichte.
DOKTOR: Richtig. Woher wissen Sie?
ANTON: Ich weiß nicht.
DOKTOR: Nun gut, gehen Sie mit Gott ins Wartezimmer und sitzen Sie dort ruhig.
ANTON: (Geht zum Ausgang, bleibt aber stehen. Scharf.) Doktor…
DOKTOR: (Fasst sich an den Kopf.) Was denn noch?
ANTON: Wissen Sie, welches mein Hauptproblem ist?
DOKTOR: Fehlendes Gedächtnis.
ANTON: Nein. Fehlendes Geld.
DOKTOR: Das ist für alle das Hauptproblem.
ANTON: Aber für mich besonders. (Unerwartet.) Leihen Sie mir etwas.
DOKTOR: Ich würde Ihnen leihen, aber Sie vergessen, es zurückzugeben.
ANTON: Ich vergesse es nicht. Ich unterschreibe eine Quittung.
DOKTOR: Und verschwinden.
ANTON: Wohin kann ich denn? Mein Pass ist doch bei Ihnen. Im äußersten Fall gibt Ihnen meine Frau das Geld zurück.
DOKTOR: Welche von beiden?
ANTON: (Vertraulich.) Versetzen Sie sich in meine Situation.
DOKTOR: Das würde ich mit Vergnügen machen, aber ich weiß nicht, worin sie besteht.
ANTON: Kommt es denn nicht vor, dass ein Mann zwei Frauen hat?
DOKTOR: (Mit großem Interesse.) Und Sie haben zwei?
ANTON: Eine.
DOKTOR: Welche denn?
ANTON: (Zweifelnd.) Ich weiß nicht.
DOKTOR: Ich verstehe nichts.
ANTON: Ich auch. Doktor, ich brauche dringend Geld. Eine Frage auf Leben und Tod. Leihen Sie mir welches. Ich gebe es Ihnen heute wieder zurück.
DOKTOR: Wie viel brauchen Sie?
ANTON: Wenigstens eintausend Euro.
DOKTOR: „Wenigstens“?
ANTON: Wenn Sie mit eintausend Probleme haben, geben Sie mir zwei.
DOKTOR: Um Sie loszuwerden würde ich sogar drei geben.
ANTON: (Erfreut.) Ich nehme auch vier.
DOKTOR: Vier gebe ich nicht. Drei auch. Aber tausend gebe ich. Unter der Bedingung, dass ich Sie hier nie mehr sehe.
ANTON: Abgemacht.
DOKTOR: (Nimmt Geldscheine aus dem Geldbeutel.) Nehmen Sie! Und – kehrt um, vorwärts Marsch!
ANTON: Zu Befehl!
Der strahlende Anton eilt davon. Der Doktor kehrt an den PC zurück. Aber die Arbeit klappt nicht. Marina tritt ein.
MARINA: (Beunruhigt.) Wo ist mein Mann?
DOKTOR: Er ist hier. Ich habe gerade erst mit ihm gesprochen.
MARINA: Sie sehen ziemlich betrübt aus. Ist etwas passiert?
DOKTOR: Ich muss zugeben, ich bin in eine teuflisch unangenehme Situation gekommen. In eine richtige Falle.
MARINA: Erzählen Sie, um was geht es? Vielleicht kann ich Ihnen helfen.
DOKTOR: Nein, das können Sie nicht.
MARINA: (Nimmt ihn sanft an der Hand.) Erzählen Sie trotzdem. Ihnen wird wenigstens leichter.
DOKTOR: (Wischt sich die Stirn ab.) Verzeihen Sie, aber wer sind Sie – Marina oder Johanna?
MARINA: Ich bin Marina.
DOKTOR: Ja, richtig. Wissen Sie, mit mir geht etwas unverständliches vor sich. Im Kopf verwirrt sich alles, ich begreife nichts. Von mir wird eine Krankengschichte gefordert, und ich, da können Sie mich umbringen, erinnere mich nicht, dass ich sie geschrieben habe. Und wenn ich sie nicht geschrieben habe oder aus Versehen gelöscht, dann kann ich große Schwierigkeiten bekommen.
MARINA: Dann schreiben Sie doch eine neue, worin besteht das Problem? Ist es das denn wert, den Kopf hängen zu lassen?
DOKTOR: Eine fiktive Krankengschichte mit unechtem Datum zu verfassen, ist ungesetzlich. Damit stolpere ich in noch größere Unannehmlichkeiten.
MARINA: Ach, wer erfährt denn davon?
DOKTOR: Wenn es eine Prüfung gibt, kann man das ganz leicht aufdecken. Der PC fixiert doch automatisch das Erstellungsdatum einer Datei. Übrigens, Sie werden wohl kaum etwas davon verstehen.
MARINA: Und darin besteht das ganze Problem?
DOKTOR: Im technischen Sinn, ja. Über Gewissensbisse und Berufsehre red´ ich schon gar nicht. Die interessieren in unserer Zeit niemanden.
MARINA: Mir scheint, ich kann Ihnen helfen.
DOKTOR: Wie?
MARINA: Habe ich Ihnen denn nicht gesagt, dass ich von Beruf Programmiererin bin?
DOKTOR: Sie?!
MARINA: Und Ihr technisches Problem ist aus Sicht eines Programmierers nur ein Nichts. Setzen Sie sich neben mich.
Beide setzen sich an den PC. Marinas Finger fliegen schnell über die Tastatur.
Hier, schauen Sie… Wir öffnen eine Datei mit der Krankengeschichte Antons… Der PC zeigt an, dass sie heute geschaffen wurde. Richtig?
DOKTOR: Richtig.
MARINA: Jetzt eine kleine Korrektur… Schauen Sie jetzt – wann wurde die Datei geschaffen?
DOKTOR: (Schaut auf den Bildschirm.) Vor zweieinhalb Jahren. Einfach unglaublich! Wie haben Sie das geschafft?
MARINA: (Zitiert mit Ironie den Doktor.) Wissen und Arbeit.
DOKTOR: Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll!
MARINA: Danken brauchen Sie nicht. (Schwankend.) Und jetzt will ich Ihnen etwas sehr wichtiges sagen… (Verstummt.)
DOKTOR: Nun, was schweigen Sie denn?
MARINA: Es ist schwer, mich zu überwinden. Aber ich werd´s doch sagen.
Der Mann tritt ein. Marina verstummt. Sie ist sehr verwirrt.
MANN: (An Marina.) Jetzt verstecken Sie sich nicht vor mir. (An den Doktor. Sein Ton ist hart,) Lassen Sie uns bitte alleine.
Der Doktor blickt fragend auf Marina. Sie nickt ihm zu. Der Doktor geht hinaus. Pause.
MARINA: Nun, reden Sie.
MANN: Sie wissen hervorragend, um was es geht.