Литмир - Электронная Библиотека
A
A

»Wozu geschieht das alles, Ralph? Weißt du, wozu es geschieht?«

Er schüttelte den Kopf. In seiner Vorstellung kreisten die Teile eines Puzzles - Hüte, Docs, Hunde, Spruchbänder, platzende Puppen voll falschem Blut -, die sich nicht zusammenfügen wollten. Zumindest im Augenblick war ihm am deutlichsten der Ausspruch des alten Dor gegenwärtig: Geschehenes läßt sich nicht ungeschehen machen.

Ralph hatte eine Ahnung, als wäre das die reine Wahrheit.

Ein trauriges, leises Winseln erweckte seine Aufmerksamkeit, und Ralph sah den Hügel hinab. Rosalie lag am Stamm der großen Kiefer und versuchte aufzustehen. Ralph konnte die schwarze Hülle um sie herum nicht mehr sehen, war aber sicher, daß sie noch da war. »O Ralph, das arme Ding! Was können wir tun!« Sie konnten gar nichts tun. Ralph war ganz sicher. Er nahm Lois’ rechte Hand in seine beiden und wartete, daß Rosalie sich hinlegen und sterben würde.

Aber anstatt zu sterben, bäumte sie sich so heftig mit dem ganzen Körper auf, daß sie auf die Füße kam und fast zur anderen Seite umgekippt wäre. Sie blieb einen Moment ruhig stehen und hielt den Kopf so tief, daß ihre Schnauze fast den Boden berührte, dann nieste sie drei-oder viermal. Nachdem das erledigt war, schüttelte sie sich und sah zu Ralph und Lois auf. Sie kläffte einmal, ein sprödes, abgehacktes Geräusch. Für Ralph hörte es sich so an, als wollte sie ihnen sagen, daß sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchten. Dann drehte sie sich um und ging durch den kleinen Kiefernhain zum anderen Ausgang des Parks. Bevor Ralph sie aus dem Augen verlor, hatte sie wieder die hinkende und doch gewandte Gangart angenommen, die ihr Markenzeichen war. Das schlimme Bein war nicht besser als vor dem Eingreifen von Doc Nr. 3, aber es schien auch nicht schlimmer zu sein. Alt, aber alles andere als tot (genau wie wir anderen Harris Avenue Altvorderen, dachte Ralph), verschwand sie zwischen den Bäumen.

»Ich dachte, das Ding würde sie töten«, sagte Lois. »Ich glaubte, es hätte sie getötet.«

»Ich auch«, sagte Ralph.

»Ralph, ist das alles wirklich passiert? Es ist passiert, nicht?« »Ja.«

»Die Ballonschnüre… glaubst du, daß sie Lebenslinien sind?«

Er nickte langsam. »Ja. Wie Nabelschnüre. Und Rosalie…«

Er dachte an das erste richtige Erlebnis mit den Auren zurück, wie er mit dem Rücken zu dem blauen Briefkasten vor dem Rite Aid gestanden und das Kinn fast bis auf die Brust hatte sinken lassen. Von den sechzig oder siebzig Menschen, die er gesehen hatte, bevor die Auren wieder verblaßt waren, hatten nur einige wenige diese schwarzen Umhüllungen getragen, die er jetzt als Leichentücher betrachtete, und dasjenige, das Rosalie um sich herum gestrickt hatte, war bei weitem schwärzer gewesen als alle an jenem Tag. Aber die Leute auf dem Parkplatz, deren Auren schwarz gewesen waren, hatten ausnahmslos krank ausgesehen… wie Rosalie, deren Aura die Farbe verschwitzer Socken gehabt hatte, noch bevor Doc Nr. 3 sich ihrer annahm.

Vielleicht hat er nur beschleunigt, was sonst ein vollkommen natürlicher Vorgang gewesen wäre, dachte er.

»Ralph?« fragte Lois. »Was ist mit Rosalie?«

»Ich glaube, meine alte Freundin Rosalie lebt jetzt von geborgter Zeit«, sagte Ralph.

Lois dachte darüber nach, während sie bergab in den sonnigen Hain sah, wo Rosalie verschwunden war. Schließlich drehte sie sich wieder zu Ralph um. »Der Gnom mit dem Skalpell war einer der Männer, die du aus dem Haus von May Locher hast kommen sehen, richtig?«

»Nein. Das waren die beiden anderen.«

»Hast du noch mehr gesehen?«

»Nein.«

»Glaubst du, daß es noch mehr gibt?«

»Ich weiß nicht.«

Er dachte, sie würde als nächstes fragen, ob ihm aufgefallen sei, daß die Kreatur Bills Panamahut aufgehabt habe, aber das tat sie nicht. Ralph hielt es für möglich, daß sie ihn gar nicht wiedererkannt hatte. Zuviel Unheimliches hatte sich abgespielt, und außerdem war kein Stück aus der Krempe herausgebissen gewesen, als sie ihn zum letztenmal bei Bill gesehenhatte. Pensionierte Geschichtslehrer sind einfach nicht der Typ, der in Hutkrempen beißt, überlegte er und grinste.

»Das war vielleicht ein Vormittag, Ralph.« Lois sah ihm unverwandt in die Augen. »Ich glaube, wir müssen darüber reden, findest du nicht? Ich muß, wirklich wissen, was hier vor sich geht.«

Ralph erinnerte sich an den Morgen - der jetzt tausend Jahre zurücklag -, als er vom Picknickplatz kommend die Straße entlang ging, seine kurze Liste von Bekannten abhakte und sich überlegte, mit wem er reden sollte. Er hatte Lois von der Liste gestrichen, weil er befürchtete, sie könnte bei ihren Freundinnen klatschen, und nun schämte er sich dieser irrigen Einschätzung, die mehr auf McGoverns Vorstellung von Lois als auf seiner eigenen basierte. Wie sich herausstellte, hatte Lois bis heute morgen nur mit dem einzigen Menschen auf der Welt über die Auren gesprochen, bei dem das Geheimnis eigentlich hätte sicher aufgehoben sein müssen.

Er nickte ihr zu. »Du hast recht. Wir müssen reden.«

»Möchtest du gerne zu einem verspäteten Mittagessen zu mir kommen? Ich mache ein ziemlich gutes Pfannengemüse für eine alte Tante, die nicht mehr weiß, wo sie ihre Ohrringe gelassen hat.«

»Mit Vergnügen. Ich werde dir sagen, was ich weiß, aber es wird eine Weile dauern. Als ich heute morgen mit Bill geredet habe, habe ich ihm nur die Reader’s Digest-Version gegeben.«

»Aha«, sagte Lois. »Der Streit ging um Schach, ja?«

»Nun, vielleicht nicht«, sagte Ralph und betrachtete lächelnd seine Hände. »Vielleicht war er mehr wie der Streit, den du mit deinem Sohn und deiner Schwiegertochter gehabt hast. Und das Verrückteste habe ich ihm nicht mal erzählt.«

»Aber mir würdest du es erzählen?«

»Ja«, sagte er und stand auf. »Ich wette, du bist eine verdammt gute Köchin. Tatsächlich -« Er verstummt unvermittelt und hielt sich eine Hand an die Brust. Dann ließ er sich schwer auf die Bank zurücksinken und riß Augen und Mund auf.

»Ralph? Alles in Ordnung?«

Ihre erschrockene Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Vor seinem geistigen Auge sah er wieder Kahlkopf Nr. 3 zwischen dem Buffy-Buffy und dem Mietshaus nebenan stehen. Kahlkopf Nr. 3 versuchte, Rosalie über die Straße zu locken, damit er ihre Ballonschnur durchschneiden konnte. Da war es ihm nicht gelungen, aber er hatte die Aufgabe erledigt, bevor (Ich wollte mit ihr spielen!) der Vormittag vorüber war.

Vielleicht ist die Tatsache, daß Bill McGovern nicht der Typ ist, der in seinen Hut beißen würde, nicht der einzige Grund, weshalb Lois nicht aufgefallen ist, was für einen Hut Kahlkopf Nr. 3 da getragen hat, Ralph, alter Freund. Vielleicht hat sie es nicht bemerkt, weil sie es nicht bemerken wollte. Vielleicht gibt es ein paar Teile, die zusammenpassen, und wenn du recht hast, dann sind die Folgen weitreichend. Das ist dir doch klar, oder nicht?

»Ralph? Was ist denn los?«

Er sah, wie der Gnom ein Stück aus dem Panama abbiß und ihn dann wieder auf den Kopf setzte. Hörte ihn sagen, daß er nun statt dessen mit Ralph spielen müßte.

Aber nicht nur mit mir. Mit mir und meinen Freunden, hat er gesagt. Mit mir und meinen Arschlöchern von Freunden.

Und als er jetzt zurückdachte, sah er noch etwas. Er sah, wie die Sonne Funkensplitter aus den Ohrläppchen von Doc Nr. 3 schlug, als er - oder es - in die Krempe von McGoverns Hut gebissen hatte. Die Erinnerung war so deutlich, daß er sie nicht in Frage stellen konnte, ebensowenig wie die Bedeutung.

Die weitreichende Bedeutung.

Immer mit der Ruhe - du weißt nichts mit Sicherheit, und das Irrenhaus wartet direkt hinter dem Horizont, mein Freund. Ich glaube, das solltest du nicht vergessen, es möglicherweise als einen Anker benutzen. Es ist mir gleich, ob Lois das alles auch sieht oder nicht. Die anderen Männer in weißen Kitteln, nicht die kahlköpfigen halben Portionen, sondern die muskulösen Typen mit den Schmetterlingsnetzen und den Thorazinspritzen, können jederzeit auftauchen. Jederzeit.

89
{"b":"273188","o":1}