Ralph hatte gedacht, er hätte ihr aufmerksam zugehört, aber offenbar hatte er irgend etwas nicht mitbekommen. »Wußten es? Wie konnten sie es wissen?«
»Weil Litchfield es ihnen gesagt hat!« schrie sie. Sie verzerrte wieder das Gesicht, aber diesmal sah Ralph keinen Schmerz und keinen Kummer darin, sondern eine schreckliche, klägliche Wut. »Dieser dreckige alte Petzer hat meinen Sohn angerufen und IHM ALLES ERZÄHLT!«
Ralph war wie vor den Kopf gestoßen.
»Lois, das kann er nicht machen«, sagte er, als er endlich wieder sprechen konnte. »Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist… nun, es ist vertraulich. Das müßte dein Sohn wissen, schließlich ist er Anwalt, und für die gilt dasselbe. Ärzte dürfen keinem sagen, was sie von ihren Patienten erfahren, wenn der Patient nicht -«
»O Gott«, sagte Lois und verdrehte die Augen. »Himmel Herrgott noch mal. In was für einer Welt lebst du denn, Ralph?
Leute wie Litchfield tun das, was sie für richtig halten. Ich glaube, das habe ich immer gewußt, und deshalb war es doppelt dumm von mir, überhaupt zu ihm zu gehen. Carl Litchfield ist ein eitler, arroganter Mann, dem mehr daran liegt, wie er mit seinen Hosenträgern und Designerhemden aussieht, als an seinen Patienten.«
»Das ist schrecklich zynisch.«
»Und schrecklich wahr, das ist das Traurige daran. Weißt du was? Er ist fünfunddreißig oder sechsunddreißig, und irgendwie scheint er der Meinung zu sein, wenn er vierzig wird, wird er einfach… aufhören. Vierzig bleiben, solange er will. Er glaubt, daß Leute alt sind, wenn sie die Sechzig erreicht haben, und daß selbst die besten spätestens mit achtundsechzig senil geworden sind; und wenn man erst einmal über achtzig ist, wäre es ein Akt der Barmherzigkeit, wenn die Verwandten einen diesem Dr. Kervorkian übergeben würden. Kinder haben kein Recht, etwas vor ihren Eltern geheimzuhalten, und was Litchfield betrifft, haben alte Fürze wie wir kein Recht, etwas vor unseren Kindern geheimzuhalten. Das läge nicht in unserem Interesse, weißt du.
Carl Litchfield hat praktisch in dem Moment, als ich das Sprechzimmer verlassen habe, Harold in Bangor angerufen. Er hat gesagt, ich könnte nicht schlafen, ich hätte Depressionen und unter Problemen der Sinneswahrnehmung zu leiden, die mit einer verfrühten Verschlechterung der Kognition einhergingen. Und dann hat er gesagt: >Sie dürfen nicht vergessen, daß Ihre Mutter in einem hohen Alter ist, Mr. Chasse, und ich an Ihrer Stelle würde mir ernste Gedanken über ihre Situation hier in Derry machen. <«
»Das hat er nicht!« rief Ralph fassungslos und entsetzt. »Ich meine… ernsthaft?«
Lois nickte grimmig. »Er sagte es Harold, und Harold sagte es mir, und ich sage es jetzt dir. Ich altes Dummerchen, ich wußte nicht mal, was unter >einer verfrühten Verschlechterung der Kognition< zu verstehen ist, und keiner der beiden wollte es mir sagen. Ich habe >Kognition< im Wörterbuch nachgeschlagen, und weißt du, was es bedeutet?«
»Denken«, sagte Ralph. »Kognition ist Denken.«
»Richtig. Mein Arzt hat meinen Sohn angerufen und ihm gesagt, daß ich senil werde!« Lois lachte wütend und wischte sich mit Ralphs Taschentuch frische Tränen von der Wange.
»Ich kann es nicht glauben«, sagte Ralph, aber das Teuflische war, er konnte es. Seit dem Tod von Carolyn wurde ihm klar, daß die Naivität, mit der er die Welt bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr betrachtet hatte, offenbar nicht für immer verschwunden war, als er die Schwelle zwischen Kind und Mann überschritten hatte; diese spezielle Arglosigkeit schien sich wieder einzustellen, seit er die Schwelle zwischen Mann und altem Mann überschritten hatte. Immer wieder erlebte er Überraschungen… aber Überraschungen war ein zu zahmes Wort. Die meisten brachten ihn völlig aus der Fassung.
Die kleinen Fläschchen unter der Kußbrücke, zum Beispiel. Eines Tages im Juni hatte er einen langen Spaziergang zum Bassey Park gemacht und war unter die Brücke geklettert, um eine Weile aus der Nachmittagssonne herauszukommen. Kaum hatte er es sich gemütlich gemacht, war ihm ein kleiner Haufen Glasscherben im Unkraut bei dem schmalen Bach aufgefallen, der unter der Brücke dahinfloß. Er hatte das hohe Gras mit einem Ast geteilt und sechs oder acht kleine Ampullen bemerkt. In einer klebte noch eine verkrustete weiße Substanz am Boden. Ralph hatte sie aufgehoben, und als er sie behutsam vor den Augen gedreht hatte, war ihm klar geworden, daß er die Überreste einer Crackparty vor sich sah. Er hatte die Ampulle fallengelassen, als wäre sie glühend heiß. Er konnte sich immer noch an den lähmenden Schock erinnern, an die vergeblichen Versuche, so zu tun, als wäre er nicht recht bei Trost, daß es unmöglich sein konnte, wofür er es hielt, nicht in dieser hundertfünfzig Meilen von Boston entfernten Hinterwäldlerstadt. Selbstverständlich war nur der wieder auferstandene Naive geschockt gewesen; der Teil von ihm, der zu glauben schien (jedenfalls bis er die Ampullen unter der Brücke fand), daß die ganzen Meldungen über die Kokainepidemie nichts als Unsinn waren, daß sie ebensowenig der Wirklichkeit entsprachen wie ein Fernsehkrimi oder ein Film mit Jean-Claude Van Damme.
Jetzt verspürte er einen ähnlichen Schock.
»Harald sagte, sie wollten mich nach Bangor holen und mir >das Haus zeigen<«, sagte Lois. »Heutzutage fährt er nicht mehr mit mir weg, er >bringt< mich nur noch irgendwohin. Als wäre ich ein Botengang. Sie hatten eine Menge Broschüren dabei, und als Harold Janet zunickte, hat sie sie so schnell vor mir ausgebreitet -«
»Puh, langsam. Was für ein Haus? Was für Broschüren?«
»Tut mir leid, ich mache ein bißchen zu schnell, was? Es ist ein Haus in Bangor, das Riverview Estates heißt.«
Ralph kannte den Namen; er hatte sogar selbst schon eine Broschüre bekommen. Eine dieser Postwurfsendungen, die Leute über fünfundsechzig bekamen. Er und McGovern hatten darüber gelacht… aber das Lachen war ein klein wenig nervös gewesen - wie das Pfeifen von Kindern, die am Friedhof vorbeilaufen.
»Scheiße, Lois - das ist ein Altersheim, richtig?«
»Nein, Sir!« sagte sie und riß unschuldig die Augen auf. »Das habe ich auch gesagt, aber Harold und Janet haben mich verbessert. Nein, Ralph, Riverview Estates ist ein Apartmentkomplex für geselligkeitsorientierte Senioren! Als Harold das sagte, antwortete ich: >Ist das so? Nun, dann will ich euch beiden etwas erzählen - man kann einen Obstkuchen von McDonalds auf einen schicken Silberteller stellen und behaupten, daß er eine französische Torte ist, aber was mich betrifft, ist es deshalb immer noch ein Obstkuchen von McDonalds.<
Als ich das sagte, fing Harold an zu stottern und wurde rot im Gesicht, aber Jan bedachte mich einfach nur mit ihrem zuckersüßen Lächeln, das sie für besondere Anlässe aufhebt, weil sie genau weiß, daß es mich rasend macht. Sie sagt: >Nun, warum sehen wir uns die Broschüren nicht trotzdem an, Mutter Lois? Das wirst du doch wenigstens tun können, nachdem wir beide einen Tag Urlaub genommen und den ganzen Weg hierher gefahren sind, oder nicht?<«
»Als würde Derry im finstersten Afrika liegen«, murmelte Ralph.
Lois nahm seine Hand und sagte etwas, das ihn zum Lachen brachte. »Oh, für Jan ist das so!«
»War das bevor oder nachdem du herausgefunden hast, daß Litchfield gepetzt haben muß?« fragte Ralph. Er benutzte absichtlich dasselbe Wort wie Lois; es schien besser zu der Situation zu passen als ein beschönigenderer Ausdruck. »Einen Vertrauensbruch begangen« war viel zu anständig für dieses heimtückische Vorgehen. Litchfield hatte gepetzt. So einfach war das.
»Vorher. Ich dachte mir, ich könnte die Broschüren wirklich ansehen; schließlich waren sie vierzig Meilen gefahren, und es würde mich ja nicht umbringen. Also habe ich sie durchgeblättert, während sie das Frühstück aßen, das ich gemacht hatte - ich mußte übrigens später nichts in den Müll werfen und Kaffee tranken.