»Du lachst mich doch nicht aus, Ralph, oder?«
»Nee. Ganz sicher nicht.«
Sie nickte immer noch lächelnd. »Dann ist es gut. Du hast nie gesehen, wie ich in meinem Wohnzimmer herumspaziert bin, oder?«
»Nein.«
»Das liegt daran, daß keine Straßenlampe vor meinem Haus steht. Aber vor deinem steht eine. Ich habe dich häufig in deinem zerschlissenen alten Ohrensessel gesehen, wie du hinausgesehen und Tee getrunken hast.«
Ich habe immer gedacht, daß ich der einzige bin, dachte er, und plötzlich schoß ihm eine Frage durch den Kopf, die komisch und peinlich zugleich war. Wie oft hatte sie ihn gesehen, wie er sich in der Nase bohrte? Oder im Schritt kratzte?
Entweder las sie seine Gedanken oder zog Rückschlüsse aus der Farbe seiner Wangen, denn Lois sagte: »Ich konnte nicht mehr als deinen Umriß erkennen, weißt du, und du hast immer den Morgenmantel getragen, vollkommen anständig. Also darüber mußt du dir keine Gedanken machen. Außerdem hoffe ich, daß du weißt, wenn ich dich je bei etwas gesehen hätte, bei dem du nicht gesehen werden wolltest, dann hätte ich auch nicht hingesehen. Weißt du, ich bin auch nicht gerade in der Scheune großgezogen worden.«
Er lächelte und tätschelte ihre Hand. »Das weiß ich, Lois. Es ist nur… du weißt schon, eine Überraschung. Herauszufinden, daß jemand mich beobachtet hat, während ich dort saß und die Straße beobachtet habe.«
Sie schenkte ihm ein rätselhaftes Lächeln, das besagen konnte: Keine Bange, Ralph - für mich warst du nichts weiter als ein Teil der Landschaft.
Er dachte einen Moment über das Lächeln nach, dann kam er wieder auf das eigentliche Thema zu sprechen. »Also, was ist passiert, Lois? Warum hast du hier gesessen und geweint?
Nur Schlaflosigkeit? Wenn es nur das war, kann ich mit Sicherheit mit dir fühlen. Aber so was wie >nur< gibt es dabei nicht, was?«
Ihr Lächeln erlosch. Sie faltete die Hände in den Handschuhen wieder im Schoß und betrachtete sie ernst. »Es gibt Schlimmeres als Schlaflosigkeit. Verrat, zum Beispiel. Besonders wenn die Menschen, die dich verraten, die Menschen sind, die du liebst.«
Sie verstummte. Ralph drängte sie nicht. Er sah den Hügel hinunter zu Rosalie, die ihn zu beobachten schien. Möglicherweise sie beide.
»Hast du gewußt, daß wir nicht nur dasselbe Problem, sondern auch denselben Arzt haben?«
»Du gehst auch zu Litchfield?« »Ich ging zu Litchfield. Auf Empfehlung von Carolyn. Aber ich werde nie wieder zu ihm gehen. Wir sind fertig miteinander.« Sie fletschte die Lippen und entblößte kleine weiße Zähne, die eindeutig ihre eigenen waren. »Der hinterhältige Dreckskerll«.
»Was ist passiert?«
»Ich habe fast ein Jahr lang darauf gewartet, daß es von alleine wieder besser werden würde - daß die Natur ihren Lauf nimmt, wie man so sagt. Nicht, daß ich nicht hier und da versucht hätte, der Natur auf die Sprünge zu helfen. Wahrscheinlich haben wie beide häufig dieselben Mittel ausprobiert.«
»Honigwabe?« fragte Ralph, der wieder lächelte. Er konnte nicht anders. Was für ein erstaunlicher Tag das gewesen ist, dachte er. Was für ein durch und durch erstaunlicher Tag… und dabei ist es noch nicht einmal ein Uhr mittags.
»Honigwabe? Was ist damit? Hilft das?«
»Nein«, sagte Ralph und grinste breiter denn je, »es hilft kein bißchen, aber es schmeckt köstlich.«
Sie lachte und drückte seine Hand mit ihren beiden. Ralph erwiderte das Drücken.
»Du bist deswegen nie bei Litchfield gewesen, Ralph, oder?«
»Nee. Ich hatte mal einen Termin vereinbart, hab ihn aber abgesagt.«
»Weil du ihm nicht getraut hast? Weil du der Meinung warst, daß er bei Carolyn gepfuscht hat?«
Ralph sah sie überrascht an.
»Vergiß es«, sagte Lois. »Ich hatte kein Recht, das zu fragen.«
»Nein, schon gut. Es überrascht mich nur, daß ich das von jemand anderem höre. Daß er… du weißt… eine falsche Diagnose gestellt haben könnte.«
»Ha!« Lois’ hübsche Augen blitzten. »Das haben wir uns alle gedacht! Bill hat gesagt, er könne nicht begreifen, daß du den Kurpfuscher nicht am Tag nach Carolyns Beerdigung vor das Bezirksgericht gezerrt hast. Aber damals stand ich selbstverständlich noch auf der anderen Seite des Zauns und habe Litchfield wie verrückt verteidigt. Hast du je daran gedacht, ihn zu verklagen?« »Nein. Ich bin siebzig, und ich will die Zeit, die mir noch bleibt, nicht mit einem Kunstfehlerprozeß verschwenden. Außerdem -würde es Carol zurückbringen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Ralph sagte: »Aber was mit Carolyn passiert ist, war der Grund, daß ich nicht mehr zu ihm gegangen bin. Glaube ich jedenfalls. Ich konnte ihm einfach nicht mehr vertrauen, oder vielleicht… ich weiß auch nicht… «
Nein, er wußte es wirklich nicht, das war das Teuflische daran. Er wußte nur, er hatte den Termin bei Dr. Litchfield abgesagt, ebenso den bei James Roy Hong, in manchen Kreisen auch als der Nadelpiekser bekannt. Den letzteren Termin hatte er auf Anraten eines zwei-oder dreiundneunzigjährigen Mannes abgesagt, der sich wahrscheinlich nicht einmal mehr an seinen zweiten Vornamen erinnern konnte. Seine Gedanken schweiften zu dem Rat ab, den ihm der alte Dor gegeben hatte, und zu dem Gedicht, aus dem er zitiert hatte -
»Pursuit« hatte es geheißen, und es ging Ralph nicht mehr aus dem Kopf… besonders der Teil, wo der Dichter alles hinter sich wegfallen sah: die ungelesenen Bücher, die unerzählten Witze, die Reisen, die er nie unternehmen würde.
»Ralph? Bist du noch da?«
»Was meinst du damit? Natürlich bin ich da.«
»Einen Moment hast du ausgesehen, als wärst du tausend Meilen weit weg.«
»Ich glaube, ich habe über Litchfield nachgedacht. Mich gefragt, warum ich den Termin abgesagt habe.«
Sie tätschelte seine Hand. »Sei froh, daß du es getan hast. Ich hab meinen wahrgenommen.«
»Sag mir, was passiert ist.«
Lois zuckte die Achseln. »Als es so schlimm wurde, daß ich mir dachte, ich könnte es nicht mehr ertragen, bin ich zu ihm gegangen und habe ihm alles erzählt. Ich dachte mir, er würde mir Schlaftabletten verschreiben, aber er sagte, er könnte nicht einmal das tun - ich habe manchmal Herzrhythmusstörungen, und Schlaftabletten können das verschlimmern.«
»Wann warst du bei ihm?« »Anfang letzter Woche. Dann rief mich gestern aus heiterem Himmel mein Sohn Harold an und sagte mir, er und Janet wollten mich zum Frühstück einladen. Unsinn, sagte ich, ich kann mich immer noch in der Küche beschäftigen. Wenn ihr von Bangor hierher kommt, mache ich uns eine Kleinigkeit zu essen, und damit basta. Wenn sie danach mit mir ausgehen wollten - ich dachte an das Einkaufszentrum, weil ich da immer gern hingehe -, wäre es in Ordnung. Genau das habe ich gesagt.«
Sie drehte sich mit einem Lächeln zu Ralph um, das verkniffen und verbittert und grimmig war.
»Ich habe mich nicht gefragt, warum sie mich beide an einem Wochentag besuchen kommen wollten, wo sie doch beide arbeiten gehen - und sie müssen die Jobs wirklich lieben, weil sie nie über etwas anderes reden. Ich dachte nur, wie süß es war… wie rücksichtsvoll… und ich strengte mich ganz besonders an, gut auszusehen und alles richtig zu machen, damit Janet nicht denken sollte, ich hätte Probleme. Ich glaube, das nervt mich am meisten. Die dumme alte Lois, >unsere Lois<, wie Bill immer sagt… mach nicht so ein überraschtes Gesicht, Ralph! Natürlich wußte ich das; glaubst du, ich bin erst gestern aus dem Urwald gelockt worden? Und er hat recht. Ich bin eine Närrin, ich bin dumm, aber das bedeutet nicht, daß ich nicht wie alle anderen Schmerzen empfinde, wenn ich zum Narren gemacht werde…« Sie fing wieder an zu weinen.
»Selbstverständlich«, sagte Ralph und tätschelte ihr die Hand.
»Du hättest dich totgelacht, wenn du mich gesehen hättest«, sagte sie. »Ich habe um vier Uhr morgens Brötchen gebacken, um Viertel nach vier Champignons für ein Pilzomelett geschnitten, um halb fünf mit dem Make-up angefangen, um sicher zu sein, ganz sicher, daß Jan nicht mit ihrem >Bist du sicher, daß du dich wohlfühlst, Mutter Lois?< anfängt. Ich hasse es, wenn sie mir mit diesem Quatsch kommt. Und weißt du was, Ralph? Sie wußte die ganze Zeit, was mit mir los ist. Sie wußten es beide. Man kann wohl sagen, daß der Witz auf meine Kosten gegangen ist, was?«