»Bist du betrunken, Roberts?« fragte sie mit abgehackter Stimme, und da verschwand das Chaos der Farben und Empfindungen aus der Welt, und er befand sich wieder nur in der Harris Avenue, die an einem herrlichen Herbstmorgen vor sich hindämmerte.
»Betrunken? Ich? Ganz und gar nicht. Nüchtern wie ein Richter, im Ernst.«
Er hielt ihr die Hand hin. Mrs. Perrine, die schon mindestens achtzig war, es sich aber nicht anmerken ließ, betrachtete seine Hand, als könnte er einen Elektrosummer darin verborgen haben. Das würde ich dir zutrauen, Roberts, schienen ihre kalten grauen Augen zu sagen. Das würde ich dir durchaus zutrauen. Sie kam ohne Ralphs Hilfe wieder auf den Bürger steig.
»Tut mir leid, Mrs. Perrine. Ich habe nicht auf den Weg geachtet.«
»Nein, das hast du eindeutig nicht. Bist mit offenen Mund herumspaziert. Du hast ausgesehen wie der Dorftrottel.«
»Tut mir leid«, wiederholte er, und dann mußte er sich auf die Zunge beißen, um wieherndes Gelächter zu unterdrücken.
»Hm.« Mrs. Perrine sah ihn langsam von oben bis unten an wie ein Ausbilder der Marines, der einen widerborstigen Rekruten mustert. »Dein Hemd ist unter der Achsel zerrissen, Roberts.«
Ralph hob den linken Arm und sah nach. Sein kariertes Lieblingshemd hatte tatsächlich einen großen Riß. Er konnte den Verband mit dem getrockneten Blutfleck darauf sehen; außerdem ein unansehnliches Gestrüpp Achselbehaarung eines alten Mannes. Er ließ den Arm hastig wieder sinken und spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoß.
»Hm«, sagte Mrs. Perrine noch einmal und drückte damit ihre vollständige Meinung über Ralph Roberts ohne einen einzigen Vokal aus. »Bring es mir zu Hause vorbei, wenn du möchtest. Und alles andere, das du zu nähen hast. Ich kann immer noch mit der Nadel umgehen, weißt du.«
»Oh, daran zweifle ich nicht, Mrs. Perrine.«
Nun bedachte Mrs. Perrine ihn mit einem Blick, der sagte: Du bist ein vertrockneter alter Arschkriecher, Ralph Roberts, aber dafür kannst du wahrscheinlich nichts.
»Aber nicht am Nachmittag«, sagte sie. »Nachmittags helfe ich, das Essen im Obdachlosenasyl zu machen, und um fünf helfe ich, es zu servieren. Das ist Gottes Arbeit.« »Ja, da bin ich ganz sicher… «
»Im Himmel wird es keine Obdachlosen geben, Roberts. Verlaß dich drauf. Und auch keine zerrissenen Hemden, da bin ich ganz sicher. Aber solange wir hier sind, müssen wir auf Zack sein und zurechtkommen. Das ist unsere Aufgabe.« Und ich erledige sie außergewöhnlich gut, fügte Mrs. Perrines Gesicht hinzu. »Bring am Morgen oder am Abend, was du zu nähen hast, Roberts. Du mußt nicht auf Etikette achten, aber wage es nicht, nach halb neun bei mir aufzukreuzen. Ich gehe um neun zu Bett.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mrs. Perrine«, sagte Ralph und mußte sich wieder auf die Zunge beißen. Er spürte, daß dieser Trick bald nicht mehr funktionieren würde; bald würde es heißen: Lach oder stirb.
»Keineswegs. Christenpflicht. Außerdem war ich mit Carolyn befreundet.«
»Danke«, sagte Ralph. »Schrecklich, das mit May Locher, nicht?«
»Nein«, sagte Mrs. Perrine. »Gottes Gnade.« Und sie zog ihres Weges, bevor Ralph ein weiteres Wort sagen konnte. Ihr Rücken war so unglaublich gerade, daß es wehtat, ihn anzusehen.
Er ging ein Dutzend Schritte weiter, dann konnte er nicht mehr an sich halten. Er stützte sich mit einem Arm an einem Telefonmast ab, preßte den Mund auf den Arm und lachte so leise er konnte - bis ihm Tränen die Wangen hinabliefen. Als der Anfall (genau so fühlte es sich an, wie ein hysterischer Anfall) vorbei war, hob Ralph den Kopf und sah sich mit wachsamen, neugierigen, leicht tränenverschleierten Augen um. Er sah nichts, das nicht jeder andere auch sehen konnte, was ihn mit Erleichterung erfüllte.
Aber es wird wiederkommen, Ralph. Du weißt es. Alles.
Ja, er vermutete, daß er das wußte, aber darum konnte er sich später kümmern. Zunächst mußte er mit jemandem reden.
Als Ralph schließlich von seiner erstaunlichen Tour die Straße entlang zurückkehrte, saß McGovern im Sessel auf der Veranda und blätterte müßig die Morgenzeitung durch. Als Ralph den Weg zum Haus hochging, faßte er einen spontanen Entschluß. Er würde Bill eine Menge erzählen, aber nicht alles. Auf jeden Fall weglassen wollte er, daß die beiden Typen, die er aus May Lochers Haus kommen sah, wie die Außerirdischen in den Sensationsblättern ausgesehen hatten, die man im Red Apple kaufen konnte.
McGovern sah auf, als er die Stufen heraufkam. »Hi, Ralph.«
»Hi, Bill. Kann ich mit dir reden?«
»Klar.« Er schlug die Zeitung zu und legte sie sorgfältig zusammen. »Gestern haben sie meinen alten Freund Bob Polhurst doch noch ins Krankenhaus gebracht.«
»Ja? Ich dachte, du hättest schon viel früher damit gerechnet.«
»Hab ich. Haben alle. Er hat uns an der Nase herumgeführt. Tatsächlich schien sich sein Zustand zu verbessern - jedenfalls was die Lungenentzündung betrifft -, aber dann hatte er einen Rückfall. Gestern hatte er einen Atemstillstand, und seine Nichte dachte, er würde sterben, bevor der Krankenwagen eintrifft. Aber er hat es geschafft, und jetzt scheint sein Zustand wieder stabil zu sein.« McGovern sah seufzend auf die Straße. »May Locher tritt mitten in der Nacht ab, und Bob schleppt sich einfach weiter durch. Was für eine Welt, hm?«
»Kann man wohl sagen.«
»Worüber wolltest du reden? Hast du dich endlich entschlossen, Lois einen Antrag zu machen? Brauchst du einen väterlichen Rat, wie du es anfangen sollst?«
»Ich brauche einen Rat, aber nicht wegen meines Liebeslebens.«
»Raus damit«, sagte McGovern gepreßt.
Ralph gehorchte und war mehr als nur ein wenig erleichtert über McGoverns stumme Aufmerksamkeit. Er fing damit an, daß er kurz skizzierte, was Bill schon wußte - der Vorfall mit Ed und dem Lastwagenfahrer im Sommer 1992, seine damaligen Äußerungen, die so sehr mit dem übereinstimmten, was er an dem Tag von sich gab, als er Helen verprügelte, weil sie die Petition unterschrieben hatte. Während Ralph sprach, spürte er deutlicher denn je, daß es Zusammenhänge zwischen den seltsamen Dingen gab, die ihm widerfahren waren, Zusammenhänge, die er fast sehen konnte.
Er erzählte McGovern von den Auren, aber nicht von dem lautlosen Inferno, das er vor nicht mal einer halben Stunde erlebt hatte - soweit wollte er zumindest vorläufig noch nicht gehen. McGovern wußte selbstverständlich von Charlie Pickering und Charlies Angriff auf Ralph, ebenso, daß Ralph ernste Schäden vermieden hatte, indem er die Spraydose einsetzte, die Helen und ihre Freundin ihm gegeben hatten, aber jetzt erzählte Ralph ihm etwas, das er am Sonntag abend verschwiegen hatte, als er McGovern bei einem improvisierten Essen von dem Überfall berichtete: wie die Spraydose wie durch ein Wunder in seiner Jackentasche aufgetaucht war. Nur, gestand er, daß seiner Vermutung nach der alte Dor der Wundertäter gewesen war.
»Ach du Scheiße!« rief McGovern aus. »Du lebst gefährlich, Ralph!«
»Kann sein.«
»Wieviel davon hast du Johnny Leydecker erzählt?«
Sehr wenig, wollte Ralph sagen, aber dann wurde ihm klar, daß selbst das eine Übertreibung gewesen wäre. »Fast nichts«, sagte er. »Und noch etwas habe ich ihm nicht gesagt. Etwas weitaus mehr… nun, weitaus Wichtigeres, schätze ich. Hat damit zu tun, was da oben passiert ist.« Er deutete zu May Lochers Haus, wo gerade zwei blauweiße Kleinbusse vorgefahren waren. MAINE STATE POLICE stand auf den Seiten geschrieben. Ralph vermutete, daß das die Leute von der Spurensicherung waren, die Leydecker erwähnt hatte.
»May?« McGovern beugte sich auf dem Sessel nach vorne. »Weißt du etwas darüber, was May zugestoßen ist?«
»Ich glaube ja.« Ralph, der bedächtig sprach und von Wort zu Wort sprang wie ein Mann, der einen gefährlichen Wildbach auf Steinen überquert, schilderte McGovern, wie er aufgewacht, ins Wohnzimmer gegangen war und die beiden Männer aus May Lochers Haus hatte kommen sehen. Er berichtete von seiner erfolgreichen Suche nach dem Fernglas und erzählte McGovern von der Schere, die einer der beiden bei sich gehabt hatte. Er erwähnte nicht seinen Alptraum von Carolyn oder die leuchtenden Spuren, und ganz sicher nicht seinen nachträglichen Eindruck, als wären die beiden Männer einfach durch die Tür gegangen; damit hätte er sich auch noch den letzten Rest Glaubwürdigkeit kaputt gemacht, den er noch besitzen mochte. Er kam mit seinem anonymen Anruf bei 911 zum Ende, dann saß er stumm in seinem Sessel und sah McGovern ängstlich an.