Mit niemandem, schien die Antwort zu lauten.
Kapitel 10
Die dunstigen Ringe um die Straßenlaternen waren verschwunden, als der Morgen am Himmel im Osten graute, und um neun Uhr war der Tag klar und warm - möglicherweise der Anfang der letzten kurzen Phase des Indianersommers. Ralph ging nach unten, sobald Good Morning America zu Ende war, und war fest entschlossen, McGovern zu erzählen, was mit ihm los war (jedenfalls soviel er sich traute), bevor er wieder den Mut verlor. Als er jedoch vor der Tür der Erdgeschoßwohnung stand, konnte er die Dusche prasseln und William D. McGovern gnädigerweise gedämpft singen hören: »I Left My Heart In San Francisco.«
Ralph ging auf die Veranda hinaus, steckte die Hände in die Gesäßtaschen und las den Tag wie einen Katalog. Es gab nichts, überlegte er, wirklich nichts auf der Welt, das dem Oktobersonnenschein gleichkam; er konnte fast spüren, wie sich sein nächtliches Elend verflüchtigte. Es würde zweifellos zurückkehren, aber im Augenblick fühlte er sich gut - müde und schwindlig im Kopf, ja, aber trotzdem weitgehend in Ordnung. Der Tag war mehr als schön; er war regelrecht atemberaubend, und Ralph bezweifelte, daß er vor dem nächsten Mai noch einmal einen ähnlich schönen erleben würde. Er kam zu dem Ergebnis, er wäre ein Narr, ihn nicht auszunützen. Ein Spaziergang zur Harris Avenue Extension würde eine halbe Stunde dauern, eine Dreiviertelstunde, wenn er jemanden treffen sollte, mit dem es sich lohnte, einen Plausch zu halten, und bis dahin würde sich Bill geduscht, rasiert, gekämmt und angezogen haben. Und bereit sein, ihm teilnahmsvoll zuzuhören, wenn Ralph Glück hatte.
Er ging bis zum Picknickgelände vor dem Zaun des County Airport ohne sich richtig einzugestehen, daß er insgeheim hoffte, den alten Dor zu treffen. Wenn ja, konnten sie beide sich vielleicht ein bißchen über Lyrik unterhalten - zum Beispiel über Stephen Dobyns -, vielleicht sogar ein wenig über Philosophie. Diesen Teil ihrer Unterhaltung könnten sie vielleicht mit einer Begriffsbestimmung beginnen, was »langfristige Geschäfte« waren, um danach zu klären, weshalb Ralph sich Dors Meinung zufolge »nicht einmischen« sollte.
Aber Dorrance hielt sich nicht am Picknickplatz auf; niemand war dort, außer Don Veazie, der Ralph erklären wollte, warum Bill Clinton als Präsident so einen Mist baute und warum es für die guten alten Vereinigten Staaten besser gewesen wäre, wenn das Volk das Finanzgenie Ross Perot gewählt hätte. Ralph (der für Clinton gestimmt hatte und fand, daß der Mann seine Aufgabe ziemlich gut erfüllte) hörte lange genug zu, um nicht als unhöflich zu gelten, dann behauptete er, er hätte einen Termin beim Friseur. Etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.
»Und noch was!« plärrte Don hinter ihm her. »Seine hochnäsige Frau! Die ist eine Lesbe! So was erkenne ich immer! Weißt du, woran? Ich seh mir ihre Schuhe an! Schuhe sind eine Art Geheimcode bei denen! Sie tragen immer welche, die vorne ganz breit sind und -«
»Bis bald, Don!« rief Ralph und trat hastig den Rückzug an.
Er war etwa eine Viertelmeile bergab gegangen, als der Tag lautlos um ihn herum explodierte.
Er befand sich gegenüber von May Lochers Haus, als es passierte. Er blieb wie angewurzelt stehen und sah mit großen, ungläubigen Augen die Harris Avenue entlang. Die rechte Hand hatte er an den Halsansatz gepreßt, sein Mund stand offen. Er sah aus wie ein Mann, der einen Herzanfall hat, und obwohl mit seinem Herzen alles in Ordnung war - jedenfalls im Augenblick -, kam er sich gewiß vor, als hätte er eine Art Anfall. Er hatte den ganzen Herbst über nichts gesehen, das ihn darauf hätte vorbereiten können. Ralph glaubte nicht, daß ihn überhaupt etwas hätte darauf vorbereiten können.
Die andere Welt - die heimliche Welt der Auren - war wieder sichtbar geworden, und diesmal intensiver, als Ralph es sich je hätte träumen lassen können… so intensiv, daß er sich sogar einen Moment fragte, ob ein Mensch an einer Wahrnehmungsüberdosis sterben konnte. Die obere Harris Avenue war ein grell leuchtendes Wunderland voll überlappender Kugeln und Kegel und bunter Sicheln. Die Bäume, die immer noch etwa eine Woche vom Höhepunkt ihrer herbstlichen Verwandlung entfernt waren, brannten dennoch wie Fackeln in Ralphs Augen und Denken. Der Himmel war jenseits der Farbe; er glich einem endlosen blauen Überschallknall.
Die Telefonleitungen der West Side von Derry verliefen noch oberirdisch, und Ralph starrte sie an, während er am Rande bemerkte, daß er aufgehört hatte zu atmen und besser schnellstens wieder damit anfangen sollte, wenn er nicht umkippen wollte. Unregelmäßige gelbe Spiralen sausten schnell an den schwarzen Leitungen entlang und erinnerten Ralph daran, wie die rotierenden Stangen vor den Friseurläden in seiner Jugend ausgesehen hatten. Ab und zu wurde dieses Wespenmuster von einem stacheligen, vertikalen roten Aufleuchten oder einem grünen Blitz unterbrochen, die in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen schienen und die gelben Ringe einen Moment auslöschten, bevor sie verblaßten.
Du siehst, wie Leute miteinander reden, dachte er benommen. Weißt du das, Ralph? Tante Sadie in Dallas hält ein Schwätzchen mit ihrem Lieblingsneffen, der in Derry wohnt; ein Farmer in Haven plauscht mit dem Großhändler, von dem er seine Traktorteile bezieht; ein Pastor versucht, einem in Not geratenen Gemeindemitglied zu helfen. Das sind Stimmen, und ich glaube, die grellen Blitze und das Aufleuchten kommen von Leuten, die von einem starken Gefühl beherrscht werden -Liebe oder Hass, Glück oder Eifersucht.
Und Ralph spürte, daß das, was er sah und fühlte, nicht alles war; daß eine ganze Welt außerhalb der momentanen Reichweite seiner Sinne wartete. Möglicherweise so gewaltig, daß sogar dieses, was er jetzt sah, kümmerlich und blaß wirken würde. Und wenn es tatsächlich mehr gab, wie sollte er es ertragen können, ohne den Verstand zu verlieren? Es würde nicht einmal helfen, sich die Augen herauszureißen; er begriff, der Eindruck des »Sehens« rührte nur daher, daß er das Sehen sein Leben lang als primäre Sinneswahrnehmung akzeptiert hatte. Aber hier spielte sich eine Menge mehr als nur im Bereich des Sichtbaren ab.
Um sich das selbst zu beweisen, machte er die Augen zu… und sah die Harris Avenue trotzdem weiter. Als wären seine Lider zu Glas geworden. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sich alle Farben in ihr Gegenteil verkehrt hatten und eine Welt entstanden war, die wie das Negativ eines Farbfotos aussah. Die Bäume waren nicht mehr orange und gelb, sondern so grell und unnatürlich grün wie Limonen-Gatorade. Die Oberfläche der Harris Avenue, im Juni erst frisch asphaltiert, war zu einem breiten weißen Weg geworden, und der Himmel zu einem erstaunlichen roten See. Er schlug die Augen wieder auf und war fast überzeugt, daß die Auren verschwunden sein würden, aber sie waren noch da; die Welt erbebte immer noch in Farben und Bewegungen und einem tiefen, hallenden Geräusch.
Wann fange ich an, sie zu sehen? fragte sich Ralph, während er langsam weiter bergab ging. Wann kommen die kleinen kahlköpfigen Ärzte aus dem Unterholz?
Aber es waren keine Ärzte zu sehen, weder kahlköpfig noch sonstwie, keine Engel in der Architektur; keine Teufel, die aus den Gullydeckeln hervorlugten. Da war nur -
»Paß auf, Roberts, gib acht, wo du hinläufst!«
Die schroffen und etwas erschrockenen Worte schienen wahrhaftig eine stoffliche Beschaffenheit zu haben; sie waren, als würde man in einer uralten Abtei oder einem Ahnensaal mit der Hand über Eichenpaneele streichen. Ralph blieb unvermittelt stehen und sah Mrs. Perrine von weiter unten in der Straße. Sie war vom Bürgersteig auf die Straße getreten, damit sie nicht umgestoßen wurde wie ein Kegel, und nun stand sie bis zu den Knöcheln in herabgefallenem Laub und betrachtete Ralph unter ihren buschigen melierten Brauen hervor. Die Aura um sie herum hatte die strenge, nüchterne graue Farbe einer Uniform von West Point.