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Du mußt sie nicht retten, Ralph. Carolyn ist schon tot, und sie ist nicht an einem menschenleeren Strand gestorben. Es ist im Zimmer 317 des Derry Home Hospital passiert. Du warst bis zum Ende bei ihr, und du hast keine Brandung gehört, sondern Schneeregen, der ans Fenster prasselte. Weißt du das nicht mehr?

Er wußte es noch, lief aber nichtsdestotrotz schneller; staubige Sandwölkchen stoben hinter ihm hoch.

Aber du wirst sie nie erreichen; du weißt, wie das in Träumen ist, oder nicht? Alles, wohin du läufst, verwandelt sich in etwas anderes.

Nein, so hatte das in dem Gedicht nicht geheißen… oder doch? Ralph war sich nicht mehr sicher. Er wußte nur noch genau, daß am Ende der Erzähler vor etwas Tödlichem geflohen war (ich sehe über die Schulter und erkenne seine Gestalt) das ihn durch den Wald verfolgte… ihn verfolgte und näherkam.

Aber er näherte sich tatsächlich dem dunklen Gegenstand im Sand. Und der verwandelte sich auch nicht in etwas anderes, und als Ralph vor Carolyn auf die Knie fiel, wurde ihm sofort klar, warum er die Frau, mit der er dreiunddreißig Jahre lang verheiratet gewesen war, nicht einmal aus der Ferne hatte erkennen können: Etwas stimmte nicht mit ihrer Aura. Sie klebte an ihrer Haut wie ein Schmutzwäschebeutel für die chemische Reinigung. Als Ralphs Schatten über sie fiel, verdrehte Carolyn die Augen wie ein Pferd, das sich beim Sprung über einen hohen Zaun ein Bein gebrochen hat. Sie atmete in raschen, erschrockenen Zügen, und bei jedem Ausatmen schössen grauschwarze Aurastrahlen aus ihren Nasenlöchern.

Die zerfetzte Ballonschnur, die von ihrem Kopf aufstieg, war so purpur-schwarz wie eine schwärende Wunde. Als sie den Mund aufmachte, um noch einmal zu schreien, strömte eine häßlich leuchtende Substanz in gummiartigen Fäden von ihren Lippen, die fast wieder verschwunden waren, bevor seine Augen ihre Existenz richtig wahrgenommen hatten.

Ich werde dich retten, Caroll rief er. Er ließ sich auf die Knie fallen und grub im Sand um sie herum wie ein Hund, der einen Knochen ausbuddelt… und bei diesem Gedanken wurde ihm bewußt, daß Rosalie, der frühmorgendliche Streuner der Harris Avenue, müde hinter seiner schreienden Frau saß. Es war, als wäre der Hund durch den Gedanken herbeibeschworen worden. Rosalie, sah er, war ebenfalls von einer schmutzigen schwarzen Aura umgeben. Sie hielt Bill McGoverns verschwundenen Panamahut zwischen den Pfoten, der aussah, als hätte sie kräftig darauf herumgekaut, seit er in ihren Besitz gelangt war.

Dahin ist der verfluchte Hut also verschwunden, dachte Ralph, drehte sich wieder zu Carolyn um und fing noch schneller an zu graben. Bis jetzt war es ihm nicht gelungen, auch nur eine Schulter freizulegen.

Laß mich! schrie Carolyn ihn an. Ich bin schon tot, weißt du nicht mehr? Achte auf die Spuren des weißen Mannes, Ralph! Die eine Welle, glasig grün unten, oben mit weißem Schaum gekrönt, brach keine drei Meter entfernt am Strand. Sie rannte auf dem Sand auf sie zu, brachte Ralphs Hoden in dem kalten Wasser zum Erschauern, und begrub Carolyns Kopf vorübergehend unter einer Flutwelle sandigen Schaums. Als das Wasser zurückging, stieß Ralph selbst einen gräßlichen Schrei himmelwärts aus. Die Welle hatte in Sekunden geschafft, wozu die Bestrahlungen fast einen Monat gebraucht hatten; sie hatte ihr das Haar genommen und sie kahl zurückgelassen. Und ihr Kopf blähte sich an der Stelle auf, wo die schwarze Ballonschnur befestigt war.

Carolyn, nein! heulte er und grub noch schneller. Der Sand war jetzt naß und unangenehm schwer.

Vergiß es, sagte sie. Schwarzgraue Wölkchen kamen bei jedem Wort aus ihrem Mund wie schmutziger Rauch aus einem Industrieschlot. Es ist nur der Tumor, und der ist inoperabel, also hab keine schlaflosen Nächte wegen dem Teil der Vorstellung. Zum Teufel, es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen, richtig? Aber du mußt nach diesen Spuren Ausschau halten…

Carolyn, ich weiß nicht, wovon du sprichst!

Eine weitere Welle kam, durchnäßte Ralph bis zur Taille und begrub Carolyn wieder unter sich. Als die Welle zurückwich, platzte die Schwellung auf Carolyns Kopf allmählich auf.

Das wirst du bald herausfinden, antwortete Carolyn, und dann barst die Schwellung auf ihrem Kopf mit einem Geräusch, als hätte ein Hammer auf ein Stück Fleisch geschlagen. Ein Blutschwall spritzte in die kalte, nach Salz riechende Luft, und plötzlich ergoß sich ein Schwärm Käfer so groß wie Kakerlaken aus ihrem Inneren. Ralph hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen nicht einmal in einem Traum -, daher erfüllten sie ihn mit fast hysterischem Abscheu. Er wäre geflohen, trotz Carolyn, aber er war erstarrt und konnte nicht einmal einen Finger rühren, geschweige denn aufstehen und weglaufen.

Einige der Käfer liefen durch den schreienden Mund in Carolyn zurück, aber die meisten wuselten über die Wangen und Schultern auf den nassen Sand. Dabei betrachteten sie Ralph unablässig mit ihren vorwurfsvollen Insektenaugen. Das ist alles deine Schuld, schienen die Augen zu sagen. Du hättest sie retten können, Ralph, und ein besserer Mann hätte sie gerettet.

Carolyn! schrie er. Er streckte die Hand nach ihr aus, aber dann zog er sie zurück, weil ihn vor den schwarzen Käfern ekelte, die immer noch aus ihrem Kopf quollen. Hinter ihr saß Rosalie in ihrer eigenen dunklen Vertiefung, sah ihn ernst an und hielt McGoverns verlegten chapeau im Maul.

Eines von Carolyns Augen ploppte heraus und fiel wie ein Tropfen Blaubeergelee in den nassen Sand. Käfer ergossen sich aus der leeren Augenhöhle.

»Carolyn! « schrie er. Carolyn! Carolyn! Carolyn! Carolyn! Car-«

Plötzlich, in dem Augenblick, als ihm klar wurde, daß der Traum vorbei war, fiel Ralph. Er registrierte die Tatsache praktisch erst, als er auf dem Schlafzimmerboden landete. Es gelang ihm, seinen Sturz mit einer ausgestreckten Hand abzufangen, womit er wahrscheinlich vermied, sich schlimm den Kopf anzustoßen, was aber dafür einen heftigen Schmerz unter dem Verband an der linken Seite auslöste. Einen Augenblick lang nahm er den Schmerz jedoch kaum wahr. Er verspürte Angst, Ekel, Grauen, einen schrecklichen, schmerzhaften Kummer… am meisten aber ein überwältigendes Gefühl der Dankbarkeit. Der böse Traum - sicherlich der schlimmste Alptraum, den er je gehabt hatte - war vorbei, und er befand sich wieder in der Welt der wirklichen Dinge.

Er zog das weitgehend aufgeknöpfte Pyjamaoberteil zurück, untersuchte den Verband nach Blutspuren, fand keine und richtete sich auf. Das allein schien ihn schon auszulaugen; die Vorstellung, aufzustehen - und sei es nur gerade lange genug, um wieder ins Bett zu fallen, stand vorläufig außer Frage. Vielleicht wenn sich sein von Panik ergriffenes, rasendes Herz ein wenig beruhigt hatte.

Kann man an Alpträumen sterben? fragte er sich, und als Antwort hörte er Joe Wyzers Stimme: Worauf Sie sich verlassen können, Ralph, aber der Leichenbeschauer schreibt normalerweise Selbstmord in die Spalte Todesursache.

Ralph, der, von den Nachwirkungen seines Alptraums zitternd, auf dem Boden saß und die Knie mit dem rechten Arm umschlang, hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß manche Träume schlimm genug waren, töten zu können. Die Einzelheiten seines eigenen verblaßten jetzt, aber an den Höhepunkt konnte er sich nur allzu deutlich erinnern: das pochende Geräusch, als würde ein Hammer auf eine dicke Scheibe Rindersteak schlagen, und die widerliche Sturzflut der Käfer aus Carolyns Kopf. Fett waren sie gewesen, fett und lebhaft, und warum auch nicht? Sie hatten sich am Gehirn seiner toten Frau gütlich getan.

Ralph stieß ein leises, schluchzendes Stöhnen aus, strich sich mit der linken Hand über das Gesicht und löste damit einen erneuten stechenden Schmerz unter dem Verband aus. Seine Handfläche war schweißnaß.

Was genau hatte sie ihm gesagt, wonach sollte er Ausschau halten? Sporen weißer Männer? Nein - Spuren, nicht Sporen. Spuren des weißen Mannes, was immer das auch sein mochte. War das alles gewesen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es war ein Traum, Herrgott noch mal, nur ein Traum, und außerhalb der Fantasy-Welt, wie sie in der Regenbogenpresse geschildert wurde, bedeuteten Träume nichts und bewiesen nichts. Wenn ein Mensch schlafen ging, schien sich der Verstand in eine Art Trödler zu verwandeln, der den Flohmarkt des Kurzzeitgedächtnisses nach überwiegend wertlosen Erinnerungen durchsuchte, aber nicht nach Dingen Ausschau hielt, die wertvoll oder gar nützlich waren, sondern nur nach welchen, die noch strahlend glänzten. Diese stellte er zu Collagen aus dem Gruselkabinett zusammen, die nicht selten atemberaubend waren, aber nicht mehr Sinn ergaben als Natalie Deepneaus Gesprächsbeiträge. Rosalie, die Hündin, war darin vorgekommen, selbst Bills verschwundener Panamahut hatte einen Gastauftritt absolviert, aber das hatte alles nichts zu bedeuten… aber morgen nacht würde er keine der Schmerztabletten nehmen, die der Notarzt ihm gegeben hatte, selbst wenn sein Arm sich anfühlte, als würde er abfallen. Diejenige, die er vor den Spätnachrichten genommen hatte, hatte ihn nicht nur nicht ausschlafen lassen, wie er insgeheim gehofft und halb erwartet hatte, sondern hatte wahrscheinlich ihren Teil dazu beigetragen, den Alptraum zu inszenieren.

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