Ralph faltete es auseinander und las den einen Satz, der mit der krakeligen, etwas unsicheren Schrift eines alten Mannes geschrieben worden war: Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann.
Das war alles, aber es reichte aus, seinem Hirn zu bestätigen, was sein Herz bereits wußte: Dorrance Marstellar hatte auf der Veranda gewartet, als Ralph mit seinen Büchern von Back Pages zurückgekommen war, aber er hatte noch etwas anderes erledigt, bevor er sich dort niedergelassen hatte. Er hatte sogar seine Visitenkarte hinterlassen: eine Zeile aus einem Gedicht auf einem Blatt Papier, das er wahrscheinlich aus dem alten, zerfledderten Notizbuch gerissen hatte, in das er manchmal Ankunfts-und Abflugzeiten auf Rollbahn 3 schrieb. Statt die Jacke dorthin zu legen, wo Ralph sie hingeworfen hatte, hatte der alte Dor sie ordentlich an den Kleiderständer gehängt. Danach (Geschehenes läßt sich nicht mehr ungeschehen machen) ging er wieder auf die Veranda hinunter und wartete.
Gestern abend hatte Ralph mit McGovern geschimpft, weil der die Eingangstür wieder offengelassen hatte, und McGovern hatte es so geduldig über sich ergehen lassen, wie Ralph selbst Carolyns Schelte über sich hatte ergehen lassen, wenn er beim Nachhausekommen die Jacke auf den nächstbesten Stuhl warf, statt sie an den Kleiderständer zu hängen, aber jetzt fragte sich Ralph, ob er Bill nicht möglicherweise zu Unrecht Vorwürfe gemacht hatte. Vielleicht hatte der alte Dor das Schloß geknackt… oder auf gezaubert. Unter den Umständen schien Zauberei wahrscheinlicher zu sein. Denn…
»Denn stellt euch vor«, sagte Ralph mit leiser Stimme, während er mechanisch den Krimskrams auf dem Fernseher wieder in den Taschen verstaute, »er hat nicht nur gewußt, daß ich das Zeug brauchen würde, er hat auch gewußt, wo er es finden konnte und wo er es verstauen mußte.«
Da lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, und sein Verstand versuchte, die ganze Angelegenheit herunterzuspielen sie als Wahnsinn zu bezeichnen, als unlogisch, als genau das, was sich ein Mann mit Schlaflosigkeit Güteklasse A ausdenken würde. Aber das erklärte nicht das Stück Papier, oder?
Er betrachtete wieder die gekritzelten Worte auf dem linierten blauen Blatt - Was ich auch tue, ich tue es rasch, damit ich etwas anderes tun kann. Dies war ebenso wenig seine Handschrift, wie Cemetery Nights sein Buch war.
»Aber jetzt ist es meins; Dor hat es mir gegeben«, sagte Ralph, und der kalte Schauer fuhr ihm wieder über den Rücken, unregelmäßig wie ein Sprung in einer Windschutzscheibe.
Was für eine andere Erklärung fällt dir ein? Diese Dose ist nicht von selbst in deine Tasche geflogen. Und das Stück Notizpapier auch nicht.
Das Gefühl, als würde er von unsichtbaren Händen auf den klaffenden Schlund eines Tunnels zugeschoben werden, hatte sich wieder eingestellt. Ralph kam sich wie ein Mann in einem Traum vor, als er zur Küche zurückkehrte. Unterwegs schlüpfte er aus der grauen Jacke und warf sie über die Couchlehne, ohne auch nur darüber nachzudenken. Er blieb eine Zeitlang unter der Tür stehen und betrachtete starr den Kalender mit dem Bild zweier lachender Jungs, die eine Kürbislaterne schnitzten. Betrachtete das morgige Datum, das eingekreist war.
Du sollst den Termin bei dem Nadelpiekser absagen, hatte Dorrance gesagt; das war die Botschaft, und heute hatte der Messerstecher sie mehr oder weniger bekräftigt. Verdammt, er hatte sie in Neonbuchstaben wiederholt.
Ralph suchte eine Nummer in den Gelben Seiten und wählte sie.
»Dies ist die Praxis von Dr. James Roy Hong«, informierte ihn eine angenehme Frauenstimme. »Im Augenblick können wir Ihren Anruf leider nicht persönlich entgegennehmen, daher hinterlassen Sie bitte eine Nachricht nach dem Pfeifton. Wir rufen Sie schnellstmöglich zurück.«
Der Anrufbeantworter piepste. Mit einer Stimme, deren Festigkeit ihn überraschte, sagte Ralph: »Hier spricht Ralph Roberts. Ich habe morgen früh um zehn Uhr einen Termin. Es tut mir leid, aber ich werde ihn nicht wahrnehmen können. Es ist mir etwas dazwischengekommen. Vielen Dank.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Selbstverständlich werde ich für die Kosten aufkommen.«
Er schloß die Augen und legte den Hörer wieder auf die Gabel. Dann preßte er die Stirn an die Wand.
Was machst du, Ralph? Was, in Gottes Namen, machst du da?
»Es ist ein langer Weg zurück ins Paradies, Liebling.«
Du kannst doch nicht allen Ernstes denken, was du da denkst… oder?
»… ein langer Weg, also hör auf, dich über Kleinigkeiten aufzuregen.«
Was genau denkst du denn, Ralph?
Er wußte es nicht, er hatte nicht die geringste Idee. Er wußte nur, daß Kreise des Schmerzes von dem kleinen Loch in seiner linken Seite ausgingen, dem Loch, das der Messerstecher gemacht hatte. Der Notarzt hatte ihm ein halbes Dutzend Schmerztabletten gegeben, und er vermutete, er sollte eine nehmen, aber im Augenblick war er zu müde, zur Spüle zu gehen und sich ein Glas Wasser zu holen… und wenn er zu müde war, durch ein beschissenes kleines Zimmer zu gehen, wie, um alles in der Welt, sollte er dann den langen Weg zurück ins Paradies bewerkstelligen?
Ralph wußte es nicht, und im Augenblick war es ihm auch egal. Er wollte nur stehenbleiben, wo er war, die Stirn an die Wand pressen und die Augen geschlossen halten, damit er überhaupt nichts ansehen mußte.
Kapitel 8
Der Strand war ein langes weißes Band und glich ein wenig dem Aufblitzen eines weißen Seidenslips am Saum des schimmernden blauen Meeres; er war vollkommen verlassen, abgesehen von einem runden Gegenstand etwa sechzig Meter entfernt. Dieser runde Gegenstand war etwa so groß wie ein Basketball und erfüllte Ralph mit einer Angst, die ebenso tief verwurzelt wie - jedenfalls im Augenblick - grundlos war.
Geh nicht näher hin, sagte er sich. Das hat etwas Böses an sich. Etwas wirklich Böses. Es ist ein schwarzer Hund, der einen blauen Mond anbellt, Blut im Spülbecken, ein Rabe auf der Büste der Pallas Athene direkt neben der Kammertür. Du solltest nicht in seine Nähe gehen, und du mußt nicht in seine Nähe gehen, denn dies ist einer von Joe Wyzers lichten Träumen. Du kannst einfach umkehren und weggehen, wenn du willst.
Aber seine Füße trugen ihn trotzdem weiter, also war es vielleicht doch kein lichter Traum. Und nicht angenehm, ganz und gar nicht. Denn je näher er dem Gegenstand am Strand kam, desto weniger Ähnlichkeit hatte dieser mit einem Basketball.
Es war bei weitem der realistischste Traum, den Ralph je erlebt hatte, und weil er wußte, daß er träumte, schien das Gefühl von Realismus noch stärker als sonst zu sein. Er konnte den feinen, lockeren Sand unter den bloßen Füßen spüren, warm, aber nicht heiß; er konnte das knirschende, felsige Tosen der Wellen hören, die das Gleichgewicht verloren und über dem Strand zusammenstürzten, wo der Sand wie sonnengebräunte, nasse Haut glänzte; er konnte Salz und trocknenden Seetang riechen, einen starken, tränenreichen Geruch, der ihn an Sommerferien in Old Orchard Beach erinnerte, als er ein Kind gewesen war.
He, alter Kumpel, wenn du diesen Traum nicht verändern kannst, solltest du vielleicht die Notbremse ziehen und aussteigen - mit anderen Worten, weck dich auf, aber sofort.
Er hatte die halbe Strecke zu dem Gegenstand am Strand zurückgelegt, und nun konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, worum es sich handelte - kein Baseball, sondern ein Menschenkopf. Jemand hatte einen Menschen bis zum Hals im Sand eingegraben… und plötzlich stellte Ralph fest, daß die Flut kam.
Er stieg nicht aus, er fing an zu laufen. Als er das tat, berührte die Schaumkrone einer Welle den Kopf. Der Kopf riß den Mund auf und fing an zu schreien. Trotz des schrillen Schreis erkannte Ralph die Stimme sofort. Es war die von Carolyn.
Die Gischt einer zweiten Welle strömte über den Strand und spülte das Haar zurück, das an den nassen Wangen des Kopfs geklebt hatte. Ralph lief schneller, obwohl er wußte, er würde mit ziemlicher Sicherheit zu spät kommen. Die Flut kam immer schneller. Carolyn würde, lange bevor er ihren eingegrabenen Leib freilegen konnte, ertrinken.