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»Er hat mir Säure ins Gesicht geschüttet!« schrie der Mann auf dem Boden. »Ich kann nichts sehen, und meine Haut brennt wie der Teufel!« Für Ralph hörte er sich fast wie eine bewußte Parodie der bösen Hexe aus dem Westen an.

Mike warf dem Mann auf dem Boden einen kurzen Blick zu, dann setzte er sich neben Ralph. »Was ist passiert?«

»Nun, Säure war es auf jeden Fall nicht«, sagte Ralph und hielt die Dose Bodyguard hoch. Er stellte sie neben Patterns of Dreaming auf. den Tisch. »Die Lady, die sie mir gegeben hat, hat gesagt, das Zeug sei nicht so stark wie Tränengas, es reize nur die Augen und verursache Übelkeit -«

»Ich mache mir keine Sorgen, was mit ihm los ist«, sagte Mike ungeduldig. »Wer so laut schreien kann, wird wahrscheinlich nicht in den nächsten drei Minuten sterben. Ich mache mir um Sie Sorgen, Mr. Roberts - haben Sie eine Ahnung, wie stark er auf Sie eingestochen hat?«

»Eigentlich hat er gar nicht auf mich eingestochen«, sagte Ralph. »Er hat mich… mehr gepiekst. Damit.« Er zeigte auf das Messer, das auf dem Fliesenboden lag. Als er die rote Spitze sah, spürte er einen erneuten Schwächeanfall. Sein Kopf fühlte sich an wie ein Schnellzug aus Daunenkissen. Das war selbstverständlich dumm und ergab überhaupt keinen Sinn, aber sein Kopf war in keiner besonders guten Verfassung.

Der Assistent sah vorsichtig auf den Mann am Boden hinunter. »Wir kennen den Kerl, Mike«, sagte er, »es ist Charlie Pickering.«

»Ach du meine Güte«, sagte Mike. »Warum überrascht mich das bloß nicht?« Er sah den Teenager an und seufzte. »Du solltest besser die Polizei rufen, Justin. Sieht so aus, als hätten wir es hier mit einer ernsten Situation zu tun.«

5

»Bekomme ich Schwierigkeiten, weil ich das hier benutzt habe?« fragte Ralph eine Stunde später und deutete auf eines von zwei versiegelten Plastiktütchen, die auf dem überquellenden Schreibtisch in Mike Hanions Büro lagen. Ein Streifen gelben Bands mit der Aufschrift BEWEISMITTEL Spraydose DATUM 10.3.93 ORT Öffentliche Bibliothek Derry war daraufgeklebt worden.

»Nicht soviel wie unser alter Freund Charlie Pickering, weil er das hier benutzt hat«, sagte John Leydecker und deutete auf den zweiten versiegelten Beutel. Darin befand sich das Jagdmesser, auf dessen Spitze das Blut zu einem klebrigen Kastanienbraun getrocknet war. Leydecker trug heute einen Footballsweater mit der Aufschrift »University of Maine«. Er wirkte damit ungefähr so groß wie eine Scheune. »Hier draußen im Hinterland halten wir noch ziemlich viel von Selbstverteidigung. Aber wir reden nicht sehr viel darüber - es ist irgendwie, als würde man zugeben, daß man die Welt für eine Scheibe hält.«

Mike Hanion, der sich an den Türrahmen lehnte, lachte und nickte.

Ralph hoffte, daß man seinem Gesicht die große Erleichterung nicht ansah, die er empfand. Während ein Notarzt (möglicherweise derselbe, der im August Helen Deepneau ins Krankenhaus gefahren hatte) an ihm arbeitete - er fotografierte zuerst, dann desinfizierte er, und schließlich nähte und verband er -, saß Ralph mit zusammengebissenen Zähnen da und stellte sich vor, wie ein Richter ihn wegen des Gebrauchs einer halbwegs tödlichen Waffe zu sechs Monaten im hiesigen Bezirksgefängnis verurteilte. Hoffentlich, Mr. Roberts, dient dies als Exempel und als Warnung an alle anderen alten Knacker hier in der Gegend, die es als gerechtfertigt betrachten, Spraydosen mit lähmendem Nervengas mit sich herumzutragen…

Leydecker betrachtete noch einmal die sechs Polaroidfotos, die an der Seite von Hanions Computer aufgereiht waren. Der milchgesichtige Techniker der Unfallrettung hatte drei davon gemacht, bevor er Ralph zusammengeflickt hatte. Sie zeigten einen kleinen dunklen Kreis - er sah aus wie die übergroßen Kleckse, die Kinder manchmal machen, wenn sie gerade schreiben lernen - an Ralphs Hüfte. Nachdem er die Wunde genäht und Ralph eine Erklärung hatte unterschreiben lassen, daß man ihm eine Behandlung im Krankenhaus angeboten, er sie jedoch abgelehnt hatte, machte der Techniker noch einmal drei Fotos. Auf dieser zweiten Dreierstaffel konnte man die Anfänge eines absolut spektakulären Blutergusses erkennen.

»Gott segne Edwin Land und Richard Polaroid«, sagte Leydecker und verstaute die Fotos in einem dritten BEWEISMITTEL-Beutel.

»Ich glaube nicht, daß es einen Richard Polaroid gegeben hat«, sagte Mike Hanion von der Tür.

»Wahrscheinlich nicht, aber Gott segne ihn trotzdem. Die Geschworenen, die diese Fotos sehen, werden Ihnen mit absoluter Sicherheit eine Tapferkeitsmedaille verleihen wollen, und nicht einmal Clarence Darrow könnte sie als Beweismittel ausschließen lassen.« Er sah Mike an. »Charlie Pickering.«

Mike nickte. »Charlie Pickering.«

»Dummfick.«

»Dummfick de luxe.«

Die beiden sahen einander ernst an, dann prusteten sie gleichzeitig vor unbändigem Gelächter. Ralph verstand genau, wie ihnen zumute war - es war komisch, weil es schrecklich war, und schrecklich, weil es komisch war -, und mußte sich auf die Lippen beißen, damit er nicht einstimmte. Lachen wollte er im Augenblick als allerletztes auf der Welt; es würde teuflisch wehtun.

Leydecker holte ein Taschentuch aus der Gesäßtasche, wischte sich damit die tränenden Augen ab und riß sich allmählich wieder zusammen.

»Pickering gehört zu der Recht-auf-Leben-Bande, oder nicht?« fragte Ralph. Er erinnerte sich daran, wie Pickering ausgesehen hatte, als Hanions Assistent ihm aufgeholfen hatte. Ohne seine Brille hatte der Mann ungefähr so gefährlich ausgesehen wie ein Kaninchen im Schaufenster einer Tierhandlung.

»Könnte man sagen«, stimmte Mike trocken zu. »Er ist derjenige, den sie letztes Jahr in der Garage geschnappt haben, die sich das Krankenhaus und Woman-Care teilen. Er hatte einen Kanister Benzin in der Hand und einen Rucksack mit leeren Flaschen auf dem Rücken gehabt.«

»Die Stoffstreifen nicht zu vergessen«, sagte Leydecker. »Das sollten die Zündschnüre werden. Damals war Charlie noch überzeugtes Mitglied von Daily Bread.«

»War er nahe daran, ein Feuer zu legen?« fragte Ralph neugierig.

Leydecker zuckte die Achseln. »Nicht sehr. Jemand aus der Gruppe hat offenbar eingesehen, daß es eher ein Akt des Terrorismus als eine politische Aktion sein könnte, die hiesige Frauenklinik anzuzünden, und einen anonymen Anruf bei der hiesigen Polizei gemacht.«

»Keine schlechte Idee«, sagte Mike. Er schnaubte wieder ein kurzes Kichern und verschränkte dann die Arme vor der Brust, als wollte er alle weiteren Geräusche im Inneren halten.

»Ja«, sagte Leydecker. Er verschränkte die Finger ineinander, streckte die Arme aus und ließ die Knöchel knacken. »Statt ins Gefängnis, schickte ein umsichtiger Richter Charlie sechs Monate zur Behandlung und Therapie nach Juniper Hill, und da müssen sie zu dem Ergebnis gekommen sein, daß er wieder auf Vordermann gebracht worden ist, denn seit Juli oder so hält er sich wieder in der Stadt auf.« »Jawoll«, stimmte Mike zu. »Er ist fast jeden Tag hier. Verbessert sozusagen die Atmosphäre. Labert praktisch jeden voll, der hier reinkommt, und hält ihnen seine kleine Predigt, wonach jede Frau, die eine Abtreibung durchführen läßt, in Schwefel vergehen wird, und daß die wirklichen Bösewichter wie Susan Day für alle Zeiten in einem See flüssigen Feuers brennen werden. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, weshalb er es auf Sie abgesehen hatte, Mr. Roberts.«

»Wie geht es Ihnen, Ralph?« fragte Leydecker. »Sie sehen blaß aus.«

»Mir geht es ausgezeichnet«, sagte Ralph, obwohl es ihm alles andere als ausgezeichnet ging; tatsächlich wurde ihm immer übler.

»Ob ausgezeichnet oder nicht, Sie haben auf jeden Fall Glück gehabt. Glück, daß diese Frauen Ihnen die Tränengasdose gegeben haben. Glück, daß Sie sie bei sich hatten. Und am meisten Glück, daß Pickering sich nicht einfach hinter Sie geschlichen und Ihnen das Messer bis zum Heft in den Hals gestoßen hat. Fühlen Sie sich kräftig genug, mit zum Revier zu kommen und eine offizielle Aussage zu machen, oder -«

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