»Nein«, keuchte er. »Nein. Ich werde nicht schreien.«
»Gut. Ich kann dein Herz spüren, weißt du. Durch die Messerklinge bis in die Handfläche. Es muß echt heftig schlagen.« Der Mann fletschte die Zähne zu einem ruckartigen, humorlosen Grinsen. Speichel klebte ihm in den Mundwinkeln. »Vielleicht kippst du einfach um und stirbst an einem Herzanfall, das würde mir die Mühe abnehmen, dich zu töten.« Ein weiterer übelkeiterregender Atemzug strich über Ralph hinweg. »Du bist schrecklich alt.«
Das Blut schien mittlerweile in zwei Strömen an seiner Seite hinabzufließen, vielleicht sogar dreien. Die Schmerzen des bohrenden Messers waren nervtötend - wie der Stachel einer riesigen Biene.
Oder einer Nadel, dachte Ralph und stellte fest, daß diese Vorstellung trotz seiner mißlichen Lage etwas Komisches hatte… oder vielleicht gerade deswegen. Das war der richtige Nadelpiekser; James Roy Hong konnte nur ein blasser Abklatsch davon sein.
Und ich hatte nie die Chance, meinen Termin abzusagen, dachte Ralph. Aber andererseits hatte er eine Ahnung, als würden Irre wie der Mann im Snoopy-Sweatshirt keine Absagen akzeptieren. Irre wie er hatten ihren eigenen Terminplan und hielten sich daran, was immer auch passieren mochte.
Wie auch immer, Ralph wußte, er würde die Messerspitze, die sich in ihn bohrte, nicht mehr lange ertragen können. Er hob mit dem Daumen die Klappe der Tasche hoch und schob die Hand hinein. Er wußte in dem Augenblick, als seine Hand ihn berührte, worum es sich bei dem Gegenstand handelte: die Spraydose, die Gretchen aus der Handtasche geholt und auf den Küchentisch gestellt hatte. Ein kleines Geschenk von Ihren dankbaren Freundinnen bei Woman-Care, hatte sie gesagt.
Ralph hatte keine Ahnung, wie sie von dem Küchenschrank, auf den er sie gestellt hatte, in die Tasche seiner abgeschabten alten Lederjacke gekommen war, und es war ihm auch egal. Er schloß die Hand darum und benutzte wieder den Daumen, diesmal, um den Deckel von der Dose herunterzuschnippen. Dabei ließ er das zuckende, ängstliche, erregte Gesicht des Mannes mit dem wirren Haar nicht aus den Augen.
»Ich weiß etwas«, sagte Ralph. »Wenn Sie mir versprechen, mich nicht zu töten, sage ich es Ihnen.«
»Was?« fragte der Mann mit dem wirren Haar begierig, und jetzt roch sein Atem wie Muschelbänke bei Ebbe. »Himmel Herrgott, was könnte ein Dreckskerl wie du schon wissen?«
Was könnte ein Dreckskerl wie ich schon wissen? fragte Ralph sich, und die Antwort fiel ihm auf der Stelle ein, sie schnellte in sein Gehirn wie die Jackpot-Symbole eines Spielautomaten. Er zwang sich dazu, sich in die grüne Aura des Mannes zu lehnen, in die schreckliche stinkende Wolke seiner nervösen Eingeweide. Gleichzeitig zog er die kleine Dose aus der Tasche, drückte sie an den Schenkel und legte den Zeigefinger auf den Knopf der Spraydüse.
»Ich weiß, wer der Scharlachrote König ist«, murmelte er.
Die Augen hinter der schmutzigen Hornbrille wurden groß nicht nur vor Überraschung, sondern vor Schrecken -, und der Mann mit dem wirren Haar wich ein kleines Stück zurück.
Einen Moment ließ der schreckliche Druck an Ralphs linker Seite nach. Das war seine Chance, die einzige, die er bekommen würde, und er nutzte sie, warf sich nach rechts, fiel vom Stuhl und stürzte zu Boden. Sein Hinterkopf schlug auf den Fliesen auf, aber der Schmerz war fern und unwichtig, verglichen mit der Erleichterung darüber, daß die Messerspitze nicht mehr da war.
Der Mann mit dem wirren Haar quiekte - ein Laut der Wut und Resignation, als hätte er sich im Lauf seines langen und schwierigen Lebens an Rückschläge gewöhnt. Er beugte sich über Ralphs jetzt leeren Stuhl, streckte das verzerrte Gesicht nach vorne, und seine Augen sahen aus wie die phantastischen, leuchtenden Kreaturen, die in den tiefsten Meeresgräben leben. Ralph hob die Spraydose und konnte nur einen Augenblick darüber nachdenken, daß er nicht wußte, in welche Richtung die Spraydüse zeigte - möglicherweise verpaßt er nur sich selbst einen Schwall Bodyguard.
Jetzt hatte er keine Zeit mehr, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er drückte das Ventil nieder, als der Mann mit dem wirren Haar gerade das Messer hob. Das Gesicht des Mannes wurde von einem Film winziger Tröpfchen eingehüllt, die aussahen, als kämen sie aus dem Luftfrischer mit Pinienduft, den Ralph auf dem Spülkasten der Toilette stehen hatte. Die Gläser seiner Brille beschlugen.
Das Ergebnis stellte sich sofort ein und erfüllte Ralphs kühnste Erwartungen. Der Mann mit dem wirren Haar schrie vor Schmerzen auf, ließ das Messer fallen (es landete auf Ralphs linkem Knie und blieb zwischen seinen Beinen liegen), griff nach seinem Gesicht und riß die Brille herunter. Die landete auf dem Tisch. Gleichzeitig leuchtete die dünne, irgendwie fettige Aura um ihn herum gleißend rot auf und erlosch, jedenfalls für Ralphs Wahrnehmung.
»Ich bin blind!« schrie der Mann mit dem wirren Haar mit hoher, schriller Stimme. »Ich bin Wind! Ich bin blind!«
»Nein, das sind Sie nicht«, sagte Ralph und stand zitternd auf. »Sie sind nur… «
Der Mann mit dem wirren Haar schrie wieder und fiel zu Boden. Er wälzte sich auf dem schwarzweiß gefliesten Boden, preßte die Hände auf das Gesicht und heulte wie ein Kind, das sich eine Hand in der Tür eingeklemmt hat. Ralph konnte kleine Partien seiner Wangen wie Kuchenstücke zwischen den gespreizten Fingern sehen. Die Haut dort nahm einen erschreckend roten Farbton an, als hätte der Mann mit dem wirren Haar zu lange am Strand gelegen und sich einen schlimmen Sonnenbrand geholt.
Ralph sagte sich, daß er den Mann in Ruhe lassen sollte, weil er vollkommen verrückt und gefährlich wie eine Klapperschlange war, aber er war zu erschrocken und schämte sich so sehr dafür, was er getan hatte, daß er diesem zweifellos ausgezeichneten Rat nicht folgte. Die Vorstellung einer Konfrontation auf Leben und Tod, den Angreifer kampfunfähig zu machen oder zu sterben, kam ihm bereits unwirklich vor. Er bückte sich und legte dem Mann zaghaft eine Hand auf den Arm. Der Irre rollte sich von ihm weg und trommelte mit den flachen Turnschuhen auf den Boden wie ein Kind, das einen Wutanfall hat. »Oh, du Hurensohn!« schrie er. »Du hast auf mich geschossen!« Und dann, unvorstellbarerweise: »Ich werde dich bis auf den letzten Cent verklagen!«
»Ich glaube, Sie werden erst mal das Messer erklären müssen, bevor Sie mit Ihrer Klage besonders weit kommen«, sagte Ralph. Er sah das Messer auf dem Boden liegen, streckte die Hand danach aus, besann sich dann aber eines Besseren. Es wäre besser, wenn seine Fingerabdrücke nicht daraufwaren. Als er sich aufrichtete, schlug eine Woge des Schwindelgefühls über ihm zusammen, und einen Moment hörte sich der Regen, der gegen die Fensterscheiben trommelte, hohl und fern an. Er kickte das Messer weg, dann richtete er sich auf und mußte sich an der Lehne des Stuhls festhalten, auf dem er gesessen hatte, damit er nicht umkippte.
Die Welt um ihn herum stabilisierte sich wieder. Er hörte Schritte aus der Eingangshalle näherkommen, dazu murmelnde, fragende Stimmen.
Jetzt kommt ihr, dachte Ralph resigniert. Wo seid ihr vor drei Minuten gewesen, als dieser Kerl kurz davor war, meinen linken Lungenflügel wie einen Ballon platzen zu lassen?
Mike Hanion, der schlank und trotz seines dichten grauen Haarschopfs nicht älter als dreißig aussah, erschien unter der Tür. Hinter ihm stand der Junge, in dem Ralph die Aushilfskraft für das Wochenende erkannte, und dahinter vier oder fünf Gaffer, wahrscheinlich aus dem Zeitschriftenlesesaal.
»Mr. Roberts!« rief Mike aus. »Herrgott, sind Sie schwer verletzt?«
»Mir geht es gut, er ist verletzt«, sagte Ralph. Aber als er auf den Mann am Boden zeigte und an sich heruntersah, stellte er fest, daß es ihm nicht gut ging. Sein Mantel war zurückgerutscht, und die ganze linke Seite seines karierten Hemds hatte eine dunkelrote Färbung angenommen, wie eine Träne geformt, die direkt unter der Achselhöhle anfing und sich von dort ausbreitete. »Scheiße«, sagte er leise und setzte sich wieder auf den Stuhl. Er stieß mit dem Ellbogen an die Hornbrille, die über den ganzen Tisch schlitterte. Mit den Tröpfchen auf den Gläsern sah sie wie ein Augenpaar aus, das der graue Star getrübt hatte.