Ralph ergriff Lois’ Arm und versuchte, selbst zu lächeln. Es fiel ihm schwer - er glaubte, daß er sich in seinem ganzen Leben noch nie so ängstlich und verwirrt gewesen war -, aber er versuchte es trotzdem.
[»Komm mit, Liebste. Gehen wir.«]
Ralph erinnerte sich, wie er gedacht hatte - als sie sich auf dem stillgelegten Gleis fortbewegten, das sie zuletzt zum Flughafen zurückgeführt hatte -, daß Gehen nicht der richtige Ausdruck für ihre Art von Fortbewegung war; es war mehr ein Gleiten gewesen. Sie bewegten sich auf dieselbe Weise vom Picknickplatz am Ende der Startbahn 3 zum Strawford Park zurück. Nur war das Gleiten jetzt schneller und ausgeprägter. Es war, als würden sie von einem unsichtbaren Förderband transportiert werden.
Er hörte versuchsweise einmal auf zu gehen. Die Häuser und Geschäftsfassaden glitten weiter vorbei. Er sah auf seine Füße hinunter, um ganz sicherzugehen, und tatsächlich, sie blieben völlig reglos. Es schien, als würde sich der Bürgersteig bewegen, nicht er.
Da kam Mr. Dugan, Leiter der Kreditabteilung der Derry Trust’s, in seinem üblichen dreiteiligen Anzug und der randlosen Brille. Wie immer sah er für Ralph wie der einzige Mann der Menschheitsgeschichte aus, der ohne Arschloch zur Welt gekommen war. Er hatte einmal Ralphs Antrag auf einen Ratenkredit abgelehnt, und Ralph vermutete, daß das ein Grund für seine negative Einstellung dem Mann gegenüber sein mochte. Jetzt sah er, daß Dugans Aura die stumpfe, graue Farbe der Flure in einem Militärkrankenhaus hatte, und Ralph überlegte sich, daß ihn das nicht sonderlich überraschte. Er hielt sich die Nase zu wie ein Mann, der gezwungen ist, durch einen verschmutzten Kanal zu schwimmen, und ging direkt durch den Banker hindurch. Dugan zuckte nicht einmal zusammen.
Das war irgendwie lustig, aber als Ralph Lois ansah, verflog seine Heiterkeit schlagartig. Er sah ihren besorgten Gesichtsausdruck und die Fragen, die sie stellen wollte. Fragen, auf die er keine zufriedenstellenden Antworten hatte.
Vor ihnen lag der Strawford Park. Vor Ralphs Augen gingen plötzlich die Straßenlampen an. Der kleine Spielplatz, wo er und McGovern - oft in Gesellschaft von Lois - den Kindern beim Spielen zugesehen hatten, war fast verlassen. Zwei Kids der Junior High saßen nebeneinander auf den Schaukeln, rauchten Zigaretten und unterhielten sich, aber die Mütter und Kleinkinder, die tagsüber hierher kamen, waren alle fort.
Ralph dachte an McGovern - an sein unablässiges morbides Geschwätz und sein Selbstmitleid, die einem kaum auffielen, wenn man ihn kennenlernte, aber allgegenwärtig schienen, wenn man länger mit ihm zusammen war, allerdings durch seinen respektlosen Witz und seine überraschenden, impulsiven Freundlichkeiten gemildert und in etwas Besseres verwandelt wurden - und spürte, wie ihn eine tiefe Traurigkeit überkam. Kurzfristige waren vielleicht Sternenstaub, und sie waren vielleicht golden, aber wenn sie fort waren, dann waren sie fort, genau wie die Mütter und Babys, die an sonnigen Sommernachmittagen für kurze Zeit zum Spielen hierher kamen.
[»Ralph, was machen wir hier? Das Leichentuch ist über dem Bürgerzentrum, nicht über dem Strawford Park!«]
Ralph führte sie zu der Parkbank, wo er sie vor mehreren Jahrhunderten gefunden hatte, als sie wegen eines Streits mit ihrem Sohn und ihrer Tochter weinte… und wegen ihrer verlorenen Ohrringe. Unten am Hügel glänzten die beiden Port-O-Sans in der zunehmenden Dämmerung.
Ralph machte die Augen zu. Ich werde verrückt, dachte er, und ich bin mit dem Schnellzug dorthin unterwegs, nicht mit der Bummelbahn. Was wird es sein? Die Dame… oder der Tiger?
[»Ralph, wir müssen etwas tun. Die Menschen… Tausende von Menschen…«]
In der Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern sah Ralph jemanden aus dem Red Apple kommen. Eine Gestalt in dunklen Kordhosen und einer Red-Sox-Mütze. Gleich würde das Schickliche wieder seinen Lauf nehmen, und weil Ralph es nicht sehen wollte, schlug er die Augen auf und betrachtete die Frau neben sich.
[»Jedes Menschenleben ist wichtig, Lois, würdest du das nicht auch sagen? Jedes einzelne.«
Er wußte nicht, was sie in seiner Aura sah, aber es bereitete ihr eindeutig Todesängste.
[»Was ist da unten passiert, nachdem ich gegangen bin? Was hat er dir gesagt oder getan? Sag es mir, Ralph! Sag es mir!«]
Was sollte es sein? Eine oder viele? Die Dame oder der Tiger? Wenn er nicht bald handelte, würde ihm die Entscheidung einfach von der verrinnenden Zeit aus der Hand genommen werden. Also was? Was?
»Keines… oder beides«, sagte er heiser und merkte in seiner schrecklichen Zwickmühle gar nicht, daß er es laut und auf mehreren Ebenen gleichzeitig aussprach. »Ich werde mich nicht so oder so entscheiden. Niemals. Habt ihr gehört?«
Er sprang von der Bank auf und sah wild um sich.
»Habt ihr mich gehört?« schrie er. »Ich lehne die Entscheidung ab! Entweder BEIDES oder KEINS VON BEIDEM!«
Auf einem der Wege nördlich von ihnen sah ein Penner auf, der nach Pfandflaschen und -dosen gesucht hatte, warf einen Blick auf Ralph und suchte das Weite. Er hatte einen Mann gesehen, der in Flammen zu stehen schien.
Lois stand auf und nahm sein Gesicht zwischen die Hände.
[»Ralph, was ist denn? Wer ist es? Ich? Du? Denn wenn ich es bin, wenn du dich wegen mir zurückhältst, möchte ich nicht -«]
Er holte tief und schwer Luft, dann berührte er ihre Stirn mit seiner und sah ihr in die Augen.
[»Du bist es nicht, Lois, und ich auch nicht. Wäre es einer von uns, könnte ich mich vielleicht entscheiden. Aber wir sind es nicht, und der Teufel soll mich holen, wenn ich weiter ein Bauer auf dem Schachbrett sein will.«]
Er riß sich los und ging einen Schritt von ihr weg. Seine Aura loderte so grell auf, daß sie die Hand vor die Augen halten mußte; es war, als würde er irgendwie explodieren. Und als er die Stimme erhob, hallte sie wie Donner in ihrem Kopf.
[»KLOTHO! LACHESIS! KOMMT ZU MIR, VERDAMMT, UND ZWAR SOFORT!«]
Er ging zwei oder drei Schritte weiter und sah bergab. Die beiden Jungs von der Junior High, die auf den Schaukeln saßen, sahen mit denselben ängstlichen Mienen zu ihm auf. Sie flohen in dem Moment, als Ralphs Blick auf sie fiel, flohen aufgeschreckt wie zwei Rehe zu den Lichtern der Witcham Street und ließen die schwelenden Zigaretten in den Fußspuren unter den Schaukeln zurück.
[»KLOTHO! LACHESIS!«]
Er brannte wie ein elektrischer Lichtbogen, und plötzlich floß sämtliche Kraft wie Wasser aus Lois’ Beinen heraus. Sie wich einen Schritt zurück und ließ sich auf die Parkbank fallen. Ihre Gedanken kreisten in ihrem Kopf, ihr Herz schlug rasend schnell, und unter allem lag diese grenzenlose Erschöpfung. Ralph sah sie als gesunkenes Schiff; Lois sah sie als Grube, um die sie in einer immer engeren Spirale gehen mußte, eine Grube, in die sie am Ende fallen würde.
[»KLOTHO! LACHESIS! EURE LETZTE CHANCE! DAS IST MEIN ERNST!«]
Einen Augenblick tat sich gar nichts, dann gingen die Türen der Port-O-Sans unten am Hügel in perfektem Einklang auf. Klotho kam aus der mit der Aufschrift MÄNNER, Lachesis aus der mit der Aufschrift FRAUEN. Ihre Auren, gleißend grüngolden wie Libellen im Sommer, schimmerten im äschernen Licht des frühen Abends. Sie rückten zusammen, bis ihre Auren sich überlappten, dann kamen sie langsam bergauf, während ihre weißgekleideten Schultern sich fast berührten. Sie sahen wie zwei ängstliche Kinder aus.
Ralph drehte sich zu Lois um. Seine Aura loderte immer noch. [»Bleib hier.«]
[»Ja, Ralph.«]
Sie ließ ihn fast den Hügel hinuntergehen, dann nahm sie allen Mut zusammen und sprach ihn an.
[»Aber ich werde versuchen, Ed aufzuhalten, wenn du es nicht tust. Das ist mein Ernst.«]
Selbstverständlich, und ihre Tapferkeit rührte ihm das Herz… aber sie wußte nicht, was er wußte. Hatte nicht gesehen, was er gesehen hatte.
Er sah einen Moment zu ihr, dann ging er zu den beiden kleinen kahlköpfigen Ärzten, die ihn mit ihren leuchtenden, ängstlichen Augen betrachteten.