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[»Komm mit, Lois. Wir müssen uns beeilen.«]

[»Gehen wir ins Bürgerzentrum zurück?«]

[»Nein, nicht gleich. Ich glaube, vorher müssen wir -«]

Ralph stellte fest, daß er es einfach nicht erwarten konnte, zu hören, was er zu sagen hatte. Wohin mußten sie seiner Meinung nach vorher? Ins Derry Home zurück? Ins Red Apple? Sein Haus? Wohin ging man, wenn man zwei wohlmeinende, aber alles andere als allwissende Burschen suchte, die einen selbst und seine engsten Freunde in eine Welt voller Schmerzen und Sorgen gestürzt hatten? Oder konnte man davon ausgehen, daß sie einen fanden?

Vielleicht wollen sie dich nicht finden, mein Lieber. Möglicherweise verstecken sie sich sogar vor dir.

[»Ralph, bist du sicher, daß du -«]

Plötzlich dachte er an Rosalie und wußte es.

[»Der Park, Lois. Strawford Park. Dorthin müssen wir. Aber unterwegs müssen wir noch einmal haltmachen.«]

Er führte sie am Sturmzaun entlang, und wenig später hörten sie das träge Murmeln verschiedener Stimmen. Ralph konnte gegrillte Hot Dogs riechen, und nach dem Gestank von Atropos’ Bau kam ihm der Duft wie Ambrosia vor. Eine oder zwei Minuten später gelangten er und Lois an den Rand des kleinen Picknickgeländes in der Nähe der Startbahn 3.

Dorrance stand in seiner erstaunlichen vielfarbigen Aura dort und beobachtete ein Kleinflugzeug, das sich der Landebahn näherte. Hinter ihm saßen Faye Chapin und Don Veazie mit einem Schachbrett zwischen sich und einer halbvollen Flasche Blue Nun griffbereit an einem der Picknicktische. Stan und Georgina Eberly tranken Bier und schwenkten Gabeln mit aufgespießten Hot Dogs in der flimmernden Hitze - für Ralph hatte dieses Flimmern einen seltsam trockenen rosa Farbton, wie korallenfarbener Sand - über einem der Grillplätze des Picknickgeländes.

Einen Augenblick stand Ralph nur, wo er war, wie vom Donner gerührt von ihrer Schönheit - die vergängliche, außerordentliche Schönheit, die, vermutete er, das Wesentliche im Leben der Kurzfristigen bildete. Ein Stück aus einem mindestens fünfundzwanzig Jahre alten Lied fiel ihm ein: We are stardust, we are golden. Dorrance’ Aura war anders - auf sagenhafte Weise anders -, aber selbst die prosaischste Aura von den anderen funkelte wie seltene und unendlich kostbare Edelsteine.

[»O Ralph, siehst du es? Siehst du, wie wunderschön sie sind?«]

[»Ja.«]

[»Jammerschade, daß sie es nicht wissen.«]

Stimmte das? Im Licht der jüngsten Ereignisse war Ralph da nicht mehr so sicher. Und er hatte eine Ahnung - eine undeutliche, aber ausgeprägte Intuition, die er niemals in Worte hätte fassen können -, daß wahre Schönheit etwas war, das das bewußte Selbst gar nicht erkannte, ein ständig im Entstehen begriffenes Kunstwerk, etwas, das mehr Sein als Sehen war.

»Los doch, Dummkopf, mach deinen Zug«, sagte eine Stimme. Ralph wirbelte herum, weil er zuerst dachte, die Stimme hätte ihn angesprochen, aber es war Faye, der sich mit Don Veazie unterhielt. »Du bist eine lahme Ente.«

»Hör auf«, sagte Don. »Ich denke nach.«

»Du kannst nachdenken, bis die Hölle zufriert, und bist trotzdem in sechs Zügen matt.«

Don goß etwas Wein in einen Pappbecher und verdrehte die Augen. »Pest und Hölle!« rief er. »Ich hab nicht gewußt, daß ich gegen Boris Spasski Schach spiele! Ich dachte, es wäre nur der gute alte Faye Chapin! Ich wälze mich vor dir im Staub!«

»Echt Klasse, Don. Mit der Show könntest du auf Tournee gehen und eine Million Dollar verdienen. Und du mußt nicht einmal lange warten - noch sechs Züge, und du kannst aufbrechen.«

»Was für ein Klugscheißer«, sagte Don. »Du weißt einfach nicht, wann du -«

»Pssst!« sagte Georgina Eberly schneidend. »Was war das? Hat sich angehört, als wäre was explodiert!«

»Das« war Lois, die eine regenwaldgrüne Flut aus Georginas Aura saugte.

Ralph hob die rechte Hand, krümmte sie zu einer Röhre um die Lippen und inhalierte einen ähnlichen blauen Strom aus der Aura von Stan Eberly. Er spürte auf der Stelle, wie ihn frische Energie erfüllte; es war, als wären Neonröhren in seinem Gehirn eingeschaltet worden. Aber das gewaltige versunkene Schiff, bei dem es sich überwiegend um vier Monate weitgehend schlafloser Nächte handelte, war immer noch da und versuchte, ihn dorthin hinunterzuziehen, wo es lag.

Und auch die Entscheidung war noch da - sie war weder so noch so getroffen worden, sondern nur aufgeschoben.

Stan sah sich ebenfalls um. So viel Ralph auch von seiner Aura nahm (und ihm kam es so vor, als hätte er eine gewaltige Menge genommen), die Quelle blieb so hell strahlend wie immer. Offenbar entsprach alles, was sie über die fast endlosen Energievorräte eines jeden menschlichen Wesens erfahren hatten, der Wahrheit.

»Nun«, sagte Stan, »ich hab auch was gehört -«

»Ich nicht«, sagte Faye.

»Logisch, du bist ja auch eine taube Nuß«, antwortete Stan. »Hör auf, einen ständig zu unterbrechen, ja? Ich wollte sagen, es war kein Treibstofftank, weil kein Feuer und kein Rauch zu sehen sind. Kann auch nicht sein, daß Don gefurzt hat, weil keine toten Eichhörnchen mit versengtem Fell von den Bäumen fallen. Muß eine Fehlzündung von einem der großen Lastwagen der Air National Guard gewesen sein. Keine Bange, Liebling. Ich werd dich beschützen.«

»Beschütz das da«, sagte Georgina, schlug eine Hand in die Ellbogenbeuge und ballte die Faust in seine Richtung. Aber sie lächelte dabei.

»O Mann«, sagte Faye, »seht euch mal den alten Dor an.«

Sie sahen alle zu Dorrance, der lächelte und n Richtung der Harris Avenue Extension winkte.

»Wen siehst du denn da, altes Haus?« fragte ihn Don Veazie grinsend.

»Ralph und Lois«, sagte Dorrance und lächelte strahlend. »Ich sehe Ralph und Lois. Sie sind gerade unter dem alten Baum hervorgekommen!«

»Klar«, sagte Stan. Er schirmte die Augen ab, dann zeigte er direkt auf sie. Das jagte einen Stromschlag durch Ralphs Nervensystem, der erst abflaute, als ihm klar wurde, daß Stan nur auf die Stelle zeigte, wohin Dorrance winkte. »Und seht doch! Elvis und Glenn Miller kommen gleich hinter ihnen! Gottverdammt!«

Georgina stieß mit dem Ellbogen nach ihm, und Stan wich grinsend einen Schritt zur Seite.

[»Hallo, Ralph! Hallo, Lois!«]

[»Dorrance! Wir gehen zum Strawford Park? Ist das richtig?«]

Dorrance, glücklich grinsend: [»Weiß nicht. Das sind jetzt alles langfristige Angelegenheiten, und ich bin fertig damit. Ich geh bald nach Hause und lese Walt Whitman. Es wird eine stürmische Nacht werden, und Walt Whitman ist immer am besten, wenn der Wind weht.«]

Lois, beinahe hysterisch: [»Dorrance, hilf uns!«]

Dors Grinser verlosch, und er sah sie ernst an.

[»Ich kann nicht. Es wurde mir aus den Händen genommen. Was getan werden muß, müssen du und Ralph jetzt tun.«]

»Bäh«, sagte Georgina. »Ich hasse es, wenn er so glotzt. Man könnte fast meinen, daß er wirklich jemanden sieht.« Sie griff nach der Grillgabel mit dem langen Stiel und grillte ihren Hot Dog weiter. »Übrigens, hat jemand Ralph und Lois gesehen?«

»Nein«, sagte Don.

»Die haben sich mit einem Kasten Bier und einer Flasche Johnson’s Babyöl in einem der Stundenhotels an der Küste verbarrikadiert«, sagte Stan. »Einer großen Flasche. Das hab ich euch gestern schon gesagt.«

»Schmutziger alter Mann«, sagte Georgina, die ihre Ellbogengeste diesmal nachdrücklicher und akkurater ausführte.

Ralph: [»Dorrance, kannst du uns überhaupt keine Hilfe geben? Uns wenigstens sagen, ob wir auf der richtigen Spur sind?«]

Einen Augenblick war er überzeugt, daß Dor antworten würde. Dann ertönte ein summendes Dröhnen am Himmel, das langsam näherkam, und der alte Mann sah auf. Sein strahlendes, wunderschönes Lächeln tauchte wieder auf. »Seht!« rief er. »Eine alte Grauman Yellow Bird! Was für ein toller Vogel!« Er lief zum Maschendrahtzaun, um die Landung der kleinen gelben Maschine zu verfolgen, und drehte ihnen den Rücken zu.

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