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[»Wohin weitergeschickt?«]

Lois hatte die Frage gestellt und schnitt damit die delikate Frage des Lebens nach dem Tod fast versehentlich an. Ralph griff nach seinem geistigen Sicherheitsgurt und hoffte fast auf einen dieser eigentümlichen leeren Zwischenräume, aber als ihre einander überlappenden Antworten ertönten, waren sie völlig deutlich.

Klotho: [Nach überallhin.]

Lachesis: [In andere Welten als diese.]

Ralph verspürte eine Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung.

[»Das klingt sehr poetisch, aber ich glaube, es bedeutet -verbessern Sie mich, wenn ich mich irre -, daß das Leben nach dem Tod für Sie ebenso ein Geheimnis ist wie für uns.«]

Lachesis, der sich ein wenig verschnupft anhörte: [Ein andermal haben wir vielleicht Gelegenheit, uns über so etwas zu unterhalten, aber jetzt nicht - wie ihr beiden sicherlich schon festgestellt habt, vergeht die Zeit schneller auf diesem Stockwerk des Gebäudes.]

Ralph sah sich um und stellte fest, daß der Morgen schon deutlich heller geworden war.

[»Tut mir leid.«]

Klotho, lächelnd: [Nicht nötig - wir genießen eure Fragen und finden sie erfrischend. Neugier existiert allerorten im Kontinuum des Lebens, aber nirgendwo in einem solchen Übermaß wie hier. Doch was ihr das Leben nach dem Tod nennt, hat keinen Platz invden vier Konstanten - Leben, Tod, dem Plan und dem Zufall -, die uns betreffen.

Der Verlauf eines jeden Todes, der dem Plan dient, nimmt einen Gang, mit dem wir vertraut sind. Die Auren derjenigen, die einen planmäßigen, vorherbestimmten Tod sterben, werden grau, wenn das Ende näherrückt. Dieses Grau geht konstant in Schwarz über. Wir werden gerufen, wenn die Aura und wir kommen genau so, wie ihr uns in der letzten Nacht gesehen habt. Wir erlösen die Leidenden, besänftigen die Ängstlichen und geben den Ruhelosen Ruhe. Die meisten planmäßig bestimmten Tode werden erwartet, fast herbeigesehnt, aber nicht alle. Manchmal werden wir gerufen, um Männer, Frauen und Kinder zu holen, die sich bester Gesundheit erfreuen… doch ihre Auren verfärben sich plötzlich, und ihre Zeit ist gekommen.]

Ralph dachte an den jungen Mann in der ärmellosen Red Sox Jacke, den er am Dienstag nachmittag ins Red Apple hatte gehen sehen. Er hatte ein Bild von Jugend und Vitalität gesehen… abgesehen von dem geisterhaften Ölfilm, der ihn umgeben hatte.

Ralph machte den Mund auf, um eventuell diesen jungen Mann zu erwähnen (oder nach seinem Schicksal zu fragen), dann schloß er ihn wieder. Die Sonne stand jetzt direkt über ihm, und plötzlich erfüllte ihn eine bizarre Gewißheit - daß er und Lois zum Thema lüsterner Diskussionen in der heimlichen Stadt der Altvorderen geworden waren.

Hat sie jemand gesehen?… Nein?…Ob sie zusammen durchgebrannt sind?… Nee, nicht in ihrem Alter, aber vielleicht liegen sie in der Falle…Ich weiß nicht, ob Ralphie noch Munition in seiner alten Patronenschachtel hat, aber für mich hat sie immer wie ein heißer Feger ausgesehen…Ja, sie geht so, als wüßte sie, was man damit anstellt, was?

Das Bild seiner übergroßen Rostlaube fiel ihm ein, die geduldig hinter einem der efeubewachsenen Bungalows der Derry Cabins wartete, während im Inneren die Bettfedern obszön boingten und zoingten, und er grinste. Er konnte nicht anders. Einen Augenblick später kam ihm die erschreckende Erkenntnis, daß er seine Gedanken möglicherweise durch seine Aura übermittelte, und er schlug hastig die Tür vor diesem Bild zu. Aber sah Lois ihn nicht bereits mit einer gewissem amüsierten Gesichtsausdruck an?

Ralph richtete seine Aufmerksamkeit hastig auf Klotho.

[Atropos dient dem Zufall. Nicht jeder Todesfall, den die Kurzfristigen »sinnlos« oder »unnötig« oder »tragisch« nennen, ist sein Werk, aber die meisten. Wenn ein Dutzend alte Männer und Frauen bei einem Brand in einem Altersheim ums Leben kommen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, daß Atropos dort gewesen ist, Souvenirs mitgenommen und Ballonschnüre durchgeschnitten hat. Wenn ein Kind ohne ersichtlichen Grund in der Wiege stirbt, sind Atropos und sein rostiges Skalpell in den meisten Fällen dafür verantwortlich. Wenn ein Hund -ja, sogar ein Hund, denn das Schicksal fast aller lebenden Geschöpfe in der Welt der Kurzfristigen fällt in die Zuständigkeit des Plans oder des Zufalls - auf der Straße überfahren wird, weil der Fahrer sich den fälschen Moment ausgesucht hat, um auf die Uhr zu sehen -]

Lois: [»Ist das mit Rosalie passiert?«]

Klotho: [Atropos ist mit Rosalie passiert. Ralphs Freund Joe Wyzer hat lediglich, wie wir sagen, »die Umstände erfüllt«.]

Lachesis: [Und Atropos ist auch Ihrem Freund zugestoßen, dem verstorbenen Mr. McGovern.]

Lois sah aus, wie Ralph sich fühlte: Betroffen, aber eigentlich nicht überrascht. Es war jetzt Spätnachmittag, möglicherweise waren achtzehn Stunden nach Zeitrechnung der Kurzfristigen vergangen, seit sie Bill zum letztenmal gesehen hatten, und schon da hatte Ralph gewußt, daß dem Mann äußerst wenig Zeit blieb. Lois, die ungewollt die Hand in ihn gesteckt hatte, hatte es noch besser gewußt.

Ralph: [»Wann ist es passiert? Wie lange nachdem wir ihn gesehenhatten?«]

Lachesis: [Nicht lange. Als er das Krankenhaus verließ. Es tut mir leid um euren Verlust, und auch, weil wir euch die Neuigkeit auf so grobe Weise überbringen. Wir unterhalten uns so selten mit Kurzfristigen, daß wir nicht wissen, wie man es anstellt. Wir wollten euch nicht wehtun, Ralph und Lois.]

Lois sagte ihm, es wäre schon gut, sie verstünden schon, aber Tränen liefen an ihren Wangen hinab, und Ralph spürte, wie sie in seinen Augen brannten. Der Gedanke, daß Bill nicht mehr war - daß der kleine Scheißkerl im schmutzigen Kittel ihn erwischt hatte -, war schwer zu begreifen. Sollte er wirklich glauben, daß McGovern nie wieder sardonisch die Augenbraue hochziehen würde? Nie wieder jammern würde, wie beschissen es war, alt zu werden? Unmöglich. Er drehte sich unvermittelt zu Klotho um.

[»Zeigen Sie es uns.«]

Klotho, überrascht, fast bibbernd: [Ich… ich glaube nicht -]

Ralph: [»Für uns kurzfristige Pimpfe heißt sehen glauben. Habt ihr Jungs das nie gehört?«]

Lois ergriff unerwartet das Wort.

[»Ja - zeigt es uns. Aber nur soviel, daß wir es wissen und akzeptieren können. Versucht nicht, uns deprimierter zu machen, als wir schon sind.«]

Klotho und Lachesis sahen einander an, dann schienen sie die Achseln zu zucken, ohne die winzigen Schultern tatsächlich zubewegen. Lachesis schnippte mit den beiden ersten Fingern seiner rechten Hand und schuf ein fächerförmiges, blaugrünes Pfauenrad aus Licht. Darin sah Ralph eine winzige, unheimlich perfekte Abbildung der Intensivstation im zweiten Stock. Eine Schwester, die einen Rollwagen mit Medikamenten schob, trat in den Fächer und durchquerte ihn. Am anderen Ende des Bildausschnitts schien sie tatsächlich ein wenig verzerrt zu werden, bevor sie aus dem Bild verschwand.

Lois, trotz der Umstände aufgeregt: [»Es ist, als würde man einen Film in einer Seifenblase sehen!«]

Jetzt kamen McGovern und Mr. Pflaume aus Bob Polhursts Zimmer. McGovern hatte einen alten Pullover mit den Buchstaben der Derry High School angezogen, und sein Freund machte gerade den Reißverschluß seiner Jacke zu; sie gaben die Totenwache für diese Nacht eindeutig auf. McGovern ging langsam und blieb hinter Mr. Pflaume zurück. Ralph konnte sehen, daß sein Untermieter ganz und gar nicht gut aussah.

Er spürte, wie Lois ihm die Hand auf den Unterarm legte und fest zudrückte.

Auf halbem Weg zum Fahrstuhl blieb McGovern stehen, stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und senkte den Kopf. Er sah wie ein völlig kaputter Läufer am Ende eines Marathonlaufs aus. Einen Augenblick ging Mr. Pflaume weiter. Ralph sah, wie er den Mund bewegte, und dachte: Er weiß noch nicht, daß er ins Leere spricht -jedenfalls noch nicht.

Plötzlich wollte Ralph nicht mehr sehen.

In dem blau-grünen Fächer hielt sich McGovern eine Hand an die Brust. Die andere griff an den Hals und fing an zu reiben, als würde er nach Wülsten suchen. Ralph konnte es nicht mit Sicherheit sagen, glaubte aber, daß sein Hausgenosse ängstlich aussah. Er mußte an die haßerfüllte verzerrte Miene von Doc Nr. 3 denken, als ihm klar geworden war, daß ein Kurzfristiger sich erdreistet hatte, sich in das Geschäft einzumischen, das er mit einem streunenden Hund aus der Gegend zu erledigen hatte. Was hatte er gesagt?

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