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[»Kann ich Ihre Hand jetzt loslassen?«]

Lachesis nickte und ließ seinerseits Ralphs Hand los. Klotho gab Lois’ Hand frei. Ralph sah über die Stadt hinweg nach Westen zu den pulsierenden blauen Startbahnlichtern des Flughafens. Dahinter konnte er das Gitter orangefarbener Natriumdampflampen von Cape Green erkennen, einer der Neubausiedlungen jenseits der Barrens. Und irgendwo inmitten der Lichter östlich des Flughafens lag die Harris Avenue.

[»Es ist wunderschön, nicht wahr, Ralph?«]

Er nickte und überlegte sich, hier zu stehen und die nächtliche Stadt in der Dunkelheit zu sehen, machte alles wieder wett, was er seit Anfang der Schlaflosigkeit hatte erleiden müssen. Alles und noch viel mehr. Aber das war ein Gedanke, dem er nicht uneingeschränkt vertraute.

Er drehte sich zu Lachesis und Klotho um.

[»Na gut, erklärt uns alles. Wer seid ihr, wer ist er, und was wollt ihr von uns?«]

Die beiden kahlköpfigen Ärzte standen zwischen zwei schnell kreisenden Heizungsventilatoren, die braun-purpurne Abgase in die Luft entließen. Sie sahen einander nervös an, und Lachesis nickte Klotho fast unmerklich zu. Klotho machte einen Schritt nach vorne, sah von Ralph zu Lois und schien seine Gedanken zu ordnen.

[Nun gut. Zuerst müßt ihr einsehen, daß die Geschehnisse im Augenblick zwar unerwartet und beunruhigend, aber keineswegs unnatürlich sind. Mein Kollege und ich tun das, wofür wir geschaffen wurden; Atropos tut das, wofür er geschaffen wurde; und ihr, meine kurzfristigen Freunde, werdet das tun, wofür ihr geschaffen worden seid.]

Ralph bedachte ihn mit einem strahlenden, bitteren Lächeln.

[»Ich schätze, damit ist es aus mit der freien Entscheidung.«]

Lachesis: [So dürft ihr nicht denken! Es ist einfach so, was ihr freie Entscheidung nennt, das nennen wir Ka, das große Rad das Daseins.]

Lois: [»Wir sehen durch ein dunkles Glas… meinen Sie das damit?«]

Klotho, der sein irgendwie jungenhaftes Lächeln sehen ließ: [Die Bibel, soweit ich weiß. Und eine sehr gute Art, es zu beschreiben.]

Ralph: [»Und ziemlich bequem für Jungs wie euch. Aber lassen wir das vorerst. Bei uns gib es noch eine Maxime, die nicht in der Bibel steht, aber trotzdem ziemlich gut ist: Hüte dich vor Schönfärberei. Ich hoffe, Sie vergessen das nicht.«]

Aber Ralph hatte den Verdacht, als wäre das ein bißchen viel verlangt.

Danach ergriff Klotho das Wort und redete lange Zeit. Ralph hatte keine Ahnung, wie lange genau, denn auf dieser Ebene verlief die Zeit anders - irgendwie komprimiert. Manchmal drückte er das, was er sagte, gar nicht mit Worten aus; verbale Ausdrücke wurden durch einfache helle Bilder wie die in leichten Bilderrätseln für Kinder ersetzt. Ralph vermutete, daß es sich dabei um Telepathie handelte, ein an sich erstaunliches Phänomen, aber während es passierte, kam es ihm so natürlich wie das Atmen vor.

Manchmal blieben Worte wie Bilder auf der Strecke und wurden von rätselhaften Pausen in der Kommunikation unterbrochen. Dennoch gelang es Ralph auch dann meistens, eine Vorstellung davon zu bekommen, was Klotho vermitteln wollte, und er hatte eine Ahnung, daß Lois noch deutlicher als er selbst begriff, was in diesen Unterbrechungen verborgen blieb.

[Zuerst müßt ihr wissen, daß es nur vier Konstanten auf der Existenzebene gibt, wo eure Leben und unsere, die Leben der Langfristigen sich überlappen. Diese vier Konstanten sind Leben, Tod, der Plan und der Zufall. Diese Worte haben alle einen Sinn für euch, aber jetzt habt ihr eine etwas andere Vorstellung von Leben und Tod, oder nicht?]

Ralph und Lois nickten zögernd.

[Lachesis und ich sind die Agenten des Todes. Damit sind wir für die meisten Kurzfristigen Gestalten des Grauens; selbst diejenigen, die so tun, als akzeptierten sie uns und unsere Funktion, haben normalerweise Angst. Auf Bildern werden wir manchmal als furchterregendes Skelett oder als Gestalt mit Kapuze abgebildet, deren Gesicht man nicht sehen kann.]

Klotho legte die winzigen Hände auf seine weißgewandeten Schultern und schützte ein Erschauern vor. Die burleske Darstellung gelang ihm so gut, daß Ralph grinsen mußte.

[Aber wir sind nicht nur Agenten des Todes, Ralph und Lois; wir sind auch Agenten des Plans. Und nun müßt ihr genau zuhören, damit ihr mich nicht mißversteht. Unter euresgleichen gibt es welche, die der Meinung sind, alles ist vorherbestimmt, und es gibt welche, die alle Ereignisse einfach für Schicksal oder Zufall halten. In Wahrheit besteht das Leben aus Plan und Zufall, wenn auch nicht zu gleichen Teilen. Das Leben ist wie]

Hier bildete Klotho einen Kreis mit den Armen, wie ein kleines Kind, das so tut, als würde es die Form der Erde zeigen, und in diesem Kreis sah Ralph ein brillantes und vielsagendes Bild: Tausende (möglicherweise auch Millionen) Spielkarten, die zu einem flackernden Regenbogen aus Herz und Pik und Karo und Kreuz aufgefächert waren. Außerdem sah er eine große Menge Joker in diesem Blatt; nicht so viele, daß sie eine eigene Farbe ergeben hätten, aber proportional gesehen eindeutig mehr als die zwei oder drei, die man in einem gewöhnlichen Kartenspiel fand. Alle Joker grinsten, und alle trugen einen fadenscheinigen Panama, aus dessen Krempe ein Stück herausgebissen war.

Und jeder hatte ein rostiges Skalpell.

Ralph sah Klotho mit großen Augen an. Klotho nickte.

[Ja. Ich weiß nicht genau, was genau Sie gesehen haben, aber ich weiß, Sie haben das gesehen, was ich darzustellen versuche. Lois? Was ist mit Ihnen?]

Lois, die für ihr Leben gern Karten spielte, nickte blaß.

[»Atropos ist der Joker im Spiel - das haben Sie gemeint.«]

[Er ist ein Agent des Zufalls. Wir, Lachesis und ich, dienen der anderen Macht, die für die meisten Ereignisse im individuellen Leben und im breiteren Strom aller Leben verantwortlich ist. Auf eurer Etage des Gebäudes, Ralph und Lois, ist jedes Lebewesen ein kurzfristiges Lebewesen mit einer vorherbestimmten Lebensspanne. Das soll nicht heißen, daß ein Kind aus dem Schoß seiner Mutter kommt und ein Schild um den Hals trägt, auf dem steht: BALLONSCHNUR DURCHSCHNEIDEN NACH 84 JAHREN, 2 MONATEN, 9 TAGEN, 6 STUNDEN, 4 MINUTEN UND 2 SEKUNDEN. Diese Vorstellung wäre lächerlich. Aber Zeiträume sind normalerweise festgelegt, und wie ihr beide gesehen habt, dient die Aura der Kurzfristigen unter anderem als Uhr.]

Lois bewegte sich, und als Ralph sich zu ihr umdrehte, fiel ihm etwas Erstaunliches auf: Der Himmel über ihnen wurde blasser. Er schätzte, daß es fünf Uhr morgens sein mußte. Sie waren Dienstag abend gegen neun Uhr im Krankenhaus eingetroffen, und jetzt schrieb man auf einmal Mittwoch, den 6. Oktober. Ralph kannte den Ausdruck, daß die Zeit verflog, aber dies war lächerlich.

Lois: [»Ihre Aufgabe ist das, was wir einen natürlichen Tod nennen, richtig?«]

Verwirrte, unvollständige Bilder flimmerten in ihrer Aura. Ein Mann (der verstorbene Mr. Chasse, da war Ralph ganz sicher), der in einem Sauerstoffzelt lag. Jimmy V., der die Augen aufschlug und Ralph und Lois in dem Moment ansah, bevor Klotho seine Ballonschnur durchschnitt. Die Todesanzeigen der Derry News, voll mit Fotos, die meisten nicht größer als Briefmarken, von der wöchentlichen Ernte in den städtischen Krankenhäusern und Altenheimen.

Klotho und Lachesis schüttelten beide den Kopf.

Lachesis: [Eigentlich gibt es keinen natürlichen Tod. Unsere Aufgabe ist ein planmäßiger Tod. Wir holen die Alten und Kranken, aber wir holen auch andere. Erst gestern haben wir zum Beispiel einen jungen Mann von achtundzwanzig Jahren geholt. Einen Zimmermann. Vor zwei Wochen ist er vom Gerüst gefallen und hat sich den Schädel gebrochen. In diesen zwei Wochen war seine Aura]

Ralph sah das zertrümmerte Bild der Aura eines Behinderten, ähnlich der des Babys aus dem Fahrstuhl.

Klotho: [Dann kam die Wende - die Veränderung der Aura. Wir wußten, sie würde kommen, aber nicht, wann sie kommen würde. Als es soweit war, sind wir zu ihm gegangen und haben ihn weitergeschickt.]

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