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Alle halfen, das Haus aufzurдumen. Petrus brachte Michel und Ilona nach Hause, war aber bald wieder zurьck.

»Schluss mit der Feier«, sagte er.

Niemand antwortete ihm.

Eva sammelte gerade die Pappbecher ein, die ьberall herumlagen, als ihr Vater kam.

»Sehr frцhlich seht ihr ja nicht aus«, sagte er.

Eva fing an zu weinen. »Hat dir jemand etwas ge­tan?«, fragte der Vater. Er sah groЯ und stark aus und sehr besorgt. Eva lehnte sich an ihn. Er legte den Arm um sie. »Hat dir jemand etwas getan?«, fragte er noch einmal. Eva schьttelte den Kopf und wischte sich die Trдnen aus dem Gesicht. Nein, niemand hatte ihr et­was getan. Nichts war geschehen, nein. Eva drьckte ihr Gesicht an seinen Дrmel. Der Geruch war vertraut und trцstend. Nein, es war nichts.

»Es hat einen Unfall gegeben«, erklдrte Petrus dem Vater. »Ein Junge ist gestьrzt.«

Eva weinte, den Kopf in die Kissen vergraben, mit hei­Яem, verquollenem Gesicht. »Willst du deinem Fett­kloЯ beweisen, was fьr ein toller Kerl du bist?« Und

dann Frank, auf dem Boden liegend, Ilona, die seinen Kopf wiegte, Ilona, die sagte: »Wenn du nur nicht ge­kommen wдrst ...!«

Eva spьrte, wie ihr Magen sich zusammenzog. Ich FettkloЯ! Meinetwegen ist das passiert, nur meinetwe­gen. Und Michel? Warum war er nicht einfach wegge­gangen? Frank hatte ein Messer in der Hand, es blitzte im Lichtschein.

Eva, mit kribbelnden Wangenmuskeln und vorge­schobenem Unterkiefer, erreichte gerade noch das Ba­dezimmer, beugte sich ьber das Waschbecken und wьrgte, wьrgte alles heraus, bis ihr Bauch sich zusam-menkrampfte. Sie drehte den Kaltwasserhahn auf und lieЯ das Wasser ьber ihr Gesicht und ihre Hдnde lau­fen, spьlte das Erbrochene weg, wischte so lange, bis nur noch der sдuerliche Geruch ьbrig blieb.

Sie fьhlte eine groЯe Leere in sich, ein riesiges Loch, hohl war sie, ausgehцhlt, schmerzhaft ausgehцhlt. »Mir tut der Magen weh, weil er so leer ist.« Ein trцstlicher Gedanke, dass sie etwas gegen die schmerzende Unlust tun konnte.

Sie aЯ eine trockene Scheibe WeiЯbrot, ganz langsam aЯ sie, kaute lange, um ihren armen, gepeinigten Ma­gen zu schonen. Das trockene Brot kratzte in ihrem Hals. Sie wдrmte sich Milch, aЯ ein Butterbrot dazu, dann noch eines, Salami war im Kьhlschrank und Mil~ kana Schmelzkдse, zwei Ecken waren noch da. Die Schmerzen in ihrem Bauch lieЯen nach, sanft wurde

ihr Magen, ganz sanft und voll. Sie schlich in ihr Bett zurьck.

Es gab kein Problem auЯer diesem Problem, dem Problem der Probleme. Der Speck war es, diese wider­liche, weiche Wabbelschicht, die zwischen ihr und ih­rer Umwelt stand, StoЯdдmpfer und Kokon, Polster und Eisenring. Nur der Speck war schuld. Speck be­deutete Traurigkeit, Abseitsstehen, Abgelehntwerden, bedeutete Spott, Angst, Scham.

Eingebettet in Speck verbarg sie sich, sie, die wahre Eva, die eigentliche Eva, so wie sie sein sollte: unbelas­tet von der Last des Fettes, leicht-lebig, hebens-wert.

Eingesperrt in dieser Fettschicht war sie, die wirkli­che Eva, die nicht stдndig an Essen dachte, an Nahrung und Fьllstoff, die nicht so beschдmend heimlich ьber alles Essbare herfiel und es in sich hineinfraЯ wie eine Maschine, wie ein Bagger, alles, egal was, und so lange, bis nichts mehr da war.

Eingepfercht in diesen Kokon lebte die andere Eva, die, die keine Gier kannte, kein wahlloses Mampfen, Schlingen, Schlucken, Wьrgen.

Eines Tages, an irgendeinem Tag, wьrde der Speck in der Sonne schmelzen, ein ganzer Fettbach wьrde in den Rinnstein flieЯen, eine widerliche, stinkende, цlige Flьssigkeit, und ьbrig blieb sie, die andere Eva, die schwerelose, heitere, wirkliche Eva. Die glьckliche Eva.

Um drei Uhr saЯ Eva montags am Brunnenrand, die Haare straff nach hinten gekдmmt, mit einer Spange gehalten.

Michel kam nicht.

Seltsam, dass die Sonne scheint, dachte sie. Es mьss­te regnen. Es mьsste grau sein. Die Bдume sollten sich biegen im Wind und kein Vogel sollte singen dьrfen.

Sie zog sich ihre Sandalen aus und ging barfuЯ ьber den Kiesweg. Die kleinen Steinchen stachen und piek­ten in ihre weichen FuЯsohlen. Das ist gut, dachte sie. Sie versuchte, sehr fest aufzutreten, so fest, dass der Schmerz sie zwang, die Zдhne zusammenzubeiЯen. »Es tut weh«, sagte sie leise vor sich hin, rhythmisch, zu jedem Wort ein Schritt. »Es-tut-weh-es-soll-wehtun-es-muss-wehtun-es-geschieht-mir-recht-dass-es-wehtut.«

Durch den Park ging sie, bis auf die andere Seite, bis zum Gartencafe, und dann wieder zurьck. Michel war nicht da. Ihre Beine waren schwer wie Blei.

Sie zog ihre Sandalen wieder an und ging in Rich­tung Bahnhof. An der groЯen Buchhandlung blieb sie stehen, zцgerte, sie musste sich ьberwinden hineinzu­gehen.

»Kann ich Ihnen was helfen?«, fragte eine junge, sehr schlanke Buchhдndlerin.

»Danke«, sagte Eva. »Ich schaue nur.«

Dann stand sie vor einem Regal mit Diдtbьchern, Bьchern zum Abnehmen, Gewichtsreduzierung. Ge­sьnder leben.

Sie nahm ein Buch heraus und blдtterte darin herum. Brot in Kalorien und Joule, Joghurt in Kalorien und Joule, ein mageres Steak (150 g) in Kalorien und Joule.

Eva drehte sich um. Sie fьhlte sich beobachtet. Aber da stand nur die Buchhдndlerin, die schlanke. »Brau­chen Sie etwas?«

Eva schьttelte den Kopf, legte das Buch zurьck in das Regal und nahm, ohne hinzusehen, ein anderes. »Das mцchte ich haben.«

Zu Hause setzte sie sich an den Schreibtisch und fing an zu lesen. Bis abends wusste sie ganze Kalorientabel­len auswendig, gelernt wie Vokabeln. Ich bin schuld, weil ich so dick bin. Ich bin an allem schuld, weil ich mich nicht beherrschen kann. In welchem Kranken­haus war Frank? Tausend Kalorien am Tag, nicht mehr. Warum war Michel denn nicht gekommen? Was war mit Frank?

»Eva! Abendessen!«, rief die Mutter. Zwei Scheiben Toast mit Butter und Lachsschinken, selbst wenn man die Butter dьnn streicht, sind fьnfhundert Kalorien.

»Ich habe keinen Hunger«, sagte Eva. »Ich mag heute nichts.«

»Wieso denn?«, fragte die Mutter. »Bist du krank?«

Mama, kann ich dir trauen? Bist du verschwiegen?

Nein, lieber nicht. Eva hatte Angst vor peinlichen Bemerkungen. »Lass nur, es gibt Mдnner, die haben ganz gern was in der Hand.«

»Ich bin nicht krank«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Ich habe ganz einfach keinen Hunger.«

Die Tage vergingen quдlend langsam. Aufstehen, sich anziehen, beim Frьhstьck die vorwurfsvollen Blicke der Mutter, wenn Eva nur schwarzen Kaffee trank. Sie schmierte sich, um diese Blicke zu beschwichtigen, ex­tradicke Brote fьr die Schule, drei doppelte, die sie dann an der nдchsten StraЯenecke in einen Papierkorb werfen wьrde. Sie fastete.

Franziska fragte: »Bist du krank?«

»Nein«, antwortete Eva, erklдrte das Knurren ihres Magens mit einer plцtzlichen Ьbelkeit, irgendein Virus wird es wohl sein. Franziska legte ihr trцstend die Hand auf den Arm. Ihre Hand war warm und ange­nehm, mit weichen, trockenen Handflдchen. Obwohl Eva frцstelte, trotz der Wдrme des Sommertages frцs­telte sie, waren ihre Handflдchen feucht.

Wenn die Gier nach Essen sie ьberfiel, wenn sich ihr Magen wдhrend des Unterrichts schmerzhaft zusam­menzog, brauchte sie sich nur ein bisschen zurьckzu­lehnen und ihre Oberschenkel mit denen von Franzis­ka zu vergleichen. Franziska, immer in Hosen, mit

schmalen Beinen, die Knie fast mager, und dagegen sie: Knie wie Dampfnudeln, ьber die der Rock hoch­rutschte beim Sitzen, Wьlste oberhalb der Knie, Fett­wьlste.

Wulst, Wьlste. Was fьr ein hдssliches Wort. Ein Wort zum Ekeln.

Die Vormittage waren schlimm, aber die Nachmitta­ge waren noch schlimmer. Beim Mittagessen sagte sie, sie hдtte keinen Hunger, sie sagte, sie hдtte die Schul­brote, die drei doppelten, erst auf dem Heimweg ge­gessen.

Dann ging sie zum Park, wartete auf Michel, wusste, er wьrde nicht kommen, hoffte, er wьrde doch kom­men.

Aber warum sollte er? Sie war schuld an allem. Oder nicht sie, nicht die Eva, diese verdammte Fetthьlle war schuld.

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