Литмир - Электронная Библиотека
A
A

Um vier ging sie wieder nach Hause, zog sich in ihr Zimmer zurьck, lernte wьtend und verbissen Voka­beln, um hinterher festzustellen, dass sie sie nicht konnte.

Vor dem Abendessen ging sie ins Bett. »Mir ist nicht gut, Mama, wirklich. Lass mich in Ruhe, bitte. Lass mich schlafen.«

Die Brote, die die Mutter ihr brachte, mit дngstli­chem, besorgtem Gesicht, »Kind, was ist denn los mit dir?«, wickelte sie in eine Plastiktьte und versteckte sie in ihrer Schultasche. Die Brote wьrde sie am nдchsten

Morgen in den Papierkorb werfen, zusammen mit den Schulbroten. Sie weinte sich in den Schlaf.

Warum kam Michel nicht?

Eva hatte Schmerzen, quдlende, durch nichts mehr zu unterdrьckende Schmerzen. Ihr Magen tat so weh, noch nie hatte ihr etwas so wehgetan. Und in ihrem Bauch krampften sich die Dдrme, wie Messerstiche war das.

Sie nahm ein Buch und versuchte zu lesen, aber die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Schwar­ze Flecken tanzten auf dem Papier. Sie konnte nur noch an Essen denken, alles andere wurde unwichtig neben dem Verlangen, ihren Hunger zu stillen. Still werden, die Gerдusche ihres Magens still werden zu lassen. Hunger tut weh.

»Ich will nicht essen«, dachte sie. »Ich will nicht.«

Vier Pfund hatte sie abgenommen in diesen vier Ta­gen, vier Pfund. Natьrlich war das nicht besonders viel im Vergleich zu den zwanzig, die sie noch abnehmen musste, aber immerhin!

Sie legte das Buch weg und griff nach den Diдt­tabellen.

l Scheibe Brot, 40 g, 100 Kalorien

5 g Butter, 38 Kalorien

100 g Salami, 526 Kalorien

100 g Gorgonzola, 410 Kalorien

l Tafel Schokolade, 536 Kalorien

Eva fror, obwohl die Sonne schien. Ihre Haut zog

sich zusammen und ihr Kopf drцhnte. Sie ging in die Kьche, wehrlos, hilflos ihrem Begehren ausgeliefert, ohne einen kleinen Rest Kraft zum Widerstand, und griff nach dem Brot, drьckte den groЯen Laib gegen ihren Bauch und schnitt mit dem Messer, dem mit der gesдgten Schneide, eine dicke Scheibe herunter. Sie legte die Brotscheibe auf ein Holzbrett und bestrich sie mit Butter, ganz dick.

»So dick brauchst du die Butter auch nicht zu schmieren«, sagte die Mutter.

»Lass mich, ich habe Hunger.«

Eva nahm den Salzstreuer, einen Porzellanfliegenpilz mit Lцchern in dem weiЯ gepunkteten Hut, weiЯe Punkte auf rotem Hut. Ein Fliegenpilz ist giftig. Sie streute die hellen Kristallkцrnchen auf die Butter.

»Soll ich dir nicht die Suppe warm machen?«, fragte die Mutter.

Eva antwortete nicht. Sie trug das Holzbrett in ihr Zimmer, legte es auf den Schreibtisch und setzte sich davor. Sie biss hinein in das Brot, riss den Bissen so heftig los, dass das Brot in ihrer Hand auseinander brach.

Was gibt es auf der Welt auЯer Kauen? Welche Weichheit lдsst sich mit Butter vergleichen, kьhler But­ter auf frischem Brot? Welche Wьrze ist besser als Salz, nicht zu viel, nicht zu wenig? Es gibt kein Glьck auЯer diesem: Kauen, das Brot im Mund zerkauen und runterschlucken und dabei das Brot in der Hand sehen,

das Gefьhl des Ьberflusses: Es gibt noch den nдchsten Bissen, dann noch einen.

Der Hals tat ihr weh beim Schlucken und tief in ihr saЯ die Enttдuschung, das Versagthaben, Es-wieder-einmal-nicht-geschafft-Haben, und wurde zugedeckt mit diesem kцstlichen Brei aus zerkautem Brot, Butter und Salz.

Die letzten Wochen vor dem Zeugnis. Jetzt war nichts mehr zu дndern, nichts konnte man mehr ausbьgeln. Franziska war sehr still. »Ich schaffe es nicht«, sagte sie zu Eva. »Ich schaffe es einfach nicht. In Mathe krie­ge ich eine Fьnf, und wenn ich die Wahrheit sagen soll, ist das noch geschmeichelt.«

»Dafьr bist du in Englisch doch so gut.«

»Aber nur in Englisch. Mein Vater sagt, ich sollte die Klasse freiwillig wiederholen, das wдre das Ge­scheiteste.«

Sie standen auf dem Schulhof. Das Geschrei um sie herum wurde plцtzlich ganz laut, drцhnte in ihren Oh­ren, wurde so schrill, dass Eva nichts mehr wahrneh­men konnte auЯer diesem Geschrei, auch nicht mehr die leise Stimme neben ihr.

Und dann wusste sie, wie wichtig es ihr war, dass Franziska in der Klasse blieb, weiter neben ihr saЯ, morgens einfach da war und ihr die Hand gab.

»Nein«, sagte Eva. »Nein, du sollst nicht wieder­holen.«

»Aber so geht es doch auch nicht weiter.« Franziska hakte sich bei Eva ein. »Ich bin einfach zu blцd fьr Mathe. Wenn ich es nur halb so gut kцnnte wie du!«

Eva zog Franziska in den leeren Gang zur Turnhalle. »Ich werde mit dir lernen«, sagte sie. »Dem Hochstein werden noch die Ohren schlackern, so gut wirst du in Mathe werden.«

»Wirklich?«

»Ja«, sagte Eva. »Wirklich. Ich werde mit dir ler­nen.«

Franziska, schlank, mit einem leichten Duft nach Flieder, legte ihre Arme um Evas Hals und gab ihr ei­nen Kuss auf die Backe. »Du bist ein Schatz.«

Eva stand steif und unbeholfen unter dieser Berьh­rung.

Michel kam am Freitag. Eva sah ihn schon von wei­tem. »Hallo, Eva.«

Sie setzte sich neben ihn und berьhrte seine Backe, eine dick geschwollene Backe mit einem blдulich vio­letten Bluterguss.

»Wer war das?«, fragte sie.

»Mein Vater. Wegen Frank. Unter Brьdern schlдgt man sich nicht, sagt er.«

Eva schwieg.

»Ich bin froh, wenn ich endlich wegfahren kann. Am einunddreiЯigsten Juli. Um vierzehn Uhr sechzehn geht mein Zug.«

»Ja«, sagte Eva. Und dann: »Wie geht es Frank?«

»Es ist nicht so schlimm«, antwortete Michel. »Ge­hirnerschьtterung. In zwei Wochen darf er wieder heim.«

»Willst du eine Cola?«

Michel nickte.

Sie gingen nebeneinander her, ohne sich zu berьh­ren, setzten sich unter die Platane, an denselben Tisch wie beim ersten Mal, und bestellten Cola.

»Der Frank ist schuld«, sagte Michel. »Hast du sein Messer gesehen?«

»Ja.«

»Er lдuft immer mit einem Messer herum. Jeder weiЯ das und jeder hat Angst davor, sich mit ihm an­zulegen. Auch Petrus sagt das. Er war gestern Abend bei uns. Mein Vater wollte ihn erst nicht reinlassen. Er sagt, der Petrus ist schuld, er hдtte auf uns aufpassen mьssen. Dafьr wьrde er bezahlt. Aber dann hat er doch mit ihm geredet. Deswegen durfte ich heute kommen.«

»Ich habe schon gestern und vorgestern auf dich ge­wartet.«

»Petrus hat gesagt, dass ich kommen muss.«

»Wдrst du sonst nicht gekommen?«

»Ich weiЯ nicht.« Michel sah unglьcklich aus. »Ich habe mich geschдmt«, sagte er.

»Warum?«

»Ich weiЯ nicht.« Er sprach sehr langsam. »Wegen allem halt. Weil ich mich geprьgelt habe. Und weil Frank im Krankenhaus ist.«

Eva bestellte noch zwei Cola. »Michel, warum bist du denn so wьtend geworden? Warum hast du ihn nicht einfach stehen lassen und bist weggegangen?«

»Das hat mich Petrus auch gefragt.«

»Und was hast du ihm geantwortet?«

»Dass Frank dich beleidigt hat.«

Eva fьhlte, wie sie ganz zittrig wurde innen, sie fьhlte sich schwach und ihr Magen wurde zu einem Klumpen.

»Weil er gesagt hat, dass ich ein FettkloЯ bin?«

Michel wurde rot, schaute auf sein Glas, nickte.

»Aber ich bin dick«, sagte Eva und der Klumpen in ihrem Bauch lцste sich. »Ich bin ein FettkloЯ.« Sie musste lachen. »Hast du das denn nicht gesehen, Mi­chel?«

»Schon«, sagte er. »Natьrlich habe ich es gesehen.«

Der Klumpen war ganz weg, ganz weich war ihr Bauch und angenehm warm. Eva legte ihre Hдnde auf den Tisch. Mit der linken Hand, die das Colaglas um­klammert hatte, ganz dicht an ihrem Kцrper, schob sie das Glas weiter in die Mitte des Tisches, und die rech­te, die sie vorher auf ihrem SchoЯ liegen gehabt hatte, fest zu einer Faust geballt, legte sie offen auf den Tisch, nahe zu Michels Hдnden.

»Trotzdem, den Frank geht es einen ScheiЯdreck an, ob du dick bist oder nicht.«

Er nahm ihre Hand.

Sie gingen am Fluss entlang.

»Bald fahre ich weg«, sagte Michel. »Es dauert nicht mehr lange.«

Eva nickte. »Schreibst du mir?«

18
{"b":"236147","o":1}