»Bin gestern sechzehn geworden.«
»Wirklich?«
»Wenn ich es sage!«
Spдter, sie hatten alle im Garten Wьrstchen gegessen, wurde es sehr voll im Tanzraum. Die Musik war jetzt lauter, das Licht schummriger. Jemand hatte die groЯen Deckenleuchten ausgemacht.
Eva tanzte. Sie tanzte auch weiter, als Michel wieder etwas trinken wollte. Sie tanzte allein weiter, merkte kaum, dass er wegging. Ein junge stellte sich neben sie,
so einer mit langen Haaren, hautengen, glдnzenden Hosen und einem bunten Hemd. Ein Angebertyp., aber ein sehr gut aussehender.
»Du tanzt gut«, sagte er und griff nach ihr, wollte sie an sich ziehen.
»Nein«, sagte Eva, die jetzt erst sah, dass viele Paare dicht aneinander gedrьckt tanzten. »Nein, das mag ich nicht.«
»Gefalle ich dir nicht?«, fragte der junge herausfor-
dernd.
Eva lieЯ ihn stehen, drehte sich um und ging zur Theke. Eine Gruppe von Jungen und Mдdchen stand dort herum, Bierflaschen in der Hand.
»Lasst mal Michels Braut durch«, rief ein Rothaariger. Die anderen lachten. Eva дrgerte sich, als sie merkte, dass sie rot wurde.
»Michel, deine Frau sucht dich!«, sagte der Rothaarige.
Eva wдre am liebsten unsichtbar gewesen. Sie spьrte
plцtzlich, wie verschwitzt sie war, spьrte, wie ihr Kцr-per anschwoll und plump und unbeweglich wurde un-ter den neugierigen Blicken. Doch da war Michel und nahm ihre Hand. »Hдlt's Maul, Pete«, sagte er zu dem Rothaarigen. »Hдlt's Maul und lass mein Mдdchen in Ruhe.«
»Was denn«, antwortete der Rote. »Seit wann bist du so empfindlich? Hдltst dich jetzt wohl fьr was Bes-seres, wie? So toll ist sie ja nun auch wieder nicht. Da-fьr hдttest du zwei kriegen kцnnen.«
Er hat mit mir angegeben, dachte Eva, als sie hinter Michel herging, hinaus in den Garten. Er hat sicher al-len gesagt, dass ich ins Gymnasium gehe. Aber er hat vergessen zu sagen, dass ich so fett bin.
DrauЯen im Freien war es kaum kьhler als im Haus. »Es wird ein Gewitter geben«, sagte Eva.
»Ja.«
»Tut es dir Leid, dass du mich hierher gebracht hast?«
»Nein«, antwortete Michel bцse. »Der Pete ist ein blцder Kerl. Man darf gar nicht hinhцren, wenn er was sagt, so blцd ist der. Komm wieder rein.«
An den Tьrpfosten gelehnt stand der Junge mit der engen Jeans und dem bunten Hemd. »Na«, sagte er. »Wo "war denn mein kleiner Bruder mit seinem Frau-chen? Bisschen Hдndchen halten? Traust du dich ьber-haupt?«
»Lass mich in Ruhe, Frank«, sagte Michel und
drдngte sich an dem Jungen vorbei. Als Eva durch die Tьr ging, streckte Frank die Hand aus und streifte ihre Brust. Eva ging schnell weiter. »Dein Bruder ist nicht besonders freundlich«, sagte sie zu Michel. Er schьt-telte den Kopf. »Wir haben oft Streit. Er ist so.«
Eva schaute auf die Tanzenden, betrachtete sie, be-sonders die Mдdchen, ihre Hьften, die Weite ihrer Taillen, die engen Hosen, und sie fьhlte sich wieder ganz fremd.
Schlager, Schnulzenmusik. Michel legte den Arm um sie. Sie gab sich Mьhe, nicht zur Seite zu sehen, nicht auf die Umgebung zu achten, nur Michels Hand auf ihrer Hьfte zu spьren, nur seinen Kцrper, der ihr so nah war. Nur das.
Jemand tippte ihr auf die Schulter. »Kannst du Wal-zer?«, fragte Petrus.
»Ja.«
»Entschuldige mal«, sagte Petrus zu Michel und tanzte mit Eva. In einer Ecke stand ein Paar, fast bewe-gungslos, eng umschlungen. Eva drehte den Kopf weg. Plцtzlich war sie sehr mьde. Stefan tanzte mit ihr und der Junge mit der schwarzen Weste, dann wieder Mi-chel. Sie lieЯ sich drehen und fьhren, bis das Licht vor ihren Augen verschwamm und das Zimmer anfing, sich zu drehen.
»Ich brauche frische Luft.«
Sie setzten sich auf die Stufen, die vom Haus m den Garten fьhrten. Im Garten war niemand. Auf den
Tischen standen die Pappteller mit Senfresten, leere Limoflaschen, angebissene Semmeln.
Eva rьckte nдher zu Michel, ganz dicht an ihn heran. »Ich bin verschwitzt«, sagte sie, »ich stinke.«
»Nein, du stinkst nicht.« Michel legte seine Hand auf ihr Knie, schob sie weiter unter ihren Rock.
»Gehst du noch ein bisschen mit mir spazieren?« Seine Stimme war so leise, dass Eva ihn kaum verstehen konnte. Er legte seinen Kopf an ihre Schulter. Eva schaute hinauf in den Himmel und die Welt war voller Sterne. Seine Hand, dachte sie. Wenn uns jemand sieht.
»Was macht denn unser Kleiner da?«, fragte Frank.
Eva zuckte zusammen. Es gab keine Sterne mehr auf der Welt. Michel hatte seine Hand zurьckgezogen.
»Hau ab, Frank.«
»Wie redest du denn mit mir? Bist du verrьckt geworden? Geh halt mit deiner Puppe woandershin, wenn du sie aufs Kreuz legen willst.«
»Nimm dich in Acht!« Michel war aufgesprungen und starrte seinen Bruder wьtend an. Frank stand da, die Daumen m den Schlaufen seiner Jeans eingehakt, breitbeinig.
Eva wich Michels Blick aus. Sie machte ein paar Schritte seitwдrts in den Garten, hinein in den Schutz der Dunkelheit. Ein Junge mit einer Lederjacke trat aus der Tьr. »Was ist, Frank, ziehst du wieder eine Schau ab?«, sagte er.
Frank beachtete ihn nicht. »Wie machst du es denn
mit ihr?«, fragte er Michel. »Kommst du ьberhaupt dran, wenn du auf ihr liegst?«
»Du alte Sau!«
»Werd nicht frech, Kleiner, sonst kannst du was erleben!«
»Probier's doch! Los, probier's doch mal!« Michels Stimme klang hoch und schrill. Frank, ohne die Arme zu bewegen, trat nach Michel. »Willst du deinem FettkloЯ beweisen, was fьr ein toller Kerl du bist?«
Michel stьrzte sich auf ihn, hдmmerte wild mit den Fдusten auf ihn ein. Eva stand erstarrt. Ihr Mund цffnete sich, aber sie schrie nicht. Sie sah, dass auf einmal einige Jungen und Mдdchen in der Tьr standen und dem Kampf zuschauten.
»Mensch, Frank, hцr auf zu spinnen!«, rief einer.
»Los, Michel, zeig's ihm!«, drдngte ein anderer.
Plцtzlich hatte Frank ein Messer in der Hand.
»Nein!«, schrie Eva. »Nein, nein!« Hatte sie laut geschrien? Panik erfasste sie. Sie wollte sich auf die Kдmpfenden stьrzen, aber sie konnte sich nicht rьhren. Die anderen, die in der Tьr, hatten weiЯe Gesichter, weiЯ mit dunklen Lцchern dann. Jemand schob Michel einen Stuhl zu, der Junge, der vorher »Zeig's ihm« gesagt hatte.
Michel nahm den Stuhl an zwei Beinen, hielt ihn hoch ьber seinem Kopf, machte zwei staksige Schritte auf Frank zu und schlug mit dem Stuhl auf ihn ein. Eva schloss die Augen. Als sie sie wieder aufmachte,
lag Frank auf dem Boden. Aus einer Wunde an seinem Kopf lief Blut und verklebte die langen Haare zu Strдhnen, zu rцtlich braunen, hдsslichen Strдhnen. Michel stand da, noch immer den Stuhl in den Hдnden, und starrte auf seinen Bruder. »Nein«, wiederholte er immer wieder, »nein, nein! Das nicht!«
Ein Junge mit einem silbernen Kreuz um den Hals nahm Michel den Stuhl aus der Hand und trug ihn zurьck ins Zimmer. Die anderen machten ihm schweigend Platz. Dann war Ilona da, setzte sich neben Frank und nahm seinen Kopf auf den SchoЯ. Sie wiegte ihn hin und her, wie eine Puppe, und Trдnen liefen ьber ihr Gesicht. Ihr Kleid war hochgerutscht, ihre Oberschenkel waren dick und weiЯ in dem Licht, das aus der offenen Tьr fiel.
»Ilona, nicht! Frank muss ganz ruhig liegen.« Petrus hatte sich gebьckt und hielt den Kopf des Jungen. Ilona schaute ihn mit groЯen Augen an. Jemand kam und zog sie weg.
»Reiner, ruf den Notarzt an«, sagte Petrus.
Ein Junge ging zurьck in das Haus. Niemand sagte ein Wort. Auch als der Notarzt kam, mit Martinshorn und Blaulicht, wurde nicht viel gesprochen.
»Frank Weilheimer heiЯt er, ja.«
»Nein, wir haben nichts gesehen. Wir waren beim Tanzen.«
»Er muss gestьrzt sein.«
»Ja, so wird es gewesen sein.«
Die anderen standen um Michel herum, der mit aufgerissenen Augen zusah, wie Frank auf eine Trage gehoben und zum Wagen gebracht wurde.
»Wenn du nur nicht gekommen wдrst...!«, sagte Ilona zu Eva.