Ich starrte in dem trüben Licht des Treppenabsatzes in George Thousand Names’ Gesicht und ich begriff jetzt, was er meinte. In der heutigen Zeit gab es keine Möglichkeit für einen Medizinmann, seine Macht zu beweisen, keine Prüfung, die seiner Magie würdig gewesen wäre. Was nützte die alte Kunst, Büffel zu hypnotisieren, wenn Büffel nur noch im Zoo existierten? Was nützte die Macht, einen Speer ungewöhnlich gerade fliegen zu lassen in einer Welt voller Gewehre und Tränengas? Deshalb genoss George Thousand Names seinen Kampf mit Coyote so sehr. Es spielte keine Rolle, wie gemein und grausam Coyote war, er war die Herausforderung für Georges eingeschnürte Talente.
»In Ordnung«, sagte ich. »Wir bringen es besser hinter uns.«
Er griff mit seiner alten, dürren Hand nach meiner Schulter. »Falls es der Große Geist für angebracht hält, uns zu sich zu nehmen, mein Freund, dann lassen Sie uns an die guten und nicht an die bösen Worte zurückdenken.«
»Okay, es ist Ihr Auftritt.«
Ich zog an der Schnur, die von der Falltür herabhing. Sie schien zu klemmen, aber als ich fester zog, kam die Tür mit einem rostigen Knarren herab und die unteren Stufen sanken uns automatisch entgegen. Aus der dunklen Leere über uns strömte ein heißer, stinkender Lufthauch, und wir hörten deutlich das ruhelose Kratzen und Scharren, als ob etwas oder jemand ungeduldig auf uns wartete.
»Lassen Sie mich zuerst gehen«, sagte George Thousand Names. »Ich habe die Macht, das Schlimmste von uns abzuhalten.«
»Glauben Sie bloß nicht, dass ich mich vordrängeln wollte.«
Der Medizinmann griff nach der Leiter, die wackelte und knarrte, bis sie schließlich auf dem Boden des Treppenabsatzes zur Ruhe kam. Dann, Stufe für Stufe, stieg er langsam hinauf, doch ab und zu blieb er stehen, lauschte und spähte. Sein Kopf und seine Schultern verschwanden im Dunkeln.
»Himmel, kommen Sie nicht so zurück wie Bryan Corder.«
»Er ist hier. Er ist auf dem Dachboden. Gibt es da unten einen Lichtschalter? Ich spüre ihn. Ich kann ihn riechen. Machen Sie Licht!«
Ich sah mich um; an der entgegengesetzten Wand gab es einen alten Bakelitschalter. Ich drückte ihn herunter und eine schwache, staubige Glühbirne flammte oben im Dachboden auf.
George Thousand Names schrie. Er fiel von der Leiter. Sein alter Körper schlug schwerfällig auf den Boden.
Für einen Augenblick dachte ich, er sei tot, aber dann brüllte er: »Schließ die Tür! Schließ die Tür! Schließen Sie die Tür, bevor es zu spät ist.«
Ich packte das untere Ende der Leiter und schob sie nach oben, aber an einer Seite blieb sie an der Deckenöffnung stecken. Ich kletterte schnell vier oder fünf Stufen rauf und zerrte, so kräftig ich konnte, um sie freizubekommen.
In dem Augenblick sah ich Coyote. Ich sah nicht viel. Er befand sich am äußersten Ende des Speichers, wo das Licht kaum hindrang, aber der gesamte Boden wimmelte von Tausenden und Tausenden kränklicher grauer Vögel, die herumhüpften und flatterten und mit ihren Krallen über den Boden kratzten. Es war fast unmöglich, irgendeinen Umriss, irgendeine Form zu erkennen, aber durch die flatternden Vogelmassen der Grauen Traurigkeit konnte ich etwas Schwarzes und Enormes ausmachen. Dämonische Augen glühten in einem borstigen Gesicht und eine schreckliche, bestienähnliche Präsenz kam mir entgegen, die böser und hässlicher war als alles, was ich mir überhaupt jemals hätte vorstellen können.
Auf dem Boden des Speichers, nicht weit von mir entfernt, stand die Statue der Bärenfrau, aber jetzt war es keine Statue mehr, sondern eine winzige lebende Nachbildung der riesigen Bärenfrau, die hier unten im Haus schlief. Die Figur drehte sich um und grinste mich mit blanken Zähnen an, dann eilte sie wie eine Ratte in den schattigen Schutz ihres Meisters zurück, zu dem Dämon Coyote.
Ich erkannte, warum George Thousand Names geschrien hatte. Coyote, dessen schräge Augen vor Hass glimmten, war dabei, dort in der düsteren Ecke des Dachbodens seinen Körper zu öffnen, und in der halben Sekunde, die ich in der Falltür stand, sah ich, dass sich etwas aus seiner Seite entrollte, fettig und blass und zappelnd wie Millionen von Maden.
Ich kam 50-mal schneller die Leiter herunter, als ich sie hochgestiegen war. Mein Kreislauf war so mit Adrenalin vollgepumpt, dass ich die unterste Sprosse packte und die Falltür mit einem heftigen Knall nach oben schwang. Dann hob ich George Thousand Names vom Boden auf und zog ihn auf dem Treppenabsatz rückwärts fort.
Als wir an die Treppenstufen gelangten, keuchte der Medizinmann: »Warte, warten Sie, er wird uns jetzt noch nicht folgen.«
» Warten?Ich werde so schnell ich kann aus diesem verfluchten Haus verschwinden. Haben Sie das Vieh gesehen? Haben Sie’s gesehen?«
George Thousand Names widersetzte sich meinem Ziehen. »John«, sagte er, »John, Sie dürfen das Haar nicht vergessen. Sie dürfen Big Monsters Haar nicht vergessen.«
»Weshalb denn?«
»John, es ist die einzige Möglichkeit, ihn zu bekämpfen. Wenn wir das Haar zuerst finden, dann haben wir zumindest noch eine Chance.«
Ich ließ ihn los und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand. Oben auf dem Dachboden konnte ich durch die dünne Decke Geräusche hören, von denen ich mir nicht vorzustellen wagte, was sie verursachte. Schleimige, leise, kratzende, behäbige Geräusche.
»George, ich bitte Sie. Lassen Sie uns jetzt verschwinden. Ich kann ja Bärenmenschen ertragen, aber das Vieh da oben nicht.«
»Warten Sie. Denken Sie daran, was das Symbol sagte. Schau nordwärts von der Zeltstange aus. Dort ist Big Monsters Haar versteckt.«
Ich hob meine Hände in Ergebenheit. »Okay. Und wo ist jetzt Norden?«
Er fummelte in seiner Tasche herum und holte eine kleine, runde Dose heraus.
»Was ist das? Noch ein Zaubertrick?«
Er öffnete ein Auge. »So was in der Art. Es ist ein Kompass.«
Es kostete uns einige Momente, um zu lokalisieren, wo Norden lag, denn sobald sich Coyote oben auf dem Dachboden bewegte, zitterte und schwankte die Kompassnadel. Aber wir schafften es.
George Thousand Names wies auf eines der schmutzigen Fenster am anderen Ende. »Da ist es. Das ist das Nordfenster.«
Wir liefen zum anderen Ende des Treppenabsatzes und schauten hinaus. Zunächst war da der graue Ausblick auf die Hinterhöfe der Häuser in der Mission Street, aber hinter ihnen ragte ein Wahrzeichen hervor. Es stand hoch und fest da, eingehüllt in niedrigem Nebel. Seine Pfeiler und Drahtseile glänzten in dem grauen Licht des Morgens. Die Golden Gate Bridge.
George Thousand Names atmete tief aus: »Das ist es. Dort ist das Haar versteckt.«
»Die Brücke? Wie kann man denn Haare auf einer Brücke verstecken?«
Er lächelte mich triumphierend an. »In den Legenden heißt es, dass Big Monsters Haar so grau wie Eisen ist und so stark wie eine Peitsche.«
Ich lauschte beunruhigt den Geräuschen Coyotes, der sich über uns auf dem Dachboden bewegte. »Was beweist das denn? Das bedeutet für mich überhaupt nichts.«
George Thousand Names packte meinen Arm fest, um meine Aufmerksamkeit zu wecken. Er sagte eindringlich: »Wo würden Sie etwas verstecken, das so grau wie Eisen und so stark wie eine Peitsche ist?«
»Hören Sie, George. Ich weiß es wirklich nicht. Ich meine, wir sollten besser …«
»John, denken Sie nach!«
Ich befreite meinen Arm. »Verdammt, ich kann nicht mehr denken! Ich will nur noch raus aus diesem Haus, bevor die Falltür runterkommt und dieser Dämon runterspringt, um das zu tun, was Dämonen gewöhnlich so tun. Ich habe kein Interesse an Skalps, George. Das war’s. Ich will hier raus!«
In diesem Augenblick schwebte eine Wolke Mörtelstaub von der Decke herab. Ich hörte, wie die Balken unter dem Gewicht von etwas Unaussprechlichem krachten. Die Luft wurde erfüllt von dem trockenen Klang schlagender Flügel, als die Graue Traurigkeit um ihren abscheulichen Herrn herumschwirrte.