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Es kam keine Antwort. Sobald ich die Diele betreten hatte, wurden die Geräusche von der Straße dumpfer und schwächer. Ich stand da und hörte nur noch mein eigenes heftiges Atmen.

»Mr. Wallis?«,rief ich noch einmal.

Ich ging zur Treppe. Die Bärenfrau stand noch immer mit geschlossenen Augen auf dem Pfosten des Treppengeländers. Ich blinzelte hoch in die Dunkelheit des ersten Stockes, konnte aber absolut nichts erkennen. Um ganz ehrlich zu sein, ich war auch absolut nicht geneigt hinaufzugehen. Ich beschloss, einen Blick in Seymour Wallis’ Büro zu werfen, und sollte er nicht zu Hause sein, dann würde ich schleunigst von hier verschwinden.

So leise wie möglich ging ich auf Zehenspitzen über den verschlissenen Teppich zu der Tür unter dem verstaubten Hirschkopf. Das Büro war verschlossen, aber der Schlüssel steckte im Schloss. Langsam drehte ich ihn um und hörte das laute Schnappen des Schließmechanismus in der undurchdringbaren Stille der toten Luft, die das Haus scheinbar seit all den Jahren, in denen es hier stand, ausfüllte.

Ich legte meine Hand um den Messingknopf der Tür und drehte ihn. Die Bürotür öffnete sich. Drinnen war es finster, denn die Vorhänge waren noch vorgezogen. Ich griff neben den Türrahmen, um den Lichtschalter zu finden. Meine Finger tasteten über die kühle Tapete und ich drückte den Lichtschalter nach unten, aber es passierte nichts. Die Birne musste durchgebrannt sein.

Nervös drückte ich die Tür weiter auf und trat ein. Ich schaute fast panisch hinter die Tür, um mich zu vergewissern, dass sich dort nichts und niemand versteckte – ein kurzer Schock durchzuckte mich, als ich den Bademantel von Seymour Wallis dort hängen sah. Dann strengte ich meine Augen an und starrte auf die dunklen Umrisse von Seymour Wallis’ Schreibtisch und Stuhl.

Eine Weile konnte ich nicht erkennen, ob dort irgendetwas war oder nicht. Während sich meine Augen langsam an die Dunkelheit gewöhnten, bildete sich ein Umriss. »Oh Gott.« Die Worte klangen wie ein Röcheln.

Ein riesiger, aufgedunsener Mann saß auf Seymour Wallis’ Stuhl. Sein Kopf war ganz schwarz und aufgebläht, seine Arme und Beine waren zum doppelten Umfang angeschwollen. Sein Gesicht war so dick, dass die Augen nur noch schmale Schlitze bildeten, und seine Finger quollen wie fette, purpurne Schnecken aus den Hemdsärmeln.

Ich hätte ihn niemals erkannt, doch seine Kleidung verriet ihn. Ich zog die Vorhänge ein Stück beiseite. Es war Seymour Wallis. Eine aufgeblähte, angeschwollene, groteske Karikatur von Seymour Wallis.

Ich konnte die Worte kaum aussprechen: »Mr. W-Wallis?«

Die Kreatur rührte sich nicht.

»Mr. Wallis, leben Sie?«

Das Telefon stand auf seinem Schreibtisch. Ich musste sofort Dr. Jarvis anrufen und vielleicht auch Lieutenant Stroud, aber das bedeutete, dass ich an diesem aufgeblähten Körper vorbeimusste. Ich ging vorsichtig auf ihn zu und schaute und schaute, um mir darüber klar zu werden, ob er tatsächlich tot sei. Ich vermutete, dass es so war. Er bewegte sich nicht und es sah aus, als ob jede Vene und Arterie seines Körpers ein Bluterguss sei.

»Mr. Wallis?«

Ich trat ganz nahe heran und ging etwas in die Knie, um ihm direkt in das bläuliche, aufgeblähte Gesicht sehen zu können. Er schien nicht zu atmen. Ich schluckte wieder, um mein Herz zurück in die Brust zu drücken, wohin es gehörte, und beugte mich langsam und nervös vor, um den Telefonhörer abzunehmen.

Ich wählte die Nummer des Elmwood Foundation Hospitals. Es schien Jahrhunderte zu dauern, bevor sich die Telefonistin meldete: »Elmwood-Krankenhaus. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Rufen Sie Dr. Jarvis ans Telefon«, flüsterte ich. »Es ist ein Notfall.«

»Sprechen Sie bitte etwas lauter. Ich kann Sie nicht verstehen.«

»Dr. Jarvis!«, sagte ich heiser. »Sagen Sie ihm, dass es dringend ist!«

»Einen Moment bitte.«

Sie schaltete mich in die Warteschleife, um Dr. Jarvis zu informieren, und eine schmalzige Musik ertönte. Ich blickte besorgt auf Seymour Wallis’ blutunterlaufenes Gesicht und hoffte und betete, dass er nicht plötzlich aufsprang und nach mir griff.

Die Musik verstummte und die Telefonistin sagte: »Es tut mir leid, aber Dr. Jarvis ist gerade beim Mittagessen, und wir wissen nicht, wo er ist. Möchten Sie mit einem anderen Arzt sprechen?«

»Nein, danke. Dann komme ich selbst ins Krankenhaus.«

»Dann benutzen Sie bitte den Südeingang. Momentan sind die Leute vom Gesundheitsamt im Haus, um einige Vögel zu verjagen.«

»Sind die Vögel noch immer da?«

»Oh ja. Sie sitzen überall.«

Ich legte den Hörer auf und ging vorsichtig rückwärts fort von Seymour Wallis. Ich war erst zwei oder drei Schritte auf die Tür zugegangen, als sein Drehstuhl plötzlich herumschwenkte und sein mächtiger Körper seitlich auf den Teppich fiel, aufs Gesicht, und so liegen blieb. Der Schock war so heftig, dass ich wie gelähmt dastand, unfähig wegzulaufen, unfähig zu denken. Aber dann wurde mir klar, dass er entweder tot oder hilflos war, und ich ging hin und kniete mich neben ihn.

»Mr. Wallis?« Ich muss zugeben, dass ich keine Hoffnung auf eine Antwort hatte.

Er blieb regungslos liegen, angeschwollen wie ein Mensch, der wochenlang im Meer herumgetrieben war.

Ich stand wieder auf. Auf seinem Schreibtisch lag ein einfaches Stenoheft, in das er offensichtlich Eintragungen gemacht hatte. Ich nahm es und blätterte einige Seiten zurück. Die Schrift war ziemlich unsicher, wie von einem Kind, das verbissen das Schreiben lernt. Es sah so aus, als hätte Seymour Wallis darum gerungen, seine Notizen zu vervollständigen, bevor die Schwellung ihm das Schreiben unmöglich machte.

Ich hielt das Heft etwas seitlich, damit das Licht von draußen auf die Seiten fallen konnte. Da stand: »Ich weiß jetzt, dass alle diese unseligen Ereignisse in Fremont nur der Beginn eines viel schrecklicheren Geschehens waren. Was wir entdeckten, war nicht das Wesen selbst, sondern ein Talisman, der das Wesen zu neuem Leben anregte. Vielleicht war das Datum für seine Rückkehr schon immer vorherbestimmt. Möglicherweise waren all diese grausigen Ereignisse noch Zufälle, aber über eines bin ich mir ganz sicher: Von dem Tage an, an dem ich den Talisman in Fremont entdeckte, hatte ich gar keine andere Wahl, als das Haus Nummer 1551 zu kaufen. Die uralten Einflüsse waren viel zu stark für jemanden, der so schwach wie ich war und ohne Kenntnis über diese Macht, um Widerstand zu leisten.«

So endete es. Ich verstand es überhaupt nicht. Vielleicht dachte Seymour Wallis, dass sein Unglück bei dem Fremont-Auftrag ihn endgültig eingeholt hätte – nach seinem Zustand zu urteilen, konnte ich ihm gar nicht unrecht geben. Aber in diesem Augenblick hatte ich nur noch den einen Gedanken, raus aus diesem Haus zu kommen und mit Dr. Jarvis zu sprechen. Ich war nun endgültig davon überzeugt, dass in diesem Haus ein feindseliges, brütendes Übel hockte. Wenn bereits drei Leute so qualvoll hatten leiden müssen, weil sie versucht hatten, diesem Übel auf die Spur zu kommen, dann war mir klar, dass ich leicht das vierte Opfer werden könnte.

Ich ging durch die Diele und warf noch schnell einen Blick die Treppe hinauf, für den Fall, dass dort oben etwas Entsetzliches stehen würde, und schlich mich an dem Türklopfer vorbei zum Ausgang. Als ich mich umdrehte, um die Tür zu schließen, sah ich jedoch etwas, was mich fast mehr traf und ängstigte als alles, was vorher passiert war.

Auf dem Treppenpfosten fehlte die Figur. Die Bärenfrau war fort.

Vor dem Krankenhaus versuchten die Männer des Gesundheitsamtes, die grauen Vögel mit lauten Gewehrschüssen zu vertreiben. Ich kannte einen von ihnen, Innocenti, und ging zu ihm, um zu fragen, ob sie Erfolg hätten.

Innocenti deutete angeekelt auf die immer noch reihenweise dahockenden, stummen Vögel, die sich an den Gewehrsalven überhaupt nicht störten.

»Solche Vögel habe ich noch nie gesehen. Sie sitzen einfach da. Auch wenn wir rufen, bleiben sie sitzen. Wenn wir schreien, bleiben sie sitzen. Wir haben Henriques mit einer Holzklapper aufs Dach geschickt, und was tun sie? Sie bleiben sitzen. Vielleicht sind sie schwerhörig. Vielleicht ist es ihnen egal. Sie hocken da und sie scheißen noch nicht einmal.«

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