Die Tür fiel zu und Max hörte, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
»Olivia!«, quakte er. »Olivia, hier bin ich, unter dem Wandteppich …«
Er hüpfte auf seine Schwester zu, die sich gerade aufrappelte.
»Mmmmpff! Mmmmpff!«, rief sie aufgeregt, als sie den orangefarbenen Frosch auf sich zuhüpfen sah. »Mmmmpff … Mmmmpff!«
Sie griff nach dem Knebel, machte sich unbeholfen an dem Knoten zu schaffen und zerrte sich das Tuch schließlich vom Mund.
»Puh! So ist es besser! Max! Wie kommst du hierher?«
»Also«, sagte Max und holte tief Luft.
Er wollte gerade zu einer langen und ausführlichen Schilderung seiner Ängste und Nöte in Burggraben und Burgmauer ansetzen, da lenkte ihn ein Rascheln ab, dem ein lautes Quieken und ein unterdrückter Fluch folgten. Eine große schwarze Ratte quetschte sich aus dem Spalt in der Wand und plumpste auf den Boden.
»Alles klar, alles klar. Nur keine Panik! Ich hab es geschafft, ich bin noch ganz, obwohl ich womöglich ein wenig Fell eingebüßt habe … und vielleicht hat der Hecht auch ein kleines Stück von meiner Schwanzspitze abgebissen. Aber was soll’s, ich will mich nicht beklagen. Das alles ist kaum der Rede wert.« Grimm sah sich um, entdeckte Olivia und den bewusstlos daliegenden Adolphus. »So, so, alle hier«, fügte er hinzu. »Ist das nicht schön?«
»Grimm!«, rief Max freudig. »Du bist mir gefolgt!«
»Na ja, ich hatte keine andere Wahl«, sagte Grimm leise. »Deine Schwester hat mich mehr oder weniger aus dem Fenster geworfen … Geh und rette Max, sagt sie. Oh, kein Problem, sage ich, meine leichteste Übung. Immer bloß dem Modergeruch nach. Auf den guten alten Grimm kann man bauen. Der nimmt es mit blutrünstigen Hechten auf und –«
Aber Max und Olivia hörten schon nicht mehr zu. Sie waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Neuigkeiten auszutauschen und alles zu einem Ganzen zusammenzusetzen, was jeder von ihnen mitgehört hatte.
»Ach ja«, seufzte Grimm. »So ist es jedes Mal. Keine Dankbarkeit.«
Und er begann, sich die Barthaare zu säubern und zu überprüfen, wie viel Fell er in der Burgmauer gelassen hatte.
»Also brechen sie jetzt auf, mit den Pferden?«, fragte Max nachdenklich.
»Ja«, sagte Olivia. »Adrian wird den Prinzen bei sich haben, versteckt in Laken. Lady Morgana hat Merlins Schutzbann durchbrochen, also werden sie ohne Probleme davonkommen. Und sie haben gesagt, dass sie den Prinzen in den Wald bringen wollen. Damit müssen sie den Düsterwald meinen – flussabwärts, etwa zehn Kilometer entfernt. Aber der Wald ist riesig. Wenn sie da irgendwo ein Versteck haben, findet sie kein Mensch.«
»Dann müssen wir sie aufhalten, bevor sie die Burg verlassen«, sagte Max.
»Aber wir können niemanden benachrichtigen«, wandte Olivia ein. »Der einzige Weg nach draußen führt durch die Toilette. Oder aus dem Fenster.«
»Mmmh«, machte Max. »Auf die Toilette bin ich nicht scharf. Aber das Fenster …«
»Du bist ein Frosch, Max«, sagte Olivia. »Du kannst nicht fliegen.«
»Ich nicht«, sagte Max. »Aber er …« Mit einem Schwimmfuß zeigte er auf Adolphus auf dem Teppich. Dann rief er: »Grimm!«
»Oh, gibt es mich etwa doch noch? Nimmst du meine Existenz zur Kenntnis?«, fragte Grimm fröhlich. »Bestimmt willst du was von mir, deshalb.«
»Ja«, sagte Max. »Beiß Adolphus. Was für ein Zauber auch immer auf ihm liegen mag, vielleicht kriegst du ihn wach.«
»Mit Vergnügen«, sagt Grimm, entblößte die Zähne zu einem bösartigen Grinsen und huschte zum Drachen hinüber.
»Oh, tu ihm nicht zu sehr weh«, bettelte Olivia. Doch Grimm war ganz sanft, knabberte an Adolphus’ Ohren und stupste gegen seinen Kopf, während Max den Drachen schüttelte und ihm die Lider aufzusperren versuchte.
Es schien zu funktionieren. Adolphus schniefte und bewegte ein Bein, dann öffnete er ein trübes Auge.
»W-w-w-was? Wassislos? Was soll das?«, sagte er, schüttelte den Kopf und stieß einen kleinen Feuerstrahl aus, der Grimms Schwanz nur knapp verfehlte.
»W-wer? W-was? Nein, nicht zum Frühstück. Danke. Was? Nein. Kellerasseln!«
»Hoffnungslos«, sagte Grimm betroffen. »Besonders viel los war in seinem Oberstübchen ja nie, aber der Zauber muss sein Hirn endgültig aufgeweicht haben.«
Adolphus kämpfte sich auf die Beine, taumelte, schüttelte sich und sperrte beide Augen auf.
»Brrr!«, machte er, spuckte Feuer und sah sich um. »Olivia! Max! Grimm! Jippie, alle beieinander! Toll! Was wollen wir spielen?«
»Aha«, sagte Grimm. »So hohlköpfig wie sonst auch. Das ist immerhin ein Anfang.«
»Adolphus!«, rief Olivia voller Freude und nahm den Drachen fest in den Arm. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Adrians Zauber hat dich außer Gefecht gesetzt. Wir wussten nicht einmal, ob wir dich überhaupt wieder wach kriegen würden. Wir sind hier in Sir Richard Hogsbottoms Zimmer eingesperrt und du musst uns helfen. Du musst aus dem Fenster fliegen und Hilfe holen!«
»Oh, okay, alles klar. Einverstanden! Ich rette euch! Das macht Spaß!«, rief Adolphus. Er sprang zum Fenster hinauf und schielte nach unten.»Oh. Äh. Das ist aber ganz schön hoch, oder?«, sagte er kleinlaut.
»Aber Adolphus!«, stöhnte Olivia. »Du bist ein hoffnungsloser Fall. Wie kann ein Drache Höhenangst haben? Wir sind bloß im zweiten Stockwerk!«
Max hüpfte zum Fenster.
»Heb mich hoch«, quakte er Olivia zu. »Ich will sehen, wo wir sind.«
Olivia nahm ihn vorsichtig auf und setzte ihn neben Adolphus auf das Fensterbrett. Max sah hinaus.
»Ich kann die Zugbrücke sehen!«, sagte er. »Wir sind an der Vorderseite der Burg. Und nicht so hoch. Komm schon, Adolphus! So schlimm ist es nicht.«
»Oh, also … äh …«, sagte Adolphus argwöhnisch, streckte eine Klaue aus dem Fenster und zog sie dann eilig zurück. »Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich nicht richtig wohl …«
»Oh nein! Olivia! Ich kann Adrian sehen!«, kreischte Max plötzlich und hüpfte auf der Stelle. »Er hat sein Pferd dabei – und Jakob. Sie reden mit den Wachmännern am Burgtor! Er entkommt!«
»Wo?«, rief Olivia.
Auf Zehenspitzen lugte sie durchs Fenster. Dann sah sie es auch. »Oh nein!«, stöhnte sie. »Das schaffen wir nie! So schnell können wir niemanden benachrichtigen!«
»Was machen wir jetzt bloß?«, jammerte Max. Ihre Tatenlosigkeit quälte ihn. »Wir können sie nicht aufhalten, wir können ihnen nicht folgen. Wir wissen nicht, wohin sie reiten, wir haben keine Pferde, um uns an ihre Fersen zu heften. Und wenn wir welche hätten, würden sie uns bemerken und – ich hab’s!« Mit einem Schwimmfuß schlug er sich vor die Stirn. »Warum bin ich nicht vorher darauf gekommen? Adolphus, du musst aus dem Fenster fliegen und du musst mich mitnehmen! Wir fliegen ihnen einfach hinterher und retten den Prinzen selbst!«
»Genial!«, rief Olivia. »Adolphus kann dich in seinen Klauen tragen! Und wenn du bei ihm bist, hat er bestimmt auch keine Angst mehr, stimmt’s, Adolphus?«
»Äh, also, mmmh … vielleicht nicht ganz so große«, sagte Adolphus unsicher.
»Gute Idee, Max«, sagte Grimm und sprang selbst auf das Fensterbrett. »Ausgezeichnet. Und wenn du ihr Versteck erst gefunden hast, kannst du zu Adrian Hogsbottom hüpfen und ihn mit deinen Schwimmfüßen grün und blau schlagen.«
Max überlegte. »Vielleicht sollte ich den Prinzen nicht als Frosch retten«, gab er zu.
»Aber Max!«, rief Olivia aufgeregt. »Ich habe doch immer noch den Umkehrzauber! Du kannst dich zurückverwandeln, wenn du da bist!«
»Genial!«, sagte Max. »Obwohl ich einer körperlichen Auseinandersetzung vielleicht eher aus dem Weg gehen möchte, auch wenn ich zurückverwandelt bin. Bestimmt kann ich den Prinzen auch ohne einen richtigen Kampf retten …« Er hüstelte und mied Olivias Blick.
Olivia schluckte. »Schon in Ordnung«, sagte sie und dachte an Artus und wie besorgt er ausgesehen hatte. »Ich komme schon klar. Finde den Prinzen. Mich kannst du nachher befreien.«