»Hertzog hat damals dem Schimpansen nur eine kleine Menge Gewebe injiziert«, erinnerte ich mich laut. Das Gewebe hatte er diesem Ding entnommen, das von Brandons Gehirn Besitz ergriffen hatte, dem Ding, das Bach schon zuvor Ganglion getauft hatte – von dem er damals allerdings behauptet hatte, bis zu Brandons Obduktion nur tote Exemplare entdeckt zu haben. Mittlerweile war ich da alles andere als sicher. Bach würde mir auch glaubhaft zu versichern versuchen, dass Kennedys Ermordung lediglich die Tat eines verwirrten Einzeltäters gewesen sei, wenn er sich ausrechnete, damit durchzukommen. Die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge schien für ihn gar nicht zu existieren; Machiavellis berühmt-berüchtigter Spruch, dass der Zweck die Mittel heilige, schien geradezu auf ihn zugeschnitten zu sein.
Als Bach nicht antwortete, hakte ich nach: »Das war kein Stück eines Beines, kein intaktes Ganglion, nur ein Haufen Zellen in einer wässrigen Lösung. Richtig?« Dabei hatte ich plastisch das Bild des Schimpansen vor mir, dem Hertzog diese Lösung injiziert hatte, ein Wesen, das seinerzeit mein Gespräch mit meinen damaligen Kollegen mit Blicken verfolgt hatte, als würde er jedes Wort verstehen. Vielleicht war es auch so. Vielleicht hatte dieses... Etwas, dieses in dem Affen heranwachsende Ganglion auch nur gespürt, was um es herum vorging. Im Grunde genommen war es aber vollkommen gleichgültig. Tatsache war jedenfalls, dass es viel gefährlicher war, als ich seinerzeit vermutet hatte.
Aber das war im Moment fast unwichtig. Denn mit der Erinnerung kam die Angst. Die Angst um Kim, in der sich noch immer ein Rest des Ganglions eingegraben hatte, ganz offensichtlich, denn sonst hätte sie nicht die Nähe ihrer... Artgenossen spüren können.
Es dauerte ein paar Sekunden, bevor Bach meine Frage mit einem Nicken belohnte. Ich bezweifelte plötzlich, dass ich in dieser Sache jemals mehr an Antwort von ihm erhalten würde als dieses einzelne, genau bemessene Kopfnicken. Alles, was er sagte, wenn er der Welt diesen starren Gesichtsausdruck zeigte, pflegten Gegenfragen, allgemeine Behauptungen, Ausweichmanöver oder glatte Lügen zu sein. Vielleicht ging ihm das Thema wirklich nahe und wenn es so war, dann wollte ich verdammt sein, ehe ich davon abließ und von ihm.
»Hat er jemals untersucht, ob eine Infektion auch über die Luft möglich ist?« Ich erkannte seinen spöttischen Blick als die Erwiderung und hob die Hände. »In Ordnung. Keine Antwort.«
»Sie wollten aussteigen«, erinnerte er mich trocken.
»Sie wollen mich nicht gehen lassen«, erwiderte ich kurz angebunden.
Bach nickte erneut, zweimal. »Sieht so aus, als hätten Sie einen Fehler gemacht. Sie sind nicht Fisch noch Fleisch, John. Sie sind nicht mehr drin, aber Sie kommen auch nie wieder raus. Ich hatte Sie gewarnt.«
»Wo wir gerade von Aussteigen reden«, sagte ich, seinem unvermittelten Angriff ausweichend, »was ist eigentlich aus Doktor Hertzog geworden?«
»Carl hatte womöglich Heimweh«, sagte Bach nachdenklich. Ich fragte mich, warum es wie eine Drohung klang. Es war wieder eine von diesen Antworten, mit denen Bach seine Gegner zu verhöhnen pflegte. Es war gerade so, als müsse er sich und ihnen beweisen, dass sie ihm nicht gewachsen waren.
»Hertzog ist ein erstaunlicher Bursche«, fuhr Bach fort. »Er fand heraus, dass die Ganglien Ähnlichkeiten mit einer bestimmten Art von Schleimpilzen aufweisen.«
»Mit was?«, fragte ich irritiert. Das ganze Gespräch begann eine Richtung zu nehmen, die mir ganz und gar nicht gefiel. Meine Vermutung, dass es ihm nur darum ging herauszubekommen, wie viel wir wussten und wie viel wir ausgequatscht hatten, löste sich langsam in Luft auf. Was wollte er wirklich von mir? Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich vermutet, dass er Zeit gewinnen wollte. Doch wozu? Um Kimberley erneut einer ART zu unterziehen oder sie sonst wie zu drangsalieren?
»Dictyostelium ist ein Schleimpilz.« Bach spitzte die Lippen. »Acrasiomycota«, sagte er betont. »Ich habe dreimal nachfragen müssen. Etwas ganz Besonderes, nicht Vielzeller, nicht Einzeller, sondern beides. Kann sich aus einzelnen Zellen zusammenfügen und eine Art Organismus bilden und dann einfach wieder zerfallen. Jede Zelle trägt das vollständige Programm, wie eine Samenzelle. Hertzog sagt, ein Ganglion ist auch so etwas... ein Aggregationsplasmodium. Ganglien können sich auflösen, sich vollständig im Körper verbergen und dann wieder zusammenkommen. Sie nisten nicht nur in der Kehle oder im Hirnstamm, sie durchsetzen den gesamten Körper wie ein Pilz, mit feinen Myzelien bis in die Zehen und Fingerspitzen. Sie wuchern an der Amygdala und durchdringen das gesamte Stammhirn. Das ist so, als wenn man ein zweites Nervensystem hätte. Hertzog glaubt, wenn wir den pH-Wert des Blutes verändern und diesen ganzen Voodoo-Zauber vollziehen, den wir so hochtrabend ART nennen, dann lösen wir nur eine automatische Reaktion der einzelnen Zellen aus und das Ganglion fügt sich zusammen.«
»Eine automatische Reaktion?«, wiederholte ich verständnislos. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Was hatten Schleimpilze mit Kim zu tun? Das Ganglion, das Kimberley befallen hatte, hatte Hertzog zwar mit seiner ART aus ihr herausgewürgt. Aber es steckte noch irgendetwas in ihr, und wenn Bach mit seinen Andeutungen Recht hatte, konnte es auch gar nicht anders sein, als dass es sich weiterentwickelte, eben genau wie ein Pilz, der sich verästelnd ins Erdreich ausdehnt oder in einem befallenen Wirt.
»Flucht, Fortpflanzung, wir wissen es nicht. Wir verändern die Körperchemie, dem Fremdgewebe wird es ungemütlich und es fängt an, sich im Kehlraum zu einem differenzierten Vielzeller zusammenzuziehen.« Bach drückte die Zigarette aus, obwohl sie noch nicht einmal halb zu Ende geraucht war. Anscheinend ließ dieses Bild selbst ihn nicht völlig unbeeindruckt. »Sagt Hertzog. Er hat eines der abgetrennten Pseudopodien in eine Schale gelegt. Nach zwei Tagen ist es zu einer Art durchsichtigem Wackelpudding zerfallen. Er sagt, es sei immer noch lebendig. In der richtigen Umgebung würde es wachsen und sich notfalls wieder zu einem Ganglion zusammensetzen können.«
»Ich verstehe«, sagte ich langsam. Nur mit Mühe unterdrückte ich die aufkommende Panik und nur ein Gedanke beherrschte mich: Nichts anmerken lassen, nicht Bach zeigen, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte als an Kim und das, was da in ihrem Inneren vorging, unbemerkt oder zumindest doch nicht offensichtlich, es sei denn, man war ihr so nah, wie ich es war. »Steel ist durchsetzt damit.«
»Jedes verdammte Stück Gewebe. Er schwimmt darin, weit mehr noch als Brandon. Er ist entweder schon lange infiziert gewesen oder es ist bei ihm besonders schnell gegangen.« Bach hielt eine neue Zigarette in der Hand, drehte sie zwischen den Fingern und schüttelte den Kopf, wie um sich über seine eigene Nervosität zu wundern. Er zündete sie nicht an. »Hertzog hat nach Brandon ein Dutzend Berichte produziert und jeder liest sich wie das Drehbuch zu einem verdammten Horrorfilm. Manchmal denke ich, wir sind alle reif für ein Irrenhaus.«
Ich lachte und war selbst davon überrascht.
»Was ist so komisch?«, erkundigte sich Bach ruhig.
»Nichts«, sagte ich, erschrocken über meine eigene Reaktion. Kim. Wo war sie? Was stellten sie mit ihr an? In meiner Phantasie überschlugen sich die Bilder, vermischte sich die Erinnerung an Brandons Obduktion mit der dieser fürchterlichen Prozedur, mit der Dr. Carl Hertzog zum erstenmal an einem lebenden Menschen versucht hatte, ein Ganglion auszutreiben, und das ausgerechnet bei Kim. Hertzog hatte wohl Heimweh, echoten Bachs Worte in meinem Kopf, und das empfand ich jetzt als doppelt bedrohlich, denn schließlich war Carl so etwas wie mein einziger Verbündeter bei Majestic gewesen und ein Garant dafür, dass niemand leichtfertig Experimente mit Kim anstellte.
»Was werden Sie mit Steel machen?«, fragte ich Bach so schroff wie möglich, um nicht zu offenbaren, dass ich mit der Frage eigentlich Kimberley meinte.