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Kim hielt meinem Blick stand, aber ich sah, dass sie jetzt nur noch mit letzter Kraft die Tränen zurückhalten konnte. Sie tat mir unendlich leid. Und der Gedanke, dass es nichts gab, was ich für sie tun konnte, trieb mich fast in den Wahnsinn.

»Du... hast Recht«, flüsterte sie schließlich. »Aber... aber da ist etwas, John. In mir. Etwas, das... das nicht dorthin gehört.«

»Ich weiß«, antwortete ich. »Aber wir werden damit fertig, Kim. Das verspreche ich dir.«

Ich musste wohl einigermaßen überzeugend geklungen haben, denn nach ein paar Sekunden zwang sich Kim zu einem Lächeln und wir gingen weiter. Innerlich aber fühlte ich mich erbärmlich und unendlich schwach und allein. Vielleicht weil ich das Gefühl hatte, Kimberley zum erstenmal im Leben wirklich belogen zu haben.

»Lass uns gehen«, sagte ich und nahm den Koffer auf. »Die Maschine geht in zehn Minuten.«

Sie nickte. »Ja, wir sollten machen, dass wir von hier wegkommen. Nicht auszudenken, wenn in der Telefonzentrale von Majestic jemand von den Hive sitzt.«

Daran hatte ich nicht gedacht. Ich blieb stehen, die Klinke der Tür, die ich ihr offen hielt, in der Hand, und starrte sie an. Als sie meinen Blick erwiderte, lächelte ich sie an.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Du bist eine Säule der Vernunft in meinem verwirrten Leben«, versetzte ich.

»Tolles Kompliment«, sagte sie ironisch und sah an sich herab. »Säule, hmmm?«

Sie trat aufs Flugfeld hinaus und drückte die Reisetasche an sich. »Du hast ihm nichts davon erzählt, wie Steel diesen Ruby übernommen hat.«

»Wir werden es Kennedy sagen«, sagte ich.

»Dann sollten wir das Flugzeug besser nicht verpassen«, stellte Kim fest und setzte sich in Bewegung. Wir liefen auf die Maschine zu, deren Rotoren bereits anliefen. Ein Mann von der Bodencrew kam uns entgegen, einen Kopfhörer ans Ohr gepresst.

»Haben Sie schon gehört?«, rief er über den Lärm, als er an uns vorbeitrottete. »Irgend so ein armer Irrer hat gerade Oswald erschossen, einfach so. Ein Dutzend Polizisten war Zeuge.« Kopfschüttelnd lief er weiter.

Wir tauschten einen Blick. Kim hielt die Reisetasche wie einen Schutzschild vor ihren Körper. Ich wusste, dass sie an Ruby dachte. Ich fasste sie am Ellenbogen und deutete auf die Maschine. Stumm setzten wir uns in Bewegung. Die Männer der Bodenmannschaft zogen die Leiter weg, sobald wir im Flugzeug waren. Ein paar Minuten später waren wir in der Luft und der Flughafen, das Motel, Fort Worth, Dallas und all die anderen Bauten inmitten der betonierten Steppe blieben unter uns zurück, als sich das Flugzeug nach Norden wandte. Für den Augenblick waren wir unseren Verfolgern einen halben Schritt voraus. Aber der Vorsprung schmolz immer weiter zusammen.

24. November 1963, 17:23

Washington D.C.

Das Haus lag auf der anderen Straßenseite, vielleicht zehn, allerhöchstens ein Dutzend Schritte entfernt; ein schlichtes, nicht besonders großes Haus in einer unauffälligen, nicht gerade teuren Wohngegend Washingtons. Es hätte einem Staubsaugervertreter gehören können, einem Tierarzt oder einem Angestellten eines Automobilkonzerns. Nichts daran war irgendwie außergewöhnlich und schon gar nichts deutete darauf hin, dass sein Bewohner in irgendeiner Weise außergewöhnlich sein könnte.

Genau diesen Eindruck sollte es ja auch erwecken. Doch auf mich wirkten die spießbürgerlich kiesbestreute Auffahrt und die schlichte Mahagonitür wie der Eingang zu Draculas Schloss.

Kim hatte kein Wort gesagt, als ich unsere nunmehr unwiderruflich letzte Barschaft am Flughafen nachgezählt und einem Taxifahrer ausgehändigt hatte, damit er uns hierher brachte, aber sie schwieg auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Ihr Gesicht war verschlossen, ja, fast starr, und in ihren Augen lag ein Ausdruck, der mich erschreckt hätte, hätte ich den Mut gehabt, ihrem Blick länger als eine Sekunde standzuhalten. Von der überraschenden Fröhlichkeit, die sie noch am Morgen in Dallas an den Tag gelegt hatte, war nichts mehr geblieben. Anders als ich hatte sie auf dem Flug hierher geschlafen, aber die wenigen Stunden schienen sie mehr Kraft gekostet zu haben, als sie ihr gaben. Ihr Gesicht war grau und sie war nicht im Stande, die Hände ganz still zu halten. Ich war sicher, dass sie wieder geträumt hatte.

Hinter uns fuhr das Taxi los und die Stille, die das rasch verklingende Geräusch des Motors verschlang, riss mich in die Wirklichkeit zurück. Wir waren weit und breit die einzigen Menschen auf der Straße und mit Sicherheit wurden wir von einem Dutzend neugieriger Augenpaare beobachtet. Wir würden auffallen, wenn wir noch länger hier herumstanden und das Haus anstarrten. Vielleicht taten wir es bereits.

»Komm«, sagte ich. »Keine Angst. Er wird dir helfen.«

Kimberley tat mir auch jetzt nicht den Gefallen zu antworten, sondern sah mich nur an; vermutlich ohne irgendeinen Hintergedanken. Sie war einfach müde und suchte einen Halt für ihren Blick. Trotzdem glaubte ich einen vorwurfsvollen Schimmer in ihren Augen zu lesen. Aber sie widersprach nicht, sondern setzte sich mit einem angedeuteten Kopfnicken in Bewegung, als ich von der Straße heruntertrat und die Haustür ansteuerte.

Ich griff mit der linken Hand nach der Klingel, versenkte die rechte in der Manteltasche und drückte den Knopf so heftig in die Fassung, dass das Blut unter meinem Fingernagel wich. Gedämpft durch das dicke Holz der Tür hörte ich einen sanften Glockenton, dem praktisch sofort schnelle, schwere Schritte folgten, die sich näherten, und in dem vielleicht zehnten Teil einer Sekunde, der noch verging, bevor die Tür geöffnet wurde, schossen mir hunderte von Bildern durch den Kopf, die sich mir gleich bieten würden. Der Anblick einer Revolvermündung, die genau auf mein Gesicht zielte, war davon vielleicht noch das Harmloseste. Es war Wahnsinn gewesen, hierher zu kommen; der dümmste Fehler, den ich je gemacht hatte. Ebensogut hätten wir gleich zu Bach gehen oder am Flughafen auf Steel warten können und...

Die Tür wurde mit einem Ruck aufgerissen und ich starrte in Dr. Hertzogs schreckensbleiches Gesicht. Der Ausdruck des mit Entsetzen gemischten Unglaubens in seinen Augen erschien nicht erst darin, als er mich ansah. Er musste uns bereits gesehen haben, als wir aus dem Taxi stiegen. Ich fragte mich, wie viele Leute uns vielleicht noch gesehen hatten.

»John?«, murmelte er. Dann weiteten sich seine Augen und er keuchte noch einmal: »John? Was um alles in der Welt...«

Ich ließ ihn nicht ausreden, sondern legte die linke Hand auf seine Brust, schob ihn mit schon etwas mehr als nur sanfter Gewalt wieder ins Haus zurück und folgte ihm; gleichzeitig machte ich einen halben Schritt zur Seite, damit Kimberley mir folgen konnte, und warf die Haustür hinter mir mit dem Absatz zu. Das alles dauerte weniger als eine halbe Sekunde und Hertzogs Gesichtsausdruck nach zu schließen bekam er nicht einmal richtig mit, wie ihm geschah. Er war offensichtlich zu hundert Prozent damit beschäftigt, abwechselnd mich und Kim anzustarren.

»Hallo, Carl«, sagte ich. »Wir waren gerade in der Gegend und da dachte ich mir, wir schauen einfach mal vorbei. Sie haben doch nichts dagegen?«

Hertzog japste fassungslos nach Luft. »Sind... sind Sie wahnsinnig geworden?«, murmelte er. »Was... was tun Sie hier? Großer Gott, John – ganz Majestic sucht nach euch beiden! Ihr braucht...«

»Hilfe«, fiel ich ihm ins Wort. »Genau. Aus keinem anderen Grund sind wir hier.«

Hertzog antwortete nicht gleich. Sein Gesicht hatte mittlerweile noch mehr Farbe verloren und leuchtete weiß im Halbdunkel der Diele, aber ich sah, wie er am ganzen Leib zu zittern begann. Ich hatte die rechte Hand immer noch in der Manteltasche, aber plötzlich wurde mir klar, wie albern das war. Hertzog war gar nicht in der Verfassung, sie zu bemerken und zu glauben, dass ich vielleicht eine Waffe darin hielt, mit der ich auf ihn zielte.

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