Warum es während der Sonnenfinsternis regnen mußte
In der Woche vor der Sonnenfinsternis 1999 war im Himmel die Hölle los. Botenengel flitzten, das Hosiannasingen wurde mehrere Male kurzfristig abgesagt, und das Frohlocken fiel deutlich unfroher aus als üblich. »Wie allgemein bekannt sein dürfte«, eröffnete einer der Erzengel die Krisensitzung und hielt dabei den Fahrplan der Himmelskörper in die Höhe, »findet am 11. August über Europa eine totale Sonnenfinsternis statt.« »Schön!« freute sich der Leiter der Schutzengelstaffel. »Ja, sicher.« Der Erzengel warf ihm einen absolut unlustigen Blick zu. »Eines der ergreifendsten Naturschauspiele, die der Chef erfunden hat, zweifellos – die Situation ist nur, daß wir in einer Weise ausgetrickst worden sind, daß ich mich frage, was die Schutzengel die ganze letzte Zeit eigentlich getan haben.« »Wir haben unseren Dienst getan«, verwahrte der Angesprochene sich. »Ganz normal.« »Ausgetrickst?« fragte ein anderer Engel. »Von wem?« Der Erzengel seufzte. »Von wem wohl?«
»Vom Versucher?« Der Engel kratzte sich am Heiligenschein. »Aber der kann doch nichts ausrichten gegen die Bewegung der Gestirne…?« »Das Problem ist«, setzte der Erzengel auseinander, »daß die Sonne sehr hell ist. Nicht so hell wie Sein Antlitz, natürlich, aber immerhin so hell, daß die Menschen eine Schutzbrille benötigen, um hineinzusehen. Und hineinsehen werden sie, um die Überdeckung von Mond und Sonne zu beobachten.« »Und der Versucher hat verhindert, daß solche Schutzbrillen hergestellt werden!« »Leider war er viel raffinierter. Er hat einige Hersteller solcher Schutzbrillen dazu verführt, den Todsünden des Geizes und der Unmäßigkeit anheimzufallen.« Als er die fragenden Blicke der anderen Konferenzteilnehmer bemerkte, fügte der Erzengel zur Erläuterung hinzu: »Ein paar Geschäftsleute, die den Hals nicht vollkriegen konnten, haben bei der Herstellung ihrer Brillen geknausert und minderwertige Lichtschutzfolie verwendet. Trotzdem haben diese Brillen das Prüfsiegel erhalten – vermutlich haben sich einige Prüfer des weiteren der Todsünde der Trägheit schuldig gemacht -, und als Resultat sind nun Millionen von Schutzbrillen im Umlauf, die die Augen nicht ausreichend schützen, aber von den tauglichen Brillen nicht zu unterscheiden sind.« Empörung und Entsetzen erklang in der Runde. »Die Schutzengel müssen eingreifen!« forderte jemand, ein anderer rief: »Dann muß die Sonnenfinsternis ausfallen!« »Wir tun, was wir können«, erklärte der oberste Schutzengel, »aber ich verwahre mich dagegen, die Lösung des Problems allein auf uns abwälzen zu wollen!« Hier stimmte ihm der Erzengel zu. »Der Chef hat ganz klar gemacht, daß ein Wunder nicht in Frage kommt. Er will, daß wir die Situation möglichst unauffällig bereinigen. Und mir fällt dazu nur eine Lösung ein.« Er sah jeden einzelnen der Anwesenden an, bis sein Blick auf Petrus hängenblieb. »Eine Wolkendecke.« »Ja!« rief jemand. »Genau!« ein anderer. »Genial!« ein dritter. »Moment!« rief Petrus. »Halt! Schlagt euch das aus dem Kopf. Es ist August. Mitten im Sommer. Wir sind gerade dabei, eine richtiggehende Hitzewelle abzufackeln. Da geht gar nichts.« Der Erzengel breitete die Flügel aus, was bei seiner Spannweite ehrfurchtgebietend aussah. »Millionen schwitzender Menschen in den überfüllten Wartezimmern von Augenärzten werden das zu schätzen wissen«, erklärte er sarkastisch. Petrus raufte sich den Bart. »Wo soll ich denn jetzt Wolken hernehmen? Ich habe über Europa gerade nur Hochdruckzonen, heiße Luftmassen, Warmluftfronten… Letztens hieß es noch, ich soll dafür sorgen, daß es ein Jahrhundertereignis wird. Strahlender Himmel und Sonnenschein war gewünscht. Bitte, ist unterwegs. Und jetzt auf einmal soll ich es regnen lassen?« Der Erzengel sah ihn bekümmert an. »Wenn dir das nicht gelingt, und uns nichts anderes einfällt«, meinte er, »dann hat der Verderber gesiegt. So sieht es aus.« Einer der kleinen Rauschgoldengel flötete: »Denk doch an die Kinder und ihre großen, unschuldigen Augen!« Petrus seufzte. »Wolken und Regen, ausgerechnet am Tag der Sonnenfinsternis. Das wird meinen Ruf endgültig ruinieren.« Er zuckte ergeben die Schultern. »Aber gut – ich werde tun, was ich kann…«
© 1999
Jenseits der Berge
Sie hatten Livet erwischt. Sie waren aus dem Nachthimmel heruntergekommen wie ein einstürzendes Dach, schwarzes Geflatter dunkler als die Nacht, wirbelnde Krallen, messerscharf, gierig zischende Mäuler, hatten Livet mit sich fortgetragen und Bran zurückgelassen, einfach so. Und ihr ohrenbetäubendes Kreischen hatte geklungen wie höhnisches Gelächter.
Bran blieb liegen, bis er glauben konnte, daß es vorbei war. Als die Schreie sich verloren, hob er den Kopf aus dem kalten Schlamm, aber er konnte sich nur auf den Rücken drehen, so sehr zitterte er noch. Seine Hand bekam den Dornenstock zu greifen, und ein wütendes, hilfloses Schluchzen drang wie von selbst aus ihm heraus. Nutzlos. Es gab keine Waffen, keinen Schutz.
Wenn Opferzeit war, mußte Blut fließen, so war es. Wenn sie nachts keine Beute fanden, kamen sie bei Tage. Wenn sie auf den Feldern und in den Gassen niemanden kriegen konnten, drangen sie in die Häuser ein. Wenn die Vampire hungrig waren, dann mußte ein Mensch sterben.
Und heute nacht war die Reihe an Livet gewesen. Bran stemmte sich elend hoch. Gellende Schreie hallten von den Bergen wieder, weit entfernt. Jetzt waren sie im Blutrausch. Er mußte machen, daß er das Dorf erreichte. Heute nacht würden sie jeden nehmen, den sie kriegen konnten, ob sie noch hungrig waren oder nicht.
Aber er war genug gerannt heute nacht. Seine Schenkel brannten vor Erschöpfung, und der kalte Wind, der den Schnee von den Bergen herabtrug, fror ihm das Leben aus dem Leib.
Einfach vornüberkippen, liegenbleiben, selbst zur Beute werden. Es endlich überstanden haben. Nur die Füße waren nicht einverstanden, trugen ihn weiter, stapften durch aufgeweichte Gassen, fanden den Weg zum Versammlungshaus, und dort zogen ihn Hände zur Tür herein, in dampfende Wärme.
"Bran… er ist zurück… er lebt…" Gemurmel um ihn herum. Man setzte ihn an den Ofen, jemand reichte ihm eine Schale mit Brühe. Es war eine sehr dünne Brühe. Dieses Jahr reichte es kaum zum Leben. Die Vampire hatten die Felder verwüstet wie selten zuvor.
"Geht es dir besser?"
Er nickte, wärmte die Hände an der Schale. Aber die Wahrheit war, daß er nicht wußte, ob es ihm gut ging oder nicht. "Livet?"
"Sie haben ihn geholt."
Das Raunen trug Livets Namen weiter. Aus dem Raum der Frauen drang gleich drauf Wehklagen. Aber gleichzeitig war so etwas wie Aufatmen zu spüren – Hoffnung, daß die Vampire nun wieder einmal zufrieden sein würden für eine Weile.
"Dies ist ein Abend der Wunder", rief plötzlich jemand. "Von dreien, die wir tot glaubten, sind zwei unversehrt zurückgekehrt!"
"Ehre sei dem Herrn des Tages und der Nacht", murmelte ein Chor dumpfer Männerstimmen.
Bran sah den Mann neben sich fragend an.
"Siren ist zurückgekommen", erklärte der.
"Siren? Aber wie kann das..?" Bran erinnerte sich, daß der junge Bursche vor zwei Monden verschwunden war. Natürlich hatte ihn jeder für tot gehalten. Es war unglaublich, daß er diese lange Zeit ohne den Schutz des Dorfes überstanden haben sollte.
"Dort hinten sitzt er. Und erzählt Dinge, die nicht mal das dümmste Kind glauben würde."
"Ja? Was denn?"
"Kannst ihm ja zuhören. Er hört gar nicht auf zu reden."
Bran erhob sich mühsam und mischte sich unter die Männer, die einen Tisch umringten, an dem wahrhaftig Siren saß, gesund und lebendig, und aufgeregt anredete gegen die Wand aus zweifelnden oder spöttisch grinsenden Gesichtern ringsum.
"Stellt euch Wiesen vor, grün und saftig, soweit der Blick geht. Stellt euch Felder vor, jedes so groß wie unser ganzes Dorf, die herrlich blühen. Stellt euch Bäume vor, Hunderte davon, die voller süßer Früchte hängen…"