"Märchenland!" warf jemand ein.
"Die Menschen dort", rief ihm Siren entgegen, "wissen nicht einmal, was Vampire sind. Sie versammeln sich nachts unter freiem Himmel und feiern, zünden große Feuer an, um die herum sie fröhlich tanzen, lachen, singen, essen und trinken. Sie haben keine Angst vor der Nacht – sie lieben sie geradezu!"
"Geschichten erzählen konntest du schon immer, Siren", meinte einer und erntete zustimmendes Gelächter.
"Ich habe das alles gesehen!" erregte sich Siren. "Ich habe das alles gesehen, mit diesen Augen! Mit diesen Händen habe ich reife Früchte von Bäumen gepflückt, ganze Körbe voll. Mit diesen Beinen bin ich durch Felder gegangen, deren Korn mir bis zur Hüfte reichte -"
"Wo ist dieses Land?" fragte Bran.
Siren sah ihn an. "Ich sagte es doch schon – jenseits der Berge. Ich habe einen Weg über die Berge gefunden. Und ich sage euch, auf der anderen Seite liegt ein Land, das unvorstellbar schön und reich ist; ein Land, in dem es keine Vampire gibt!" Er hob hilflos die Hände. "Warum versteht mich denn keiner? Sehe ich so aus, als sei ich verrückt geworden? Ich hätte dort bleiben können. Ich hätte nicht zurückzukommen brauchen, um euch davon zu berichten. Ich hätte nicht riskieren müssen, daß die Vampire mich doch noch erwischen. Ich hätte einfach bleiben können. Ihr glaubt mir nicht, schön – aber ihr braucht mir nicht zu glauben! Ihr könnt einfach mit mir kommen, und ich zeige euch den Weg, den ich gegangen bin. Wir brauchen nicht hierzubleiben, versteht ihr? Wir brauchen uns nicht sinnlos den Vampiren zu opfern. Wir können einfach fortgehen in ein besseres Land."
"Vielleicht", warf eine bedächtige, Ehrfurcht gebietende Stimme ein, "hat das alles seinen guten Grund." Der Spott und das Gelächter erstarben. Die Männer wichen respektvoll beiseite, um den alten Gurot durchzulassen. Man machte ihm Platz, damit er sich an den Tisch setzen konnte, Siren gegenüber.
Gespannte Stille herrschte plötzlich. Gurot legte die Heilige Schrift vor sich hin, rieb sich die Reste der Opferkräuter von den Fingerspitzen und musterte den jungen Siren aufmerksam, der unter diesen Blicken kleiner zu werden schien. Langsam sagte er: "Ich möchte dir zunächst sagen, Siren, daß ich mich freue, daß du noch am Leben bist, und daß ich dich beglückwünsche."
"Danke", sagte Siren tonlos.
"Man hat mir von deinen Erzählungen berichtet, während ich das Huldigungsopfer darbrachte", fuhr der Alte bedächtig fort, "und ich denke, ehe du dich immer wieder und wieder wiederholst, sollten wir alles einmal gründlich bedenken und von allen Seiten betrachten."
Siren sagte nichts.
"Du bist der Überzeugung, daß du uns etwas von enormer Wichtigkeit mitzuteilen hast; hat man mir das richtig überbracht?"
"Ja." "Und du wunderst dich, daß deine Schilderungen hier auf, sagen wir einmal, Skepsis stoßen. Sehe ich das recht?" "Genau."
Gurot faltete die Hände in einer Geste der Nachdenklichkeit. "Nun, Siren, ich möchte, daß du dich einmal in die Lage dieser Leute hier versetzt. Du bist noch sehr jung, gerade mannbar geworden, in dir brennt noch die Hitze der Jugend und ihre Phantasie. Überdies weißt du selbst, daß du nicht gerade das warst, was man ein wohlerzogenes Kind nennt; du erinnerst dich sicher selber am besten an manche Streiche, Lügen und andere Vorfälle, die man beim besten Willen nicht als Zeichen übermäßiger Zuverlässigkeit verstehen kann. Versteh mich recht, ich verurteile damit weder dich noch das, was du sagst, ich möchte im Gegenteil alles gründlich bedenken, aber ich möchte zunächst, daß du mir sagst, ob ich gerade etwas Unwahres über dich erzählt habe."
"Nein", gestand Siren, "aber…"
Gurot hob eine Hand, um ihn zu unterbrechen. "Ferner möchte ich wissen, ob du dir vorstellen kannst, daß einige der hier Anwesenden einfach aufgrund deiner Jugend und der Erinnerungen an deine Kinderstreiche voreingenommen gegen dich sind. Kannst du dir das vorstellen?"
"Ja."
"Gut. Aber wie gesagt, wir wollen alles gründlich bedenken, unabhängig von all diesem." Der alte Mann legte seine Hand auf das Buch vor ihm. "Du weißt, daß ich mich eingehend mit den alten Schriften und Überlieferungen befaßt habe. Danach zu urteilen, hat es immer diese zwei Seiten gegeben: auf der einen Seite wir, die Menschen – auf der anderen Seite sie, die Vampire. Man kann natürlich fragen, warum. Und viele alte Schriften tun das auch. Meistens fragen sie gleichzeitig nach Gott, nach dem Schöpfer aller Dinge, und nach der Rolle, die wir oder die Vampire im Schöpfungsplan spielen. Die unangenehmste Antwort ist meist die, daß wir Menschen vielleicht einfach nur als Futter für die Vampire dienen sollen. Das gefällt uns nicht. Mir gefällt das auch nicht, ebensowenig wie dir, aber andererseits können wir unser Gefallen oder Mißfallen nicht zum Maßstab aller Dinge machen, nicht wahr? Etwas ist so, wie es ist, unabhängig davon, ob es mir gefällt oder nicht. Eine andere Erklärung, die immer wieder gefunden wird, ist, daß es einfach immer ein Gleichgewicht geben muß zwischen der Zahl der Menschen und der Zahl der Vampire. Wenn es viele Menschen gibt, steigt die Zahl der Vampire, und diese dezimieren wieder die Anzahl der Menschen. Gibt es umgekehrt zu wenig Menschen, verhungern viele Vampire, und die Menschen können sich wieder vermehren. Ohne die Vampire, heißt das, würden wir Menschen uns schrankenlos, ins Unermeßliche vermehren." Gurot spreizte die Finger. "Aber, wie gesagt, das ist auch nur ein Erklärungsversuch, der uns nicht zu gefallen braucht. Was man mit Sicherheit sagen kann, ist, daß wir nicht wissen, wozu Vampire da sind. Wir wissen aber auch nicht, wozu der Tag da ist oder die Nacht. Wir wissen nicht einmal, wozu wir selber da sind, oder wozu es so etwas wie Leben überhaupt gibt. Letztlich ist alles ein Mysterium. Alles ist einfach so, wie es ist."
Gurot sah in die Runde, in andachtsvoll lauschende Gesichter. "Ich muß wohl nicht erwähnen, daß in den alten Schriften nirgends, nicht an einer einzigen Stelle, die Rede davon ist, daß es jenseits der Berge so etwas wie ein gesegnetes Land geben könnte. In den Überlieferungen existiert nicht der geringste Hinweis auf ein Land, wo keine Vampire, sondern nur glückliche Menschen leben. Allerdings sprechen die Schriften von einem gelobten Land, aber um dorthin zu gelangen, muß man ein gottgefälliges Leben im Diesseits führen, ein Leben der Arbeit, der Entsagungen und der Prüfungen. Das ist natürlich anstrengend und unangenehm. Daß man dieses gelobte Land auch anders, nämlich durch einen einfachen Fußmarsch erreichen könne – das hat noch nie jemand behauptet. Noch nie bis heute abend. Bis du kamst, Siren. Sag mir eines: findest du das nicht selber merkwürdig?"
"Vielleicht ist vor mir noch nie jemand zurückgekehrt von dort?"
"Ah ja?" Gurot hob die Augenbrauen. "Aber jetzt bist ja du da, nicht wahr? Jetzt wird alles anders. Die heiligen Schriften, die alten Bücher, das können wir alles bedenkenlos verbrennen, denn du bringst uns ja die Wahrheit. Unsere zahllosen Toten können wir vergessen, denn sie sind ja ganz sinnlos gestorben. Denn ein Zeitalter geht zu Ende heute abend, nicht wahr, und ein neues beginnt. Sollen wir es das Zeitalter des Siren nennen?" Seine Stimme war schneidend scharf geworden.
Siren schaute hilflos drein. "Ich kann euch nur sagen, daß ich…"
"Ganz zweifellos glaubst du, was du sagst, Siren", nickte Gurot. "Ich glaube dir. Wirklich. Ich bin der festen Überzeugung, daß du wirklich glaubst, jenseits der Berge liege die Erlösung."
"Ja?"
"Ja, sicher. Siehst du, Siren, mir geht es so, daß ich das gerne auch glauben würde. Wirklich, mein Herz brennt danach, dir zu glauben. Aber mein Kopf…" Er lehnte sich zurück und lächelte wehmütig. "Mein Kopf kennt mittlerweile die Schliche des Herzens. Das Herz glaubt, was es sich wünscht. Höre mir nun gut zu, Siren, und versuche von meiner Lebenserfahrung zu profitieren. Ich will dich nicht verurteilen. Ich möchte dir nur erklären, was in dir vorgeht. Man glaubt das, von dem man sich wünscht, es wäre so. Und es ist immer das Herz, das sich etwas wünscht. Es ist auch das Herz, das Angst hat. Und wenn das Herz in Aufruhr gerät, dann denkt der Kopf nicht mehr klar, dann gerät er in Fieber und verstrickt sich in die unglaublichsten Hirngespinste. Wer von uns hat das noch nicht erlebt? Man verliebt sich in ein Mädchen – und schon gewinnt man aus der kleinsten Freundlichkeit, die sie einem erweist – und ebenso leicht aus jeder Unfreundlichkeit – die unumstößliche Gewißheit, daß sie unsere Liebe insgeheim erwidert. Sagt, erinnere ich mich da richtig?"