Bolitho blieb an der Pforte stehen und lüftete grüßend seinen Hut zum Achterdeck. Von morgen an mochte er das Schiff mit ganz anderen Augen sehen.
Er wußte, daß Herrick ihn besorgt beobachtete — entweder weil er befürchtete, er könne wegen seiner beeinträchtigten Sehkraft stolpern, oder weil er wußte, daß seine Aufrichtigkeit zu einer Entfremdung zwischen ihnen geführt hatte.
Kapitän Francis Inch beugte sich über die Seekarte und zupfte mehrmals an seinem linken Ohrläppchen, was er oft tat, wenn er über seinen nächsten Schritt nachdachte. Heli-con stampfte unangenehm im groben Seegang, den der zunehmende Wind aufwühlte. Es war fast Mittag, doch ein dicker werdender Dunst, den selbst der Wind nicht vertreiben konnte, hatte die Sicht auf wenige Meilen reduziert.
Vor seinem inneren Auge sah Inch die Schiffe vor sich: Dispatch direkt achteraus und Icarus ein undeutlicher Schemen am Ende der Linie. Inch haßte das unbeständige Wetter. Der Wind war in den zwei Tagen, seit Bolitho das Geschwader verlassen hatte, umgesprungen und blies nun aus West, von Frankreich her.
Er studierte die Karte aufmerksamer und war sich der Gegenwart der beiden anderen Kommandanten, die schweigend ihren Wein tranken, sehr bewußt.
Zweihundert Meilen südwestlich von Toulon, und schon mußten sie sich in einem aufkommenden Sturm abquälen. Wenn der Wind nicht bald umschlug oder nachließ, mochten sie von ihrer Station abgetrieben oder gar so weit zerstreut werden, daß sie den Kontakt verloren.
Er dachte an die kleine Brigg Rapid, die den anderen Schiffen weit vorauslief. Inch nahm sie hart ran, beneidete aber ihren Kommandanten Kapitän Quarrell mehr, als er sich eingestehen mochte. Quarrell hatte wenigstens Bewegungsfreiheit, während sie sich schwerfällig und langsam mit dem Sturm herumschlugen, auf Station blieben. Er sah auf und gewahrte durch die Heckfenster Schaumkronen.
«Ich muß bald aufbrechen«, sagte Kapitän Houston.»Sonst finde ich in diesem Wetter mein Schiff nie wieder.»
Montresor von der Dispatch bemerkte:»Solange der Wind so bleibt, können wir nichts unternehmen.»
Inch schaute sie ungeduldig an. Negative Einstellung. Keiner war bereit, über das Naheliegende hinauszusehen. Montresor entpuppte sich als guter Kommandant, schien sich aber von dem säuerlichen Houston leiten zu lassen.
Letzterer sagte:»Ich halte es für Wahnsinn, unsere einzige Fregatte zu einem wilden Täuschungsmanöver auszuschicken, obwohl wir sie doch hier brauchen. «Von Inchs Schweigen ermuntert, fuhr er fort: «Rapid allein ist mit der Suche nach den Franzosen überfordert.»
Inch sah sich in der Kajüte um. Trotz der Gemälde, die er aufgehängt hatte, wirkte sie noch immer französisch. Die Bilder stellten ländliche Szenen dar, Bäche und Wiesen, Kirchen und Bauernhöfe seiner Heimat Dorset. Er dachte an Hannah, seine Frau. Sie hatte ihm bereits einen Sohn geschenkt, und das zweite Kind war unterwegs. Konnte sie sich eigentlich vorstellen, was er tat?
«Vizeadmiral Bolitho hat uns Barracoutas Aufgabe erklärt«, sagte er.»Ich vertraue seinem Urteil.»
«Aber sicher«, meinte Houston und lächelte Montresor schief an.»Wir kennen ihn halt nur noch nicht so lange wie Sie.»
Inch setzte ein gefährliches Grinsen auf.»Er hat mir bis zu seiner Rückkehr das Kommando übergeben. Das sollte Ihnen reichen.»
Houstons Lächeln schwand bei Inchs neuem Tonfall.»Ich wollte keine Kritik an seinen Überlegungen üben. Es geht nur.»
«Gut. «Inch lauschte dem Ächzen der Balken, dem fernen Knallen der Segel, als das Schiff vom Wind gekrängt wurde. Bolitho fehlte ihm. Er schien immer in der Lage zu sein, die Pläne des Feindes vorauszusagen, und Inch hatte nie erlebt, daß er die Tricks der Franzosen unterschätzte.
«Vielleicht sollten wir uns mit Nelsons Geschwader vor Toulon in Verbindung setzen«, sagte Houston.»Mag sein, daß er weiß, worum es geht. Ich glaube noch immer, daß das Ziel der Franzosen Ägypten ist. Wir haben Napoleon einmal bei Abukir geschlagen, aber vielleicht will er es noch mal versuchen. «Er stand auf uid wiegte sich mit den Bewegungen des Decks.»Nun muß ich mich empfehlen.»
Inch nickte bedauernd. Es gab noch viel zu besprechen, doch Houston hatte recht: Wenn das Wetter sich weiter verschlechterte, würde er nie zu seinem Schiff zurückfinden.
Er hörte eine ferne, wie verlorene Stimme aus dem Rigg.
Montresor sagte:»Der Ausguck hat etwas gesichtet. «Er schüttelte sich.»Kein guter Tag für Überraschungen.»
Es klopfte an. Inchs Erster Offizier war persönlich gekommen.»Signal von Rapid, Sir: Schiff im Nordwesten gesichtet.»
Er warf den anderen einen Blick zu.»Der Wind wird immer stärker. Soll ich mehr Segel wegnehmen lassen?«Inch zupfte sich am Ohr.»Nein. Lassen Sie die Herren hier zu ihren Booten bringen. Danach möchte ich an Rapid signalisieren, ehe sie außer Sicht kommt.»
Als der Leutnant hinwegeilte, wandte er sich an die anderen.
«Daß Rapid bei diesem Wetter ein bloßes Fischerboot meldet, ist ausgeschlossen. «Er sah zu, wie seine Worte ihre Wirkung taten.»Bleiben Sie also gut auf Station hinter Helicon und bereiten Sie sich auf ein Gefecht vor.»
Montresor starrte ihn an. Er war noch nicht lange genug Kommandant, um seine Gefühle verbergen zu können.»Glauben Sie wirklich, daß es ein Franzose ist?»
Inch dachte an Bolitho. Wie hätte er die Lage dargestellt?
«Ja. Der Wind steht günstig für sie, ungünstig für uns. «Er hob die knochigen Schultern.»Wir müssen unseren Auftrag erfüllen, dazu sind wir hier.»
Die beiden Kommandanten verließen das Schiff mit ungebührlicher Hast. Helicon drehte so kurz wie möglich bei, um sich dann wieder gegen die schweren Brecher zu stemmen.
Inch warf einen Blick auf den Kompaß: Nordost zu Ost. Gischt prasselte in Luv über die Netze und ließ die Männer der Wache fluchen. Savill, sein Erster Offizier, überschrie den Wind:»Der Ausguck meldet, daß Rapid das Signal immer noch gesetzt hat, Sir. «Er schien freudig erregt.
Inch dachte nach. Das bedeutete vermutlich, daß Quarrell mit einem weiteren fremden Schiff rechnete.
«Signal von Dispatch, Sir: Kommandant ist wohlbehalten an Bord.»
Inch grunzte und dachte besorgt an Houstons Boot, das sich weiter mühsam zur Icarus quälte.
Der Ausguck schrie:»Neues Signal von Rapid, Sir! Im Nordwesten zwei Schiffe in Sicht!»
Inch schaute seinen Ersten Offizier an. Zwei Schiffe? Zu Nelsons Flotte konnten sie so weit südlich im Golfe du Lion nicht gehören. Und bei diesem Wetter würde bestimmt kein Handelsschiff die Blockade durchbrechen, schon gar nicht in Begleitung eines zweiten.
Houston hatte recht gehabt: Barracouta mochte den Ausschlag geben, wenn sie jetzt zur Stelle gewesen wäre.
«Diesmal meinen die Franzosen es wohl ernst, Mr. Savill. Setzen Sie bitte mehr Segel. Ich beabsichtige, zu Rapid aufzuschließen. «Er nahm ein Teleskop und ging aufs Hüttendeck, um Ausschau nach Icarus zu halten. Doch im nassen Nebel achteraus war nichts zu erkennen; selbst Dispatch wurde von ihm eingehüllt. Gott, mußte das ausgerechnet jetzt passieren? Er fuhr den Midshipman, der ihm wie ein Hündchen gefolgt war, an:»Signal ans Geschwader: >Mehr Segel setzen<.»
Die Signalflaggen wirkten vor den tiefen Wolken sehr bunt.
Nun hatte er seine Chance. Zur Abwechslung brauchte er sich mal nicht nach den Anweisungen vom Flaggschiff zu richten. Diesmal hatte er selbst den Befehl. Wenn er Hannah davon erzählte, würde sie ihn mit ihren veilchenblauen Augen bewundernd anschauen. Bolitho verwundet und mit Keen nach Malta gerufen: absurd, daß man ihn wegen dieses dummen Verfahrens vom Geschwader wegbeordert hatte. Doch ganz gleich, was die Gründe waren: Francis Inch befehligte vorübergehend das Geschwader. Ihm war, als sei plötzlich eine schwere Last von ihm genommen. Jetzt hatte er keine Zweifel mehr und wußte, daß er furchtlos in das Gefecht gehen konnte.