Er hat mir überhaupt nicht zugehört, dachte Bolitho.
Laforey rührte sich.»Tja, dann kommen wir mal zu dieser Untersuchung.»
«Mein Flaggkapitän wird angeklagt…»
Laforey wackelte mit einem breiten Zeigefinger.»Nein, mein Bester, niemand klagt ihn hier an! Das werden womöglich andere zu tun haben. Aber das Ganze ist doch nur eine Formsache. Die Einzelheiten habe ich zwar nicht gelesen, doch mein Flaggkapitän und dieser Mr. Pullen aus London versichern mir, daß das Verfahren nur Stunden, nicht Tage, dauern wird.»
Bolitho sagte gelassen:»Kapitän Keen ist der wahrscheinlich beste Offizier, der je unter mir gedient hat, Sir Marcus. Er hat seinen Mut und sein Können unzählige Male unter Beweis gestellt. Meiner Auffassung nach hat er das Zeug zum Admiral.»
Laforey hob wieder die Lider. Die kleinen Augen darunter waren kalt und mitleidslos.
«Bißchen jung. Wir haben heutzutage manchen unerfahrenen Springinsfeld, nicht?«Er warf einen Blick auf seinen verbundenen Fuß.»Wenn ich meine Flagge über der Kanalflotte hissen könnte statt hier in diesem, diesem. «Er sah ärgerlich in die Runde,»dann kämen diesen Muttersöhnchen bald die Tränen!«Er wollte sich vorbeugen, doch sein Schmerbauch hinderte ihn daran.»So, Bolitho, was ist nun eigentlich wirklich passiert?«Er sah Bolitho forschend an.»Er hat eine Frau nötig gehabt, stimmt's?»
Bolitho stand auf.»Ich weigere mich, in diesem Ton über meine Offiziere zu sprechen, Sir Marcus.»
Laforey wirkte überraschenderweise erfreut.»Wie Sie wollen. Das Tribunal tritt morgen zusammen. Wenn Kapitän Keen Vernunft beweist, werden Sie ohne weitere Verzögerung wieder auslaufen können. Wir erwarten einen Geleitzug, und ich kann Unfähigkeit wie alles, was das Leben hier noch unerträglicher macht, nicht ausstehen. «Er sah zu, wie Bolitho aufstand.»Wie ich höre, sind Sie verwundet worden, Sir Richard. «Weiter ließ er sich dazu nicht aus.»Aber das gehört wohl zu unserem Dienst.»
«In der Tat, Sir. «Bolitho konnte sich den ironischen Ton kaum verkneifen.»Und es wird noch sehr viel mehr Verwundete geben, wenn es den Franzosen gelingt, ihre Flotten zu vereinigen.»
Laforey zuckte die Achseln.»Ich fürchte, ich muß die Unterhaltung mit Ihnen beenden. Mein Tag ist zu ausgefüllt. Manchmal frage ich mich, ob man sich bei der Admiralität und in Whitehall des Ausmaßes meiner Verantwortung überhaupt bewußt ist.»
Die Besprechung war vorüber.
Bolitho ging durch den Korridor und sah einen Lakai mit einem Tablett, auf dem zwei Karaffen und nur ein Glas standen, zu dem Raum schreiten, den er gerade verlassen hatte. Der Admiral war im Begriff, seine Verantwortung voll wahrzunehmen, dachte er bitter.
Stayt erwartete ihn in der Empfangshalle. Als er sah, wie Bolitho hinaus über den Hafen schaute, sagte er:»Sie erkundigten sich nach der Benbow, Sir. Sie ist hier von Grund auf überholt worden.»
«Und wessen Flagge hat sie gehißt?»
«Ich dachte, Sie wüßten es, Sir: Sie ist Konteradmiral Herricks Flaggschiff.»
Bolitho wandte sich ab, um seine Gefühle nicht zu verraten. Nun war das Muster komplett. Er ahnte, was kommen würde, noch ehe Stayt sagte:»Konteradmiral Herrick wird im Untersuchungsausschuß den Vorsitz führen, Sir.»
«Ich werde ihn aufsuchen.»
«Das wäre vielleicht unklug, Sir. «Stayts tiefliegende Augen beobachteten ihn ruhig.»Es könnte falsch ausgelegt werden.»
Von Thomas Herrick, seinem besten Freund, der mehr als einmal sein Leben für ihn gewagt hatte? Er konnte Herricks Augen vor sich sehen, klar und blau, gelegentlich trotzig, zu leicht verletzt, aber stets ehrlich. Ehrlich? Das Wort kam ihm bei dieser Intrige wie Hohn vor.
«Wie ich hörte, Sir, erwartet Sie an Bord ein Schreiben«, sagte Stayt.»Sie brauchen bei dem Verfahren nicht zugegen zu sein, Ihre schriftliche Aussage genügt.»
Bolitho fuhr zu ihm herum und sagte scharf:»Werden Sie ebenfalls eine abfassen?»
Stayt hielt seinem Blick stand.»Auch mich hat man als Zeugen vorgeladen, Sir.»
Bolitho war, als sei er in einem Netz gefangen, das stündlich enger zugezogen wurde.
«Ich werde persönlich zugegen sein, darauf können Sie sich verlassen!»
Stayt folgte ihm hinaus in den staubigen Sonnenschein und blieb auf der Freitreppe überm Hafen stehen, als Bolitho fragte:»Dachten Sie vielleicht, ich würde das schweigend hinnehmen?»
«Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, Sir.»
Bolithos Auge brannte, aber das lag am Zorn, nicht an seiner Verletzung.
«Vorerst nicht. Sie können abtreten. Kehren Sie an Bord zurück.»
Er schritt auf den Kai zu, wo Allday bei seiner Barkasse stand. Stayt mochte ein anderes Boot benutzen.
Die Bootsgasten standen auf und legten grüßend die Hände an die Hüte, als sie ihn erblickten.
«Zur Benbow, bitte«, sagte Bolitho.
Allday ließ sich keine Überraschung anmerken. Herrick war hier. Es war normal, daß sich die beiden trafen, ganz gleich, was andere davon halten mochten.
«Platz da!»
Die grüne Barkasse glitt durch das belebte Hafenwasser, und andere Boote hoben die Ruder oder wichen aus, um den Flaggoffizier vorbeizulassen.
Bolitho saß steif im Heck. Nur seine Augen bewegten sich, als er sich auf vertraute Dinge konzentrierte, Masten und Takelwerk, Seevögel und kleine Wolken über der Festung.
Zur Hölle mit Laforey und seiner trunkenen Indolenz, dachte er, und zur Hölle mit allen, die ihm diese Sache angehängt hatten. Er sah erst zum Schlagmann und dann in die Reihe gebräunter Gesichter. Sie wußten alle Bescheid. Vermutlich wußte die ganze Flotte Bescheid. Aber Bolitho war das nur recht.
Ihm gingen vage Gedanken durch den Kopf — an Belindas Brief, an Stayts kühles Verhalten, als er die Vorladung erwähnte, an Inch und die Männer des Geschwaders, die von ihm erwarteten, daß er über menschliche Regungen erhaben war. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, daß er sich gegen das Diktat der Obrigkeit auflehnte. Er lächelte verbittert. Der alte Bolitho, der seinen Söhnen immer das strenge Vorbild eines Marineoffiziers gewesen war, hatte sich während einer Belagerung in der Karibik einmal mit dem ranggleichen Kommandeur der Seesoldaten entzweit. Kapitän James Bolitho löste das Problem, indem er den Soldaten wegen Verletzung seiner Dienstpflicht sistieren ließ und dann eine Schlacht begann, die siegreich endete. Hätte er sie verloren, wäre die Marinetradition der Familie zu Ende gewesen, dessen war Bolitho sicher.
Allday murmelte:»Stolz sieht sie aus, Sir Richard.»
Die mit vierundsiebzig Geschützen bestückte Benbow bot in der Tat einen prächtigen Anblick: frisch getrieben, das geteerte Rigg wie schwarzes Glas, Rahen gekreuzt, Segel sauber aufgetucht. Alle Stückpforten standen offen, und es fiel Bolitho nicht schwer, sich ihren furchteinflößenden Donner vor Kopenhagen und später im Kampf gegen das Eingreifgeschwader der Franzosen vorzustellen. Immer wieder plagte ihn die Erinnerung an seine Kriegsgefangenschaft in Frankreich und seine Flucht. Allday war damals an seiner Seite gewesen und hatte den sterbenden John Neale, dessen Schiff untergegangen war, getragen. Ja, im tiefen Rumpf der Benbow ruhten viele Erinnerungen.
Die Barkasse rauschte in weitem Bogen heran, und er sah, wie die Ehrenwache antrat. Sein unerwartetes Eintreffen mußte ihnen Beine gemacht haben. Abermals lächelte Bolitho. Falsch — Herrick mußte eigentlich mit ihm gerechnet haben.
Die Benbow schien bereit zum Auslaufen. Nur noch wenige Hafenboote lagen längsseits, und an nur einer Talje wurde Fracht in schwankenden Netzen zu den Männern auf dem Seitendeck hochgehievt.
«Halte das Boot klar, Allday«, murmelte Bolitho.»Es wird nicht lange dauern.»
Sein Blick fiel kurz in Alldays sonnenbeschienenes Gesicht, als der Bootsführer die schnittige Barkasse behutsam auf die Großrüsten zusteuerte. Bolitho sah mit Entsetzen, wie verkniffen die kräftigen Züge des Mannes waren, und schämte sich, weil er dessen Sorgen um seinen Sohn vergessen hatte.