«Sie sagt keinen Ton, jedenfalls nicht zu mir. Sie ist jung, unter zwanzig, hat reine Haut und ihren Händen nach zu urteilen keine Feldarbeit verrichtet. «Er senkte die Stimme.
«Sie hat mehrere Blutergüsse. Ich fürchte, sie ist vergewaltigt oder sexuell schwer mißhandelt worden. «Er seufzte.»Unter den gegebenen Umständen möchte ich eine genauere Untersuchung nicht riskieren.»
Keen nickte. Das Mädchen war plötzlich zu einer Person geworden, mehr als nur ein Opfer.
Der Arzt beobachtete ihn aufmerksam.»Hier kann sie nicht bleiben, Sir.»
Keen wich aus.»Ich werde mit ihr reden. Es sei denn, Sie raten mir davon ab?»
«Keineswegs. «Der Arzt ging voran zum Krankenrevier.»Sie weiß, wo sie ist. Aber haben Sie bitte Geduld mit ihr.»
Keen trat ein und sah die junge Frau bäuchlings unter einem Laken liegen. Sie schien zu schlafen, aber Keen merkte an ihren raschen Atemzügen, daß sie nur so tat. Als der Arzt das Laken wegzog, sah er, wie sich ihre Rückenmuskulatur spannte.
Tuson meinte leise:»Die Wunde heilt, aber. «Er hob den losen Verband an, und Keen sah den tiefen Einschnitt, den die Peitsche hinterlassen hatte. Im Schein der Laterne wirkte die Narbe schwarz.
Tuson wies auf ihr langes, dunkelbraunes Haar; es war wirr und verfilzt, und als der Arzt es berührte, versteifte sie sich wieder.»Sie braucht ein Bad und frische Kleider«, sagte er.
«Sobald wir vor Anker gehen, schicke ich einen Leutnant hinüber zur Orontes. Irgendwelche Habseligkeiten muß sie dort noch haben«, erwiderte Keen.
Seine Worte schienen sie wie ein Peitschenhieb zu treffen, denn sie drehte sich ruckartig um, bedeckte ihre Brüste mit dem Laken und schien die Blutstropfen, die unter dem Wundschorf hervortraten, nicht zu gewahren.
«Nein, bitte nicht! Bitte, bitte, nicht zurück auf dieses Schiff!»
Keen reagierte verdutzt auf den Ausbruch. Diese junge Frau war trotz der Blutergüsse und ihres zotteligen Haars fast eine Schönheit. Sie hatte kleine, wohlgeformte Hände und große Augen, aus denen sie ihn flehend ansah.
«Nur ruhig, Kleine«, sagte er und streckte die Hand nach ihr aus, aber Tuson schüttelte rasch den Kopf.
«Das ist der Kapitän«, sagte der Arzt.»Er hat Sie vor der Auspeitschung bewahrt.»
Sie schaute in Keens besorgtes Gesicht und fragte:»Sie, Sir?«Es war kaum mehr als ein Flüstern.»Sie waren das?»
Sie sprach mit weichem westenglischem Akzent. Keen konnte sich nicht vorstellen, weshalb sie vor Gericht gestellt und dann auf diesem schmutzigen Schiff mit anderen Sträflingen in die Verbannung geschickt worden war.
«Ja. «Um ihn herum ächzte und stöhnte das Schiff, gelegentlich unterbrochen von einem lauten Krachen, wenn der Kiel in ein Wellental tauchte. Doch Keen war sich nur ihres Schweigens bewußt, als stünde plötzlich die Zeit still.
Er hörte sich fragen:»Wie heißen Sie?»
Sie warf dem Arzt einen raschen Blick zu. Er nickte ermunternd.
«Carwithen. «Sie zog das Laken enger um sich, als Tuson den Verband wieder auflegte.»Woher stammen Sie?»
«Aus Lyme, Sir, in Dorset. «Sie hob das zierliche Kinn; Keen sah, daß es zitterte.»Aber geboren wurde ich in Corn-wall.»
«Dacht' ich mir's doch«, grunzte Tuson. Er richtete sich auf.»So, jetzt liegen Sie still, damit die Wunde nicht wieder aufplatzt. Ich lasse Ihnen was zu essen bringen. «Er wandte sich zur Tür und gab seinem wartenden Assistenten einen Wink.
Das Mädchen schaute immer noch Keen an und flüsterte heiser:»Sind Sie wirklich der Kapitän, Sir?«Keen merkte, daß sie im Begriff war, die Beherrschung zu verlieren. Er war mit zwei jüngeren Schwestern aufgewachsen und kannte die Anzeichen. Bei Gott, sie hatte ja auch genug gelitten.
«Ja. «Er ging zur Tür und blieb stehen, als der Rumpf wegsackte und dann widerwillig seine achtzehnhundert Tonnen der nächsten Welle entgegenhob.
Das Mädchen wandte den Blick nicht von seinem Gesicht.»Was werden Sie mit mir machen, Sir?«Ihre Augen glänzten. Wenn sie in Tränen ausbrach, durfte er nicht mehr da sein.
So fragte er rundheraus:»Wie heißen Sie mit Vornamen?»
Das schien sie abzulenken.»Zenoria.»
Er wich zurück.»Gut, Zenoria, folgen Sie den Anweisungen des Arztes. Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen kein Leid geschieht.»
Er ging an dem Posten vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Was hatte er da getan? Wie kam er dazu, ihr Versprechungen zu machen? Er kannte sie doch nicht einmal!
Als er die Stufen des ersten Niedergangs hocheilte, wußte er die Antwort auf die beiden Fragen bereits: Es war der reine Wahnsinn. Ich bin wohl nicht bei Trost, dachte er.
Plötzlich war er froh, wieder den Himmel zu sehen.
Leutnant Hector Stayt beugte sich über den Tisch und legte Bolitho eine weitere Ausfertigung seiner Befehle zur Unterschrift vor. Wenn sie endlich auf der Reede von Gibraltar vor Anker gingen, würden die Dokumente an alle anderen Kommandanten weitergereicht werden. Das mochte noch zwei Tage dauern, wenn der Wind günstig blieb, oder auch länger. Seit dem Vorfall auf der Orontes war eine lange, ereignislose Woche vergangen, doch nun steuerte das Geschwader nach Südosten, und die spanische Küste zwischen Cadiz und Algeciras war für die scharfäugigsten Ausguckposten gerade noch sichtbar.
Bolitho überflog Yovells runde Handschrift, ehe er seinen Namen daruntersetzte. Es waren gleichlautende Befehle, aber jeder Kommandant würde sie bei der Lektüre anders interpretieren.
Er dachte an Keen und ihren unerwarteten Passagier. Die französischen Schiffbauer hatten hinter der Kapitänskajüte Platz für einen zusätzlichen Kartenraum gelassen, der nun für Zenoria Carwithen so behaglich wie möglich eingerichtet worden war. Eine Koje, ein Spiegel und saubere Laken aus der Messe hatten ihn verwandelt. Ozzard hatte sogar eine Kommode im Laderaum entdeckt und für Zenoria aufgestellt. Wir dürfen uns nicht zu sehr an ihre Anwesenheit gewöhnen, dachte Bolitho. In Gibraltar muß sie von Bord.
«Ich habe etwas über dieses Mädchen erfahren, Sir Richard«, sagte Stayt.
Es hatte nicht zum ersten Mal den Anschein, als habe der Flaggleutnant Bolithos Gedanken gelesen. Bolitho fand das enervierend.
«Ja?«Er schaute vom Kartentisch auf.
«Sie war an Krawallen beteiligt, die sich nicht weit vom Besitz meines Vaters ereigneten. Jemand wurde ermordet, ehe das Militär eintraf. «Er lächelte dünn.»Wie üblich zu spät.»
Bolitho schaute an ihm vorbei auf die beiden Degen am Schott. Einer so schimmernd und glänzend, der andere im Vergleich fast schäbig.
Stayt interpretierte sein Schweigen als Interesse.»Ihr Vater wurde gehängt.»
Bolitho zog seine Taschenuhr hervor und klappte sie auf.»Zeit für die Signalübung, Mr. Stayt. Ich komme gleich an Deck.»
Stayt ging. Er hatte einen federnden Gang, der großes Selbstvertrauen verriet. Bolitho runzelte die Stirn. Eingebildeter Fatzke.
Yovell trat an den Tisch und sammelte die Papiere ein. Dabei warf er Bolitho über seine kleine Goldbrille hinweg einen Blick zu und sagte:»Ganz so hat es sich aber nicht ereignet, Sir Richard.»
Bolitho schaute ihn an.»Dann sagen Sie mir, wie es war.»
Yovell lächelte betrübt.»Carwithen war Drucker, Sir, ein guter sogar, wie ich hörte. Einige Landarbeiter ließen ihn Flugblätter drucken, Protestaufrufe gegen zwei Gutsbesitzer, die ihnen vorenthielten, was ihnen an Geld und Naturalien zustand. Dem Vernehmen nach war Carwithen ein Feuerkopf, der seine Meinung frei heraussagte, besonders wenn anderen Unrecht geschah. «Er wurde rot, aber Bolitho nickte.
«Keine Angst, Mann, sprechen Sie.»
Seltsam, daß ausgerechnet Yovell Bescheid wußte. Wenn er an Land war, wohnte er in Bolithos Haus, aber da er aus Devon stammte, galt er bei den Einheimischen als Zugereister. Trotzdem schien er immer zu wissen, was vorging.
«Da Carwithens Frau kurz zuvor gestorben war, schickte man das Mädchen nach seinem Tod aus der Grafschaft weg.»