Dann winkte er seinen Sanitätsgasten, die den Mann hinunter ins Krankenrevier trugen. Das Blut wurde von den Decks-planken gewaschen, der Trommler und zwei junge Seesoldaten mit Pfeifen stimmten einen munteren Jig an, und nach kurzer Zeit war das normale Leben an Bord wieder im Gange.
Bolitho warf einen raschen Blick auf den Kapitän. Dessen Gesicht war vollkommen ausdruckslos, nur seine Finger trommelten einen kleinen Wirbel auf dem Degengriff, vielleicht im Takt des Jig.
Empört rief Dancer aus:»Was für eine Gemeinheit, einen Mann so zu behandeln!»
Der alte Segelmeister hörte das und knurrte:»Wart' nur, bis du 'ne Auspeitschung rund um die Flotte gesehen hast, Kleiner, da hast du erst richtig zu kauen!»
Doch als die Leute zum Mittagessen gingen — Salzfleisch und eisenharter Zwieback, mit einer Finte kratzigem Rotwein zum Hinunterspülen — , da hörte Bolitho von niemandem ein Wort des Zornes oder der Beschwerde. Anscheinend galt auch hier wie an Bord seines vorigen Schiffes die Regel: Wirst du erwischt, wirst du bestraft. Das Vergehen bestand darin, daß man sich erwischen ließ.
Auch im Midshipmen-Logis fand man sich auf dieser Basis damit ab. Aus der anfänglichen Ängstlichkeit und Verwirrung, der allgemeinen Unsicherheit vor der Frage, was man tun müsse und wann man es tun müsse, hatte sich ein neuer Zusammenhalt, eine Härte entwickelt, von der sogar Eden etwas abbekommen hatte.
An erster Stelle standen Essen und Unterkunft; alles andere, auch die Unsicherheit der Reise und der ganze Dienstbetrieb mit allem, was sie auf Befehl taten, wurden allmählich weniger wichtig.
Der kleine Raum, der sich in die hohle Rundung des Schiffsrumpfes schmiegte, war ihr Zuhause geworden; dort zwischen der weißen Wandtür und den schwarzen Seekisten nahmen sie ihre primitiven Mahlzeiten ein, vertrauten sich gegenseitig ihre Geheimnisse und Ängste an und lernten Tag für Tag, der eine vom anderen.
Abgesehen von ein paar dürftigen Inseln, die sie gesichtet hatten, und zwei passierenden Schiffen schien die Gorgon den Atlantik für sich allein zu haben. Täglich versammelten sich die Midshipmen auf dem Achterdeck zum Navigations-unterricht unter Turnbulls wachsamen Augen. Jetzt bekamen Sonne und Sterne für manchen einen ganz neuen Sinn; und die Älteren fingen allmählich an zu glauben, ihre Beförderung zum Leutnant sei doch nicht mehr ganz so fern und unwahrscheinlich.
Nach einem besonders üblen Geschützexerzieren an den Zweiunddreißigpfündern schimpfte Dancer:»Der Mann hat den Teufel im Leib!»
Der kleine Eden überraschte alle, indem er sagte:»Er hat die G-gicht; das ist sein T-teufel, Martyn. «Sie starrten ihn verwundert an, und mit seiner dünnen, piepsenden Stimme fuhr Eden fort:»Mein V–Vater ist Apotheker in B-Bristol. Solche F-Fälle hat er oft zu b-be-handeln. «Er nickte wichtig.»Mr. Tergorren t-trinkt mehr B-Brandy, als gut für ihn ist.»
Jetzt wußten sie etwas Neues über Tergorren und konnten das Verhalten des Vierten mit gesteigertem Interesse beobachten. Wenn Tergorren unter den mächtigen Decksbalken umherschlurfte, schwebte sein Schatten an den Luken vorbei wie ein massives Gespenst, und an jedem Geschütz wartete die Mannschaft auf sein Kommando:»Laden!«,»Ausfahren!«oder» Richten!»
Jedes Geschütz wog drei Tonnen, und fünfzehn Mann bildeten die Bedienung für zwei einander gegenüberliegende Geschütze mit der gleichen Nummer. Jeder Mann mußte genau wissen, was er zu tun hatte, und mußte es tun, was auch passierte, unter allen Umständen. Oft genug brüllte Tergorren:»Ich werde euch noch Blut abzapfen, aber das ist gar nichts gegen das, was euch im Ernstfall passiert — also bewegt euch gefälligst!»
Bolitho saß an dem Hängetisch im Midshipmen-Logis; in einer alten Austernschale flackerte eine Kerze und verstärkte das bißchen Licht, das von einem Niedergang herabfiel. Er schrieb an seine Mutter. Er hatte keine Ahnung, ob und wann sie den Brief lesen würde, aber es tröstete ihn, eine Verbindung mit seinem Elternhaus aufrechtzuerhalten.
Durch seine Sonderstellung als Turnbulls Assistent beim Navigationsunterricht, wo er jeden Tag die Seekarte des Steuermanns zu Gesicht bekam, wußte er, daß der erste Teil ihrer Reise fast geschafft war. Viertausend Meilen, hatte der Kapitän gesagt; und beim Studium der Zickzacklinien auf der Karte, an den täglichen Eintragungen der Schiffsposition nach dem Sonneschießen am Mittag, verspürte er wiederum das erregende Vorgefühl, das sich einstellt, wenn das Schiff in Landnähe kommt. Sechs Wochen waren vergangen, seit sie in Spithead Anker gelichtet hatten. Ständig hatten sie kreuzen müssen, ständig die Segel gekürzt und wieder gesetzt. Auf der Seekarte sah der Kurs wie die Spur eines verwundeten Käfers aus. Eine schnelle Fregatte wäre inzwischen längst wieder auf Heimatkurs, dachte Bolitho neidisch.
Seine Hand mit der Feder blieb in der Luft hängen. Rufe vom oberen Deck drangen gedämpft bis zu ihm herunter. Er löschte die Kerze, barg sie sorgfältig in seiner Seekiste und legte den unvollendeten Brief unter das oberste seiner sauberen Hemden.
Als er aufs Oberdeck kam, kletterte er schnell zum Backbord-Decksgang hinüber, wo sich bereits Dancer und Grenfell an den Finknetzen festhielten. Aufmerksam spähten sie zum glitzernden Horizont.
«Land?«fragte Bolitho.
«Nein, Dick, ein Schiff!«Dancer grinste ihn an; sein Gesicht, das in dem hellen Sonnenschein noch gebräunter als sonst aussah, war voller Spannung. Man konnte sich jetzt kaum noch an den Regen und die bittere Kälte erinnern, dachte Bolitho. Die See war so blau wie der Himmel, und die leichte Brise war weder beißend noch drohend, sondern einfach frisch. Hoch über Deck leuchteten die Bram- und Marssegel wie bleiche Muschel-schalen, und am Masttopp stand der Wimpel steif nach Backbord wie eine blutrote Lanze.
«Deck ahoi!«Alles starrte nach oben auf den kleinen schwarzen Fleck, den Ausguck im Masttopp.»Sie tut nich' antworten, Sir!»
Da erst merkte Bolitho, daß es mit dieser Begegnung etwas auf sich hatte. Der Kapitän stand mit verschränkten Armen an der Reling; sein Gesicht lag im Schatten, und dicht neben ihm beobachteten Midshipman Marrack und seine Signalgasten ihre Heißleinen und die bunte Reihe Flaggen an der Großrah, die das Signal» Welches Schiff?«bildeten.
Bolitho reckte sich so weit über die Finknetze hinaus, daß er im Gesicht und auf den Lippen das Sprühwasser der Fahrtwelle spürte. Dann sah er das Schiff, eine Schonerbark mit schwarzem Rumpf, die Segel ungebraßt vor dem Hintergrund des blendenden Horizonts; die Masten schwangen in der Dünung.
Bolitho ging weiter nach achtern und hörte Mr. Hope, den Wachoffizier, ausrufen:»Bei Gott, Sir, wenn der Kerl nicht auf unser Signal antwortet, hat er bestimmt nichts Gutes im Sinn!»
Verling wandte sich scharf zu ihm um; man sah es ihm an seiner Schnabelnase an, wie gereizt er war.»Wenn er wollte, Mr. Hope, könnte er vor dem Wind ausreißen und wäre in einer Stunde nicht mehr zu sehen!»
«Aye, Sir«, steckte Hope die Zurechtweisung ein. Der Kapitän ignorierte sowohl den Wortwechsel als auch die beiden Offiziere selbst.»Geben Sie dem Stückmeister Order, bitte«, sagte er.»Er soll ein Buggeschütz ausfahren und ihm einen Schuß vor die Nase setzen, so dicht wie möglich. Die müssen schlafen oder betrunken sein.»
Aber auf das Krachen eines einzelnen Neunpfünders geschah nichts weiter, als daß eine Anzahl Matrosen der Gorgon neugierig an Deck gerannt kam. Die Barkentine (wie man in südlichen Gewässern eine Schonerbrigg auch nennt) trieb weiter, ohne zu reagieren; ihre Vormarssegel standen beinahe back, die großen Segel am Haupt- und Kreuzmast zitterten im Dunst der Hitze.
Der Kapitän befahl kurz:»Segel kürzen und beidrehen, Mr. Verling! Und machen Sie das Achterdeckboot klar! Der Kerl gefällt mir nicht.»
Die Pfeifensignale schrillten und zwitscherten um das Hauptdeck, und innerhalb weniger Minuten drehte die Gorgon bei und legte ihren schweren Rumpf in den Wind; jedes Segel, jedes Tauende schlug und knallte in dem Durcheinander.