«Faß mal mit an, Tom! Wir müssen ihn an Deck schaffen.»
«D-der sieht aber wirklich f-furchtbar aus!«sagte Eden freudestrahlend.
An Deck war die Luft wie Wein nach dem scheußlichen Gestank in der Kajüte. Starkie kam ihnen eilig vom Ruder her entgegen.»Hat er wirklich das Fieber?»
«Er hat G-gicht, Mr. Starkie«, piepste Eden.»H-hab' ich ja die g-ganze Zeit gesagt. Er hat M-medizin gegen die Schmerzen genommen, w-wahrscheinlich eine Überdosis.»
Alle starrten den winzigen Midshipman an, der sich da plötzlich als ein Born medizinischer Weisheit erwies — der einzige, den sie hatten.
«Ja — aber was sollen wir denn bloß machen?«Starkie schien völlig ratlos zu sein.
Eden musterte den zusammengesunkenen stöhnenden Mann und erwiderte:»W-enn wir wieder auf dem Schiff sind, wird ihn der D-doktor b-behandeln. Hier können wir g-gar nichts machen. «Er verzog das Gesicht.»G-geschieht ihm g-ganz recht.»
«Das mag ja sein«, sagte Starkie und blickte zu Dancer hinüber, der den Leutnant am Rock festhielt, weil er eben beinahe über die Reling ins Meer gefallen wäre.»In Kürze werden wir ihn aber sehr nötig brauchen.»
Verwundert blickte Dancer ihn an.»Wieso denn? Wir können doch der Gorgon signalisieren, und der Kapitän wird schon wissen, was zu tun ist.»
Starkie warf ihm einen trüben Blick zu.»Sie haben es nicht gemerkt. Der Wind hat nach Nordost gedreht. Ihr Schiff würde den ganzen Tag brauchen, um auf unsere Position zu kreuzen — das heißt, wenn Ihr Kapitän überhaupt weiß, was hier los ist.»
«Aber was hindert uns, Kurs auf die Gorgon zu nehmen?«beharrte Dancer.
«Ich bin ja nur Bootsmannsmaat«, erwiderte Starkie,»und froh, wieder in Freiheit und in Sicherheit zu sein; aber ich kenne die Kriegsmarine, und ich kenne die Kapitäne. Die Sandpiper liegt in günstiger Position, den Feind anzugehen, oder ihm wenigstens bis zu seinem Schlupfwinkel zu folgen. «Er hob die Schultern.»Aber ohne Offiziere — da weiß ich nicht so recht. Für nutzloses Heldentum kriegt man in keiner Flotte eine Belohnung.»
«Wir segeln also nicht zur Gorgon?«fragte Eden. Er sprach so leise, daß ihn alle erstaunt ansahen.
Bolitho fiel auf, daß er vor lauter Angst nicht einmal mehr stotterte.»Komm mal her zu mir, Tom«, sagte er. Er nahm den Knaben beim Arm und fragte ganz ruhig:»Was hast du mit Mr. Tergorren angestellt?»
Eden starrte das Deck an; seine Hände zuckten nervös.»Ich wußte, daß er sich selbst k-kuriert und sich M-medizin in den Wein tut. Auf einer Flasche in seiner K-kajüte steht's drauf. Vinum Antimonii — was mein V-vater immer bei G-gicht verordnet. Und da hab ich eine g-große Dosis in eine von seinen W-weinflaschen geschüttet. Er m-muß alles ausgetrunken haben, und noch eine ganze Flasche B-brandy obendrein«, schloß er verzweifelt.
Bolitho starrte ihn entsetzt an.»Du hättest ihn umbringen können».
«A-aber ich dachte doch, wir k-kommen auf unser Schiff, verstehst du. Es sollte ihm d-doch bloß mal so r-richtig dreckig gehen, weil er so g-gemein zu dir war, und zu m-mir auch. «Er schüttelte traurig den Kopf.»Und nun sagst du, wir s-segeln noch nicht zur G-gorgon zurück?»
Bolitho holte tief Atem.»Sieht jedenfalls so aus.»
Dancer stützte den Leutnant, der vom Schanzkleid wegtaumelte.»Zwei Mann her!«rief er.»Der Leutnant muß wieder in seine Kajüte geschafft werden.»
«Bin bloß neugierig, was jetzt werden soll«, sagte Bolitho.
Wie eine Antwort darauf kam ein Ruf vom Ausguck:»Deck ahoi! Segel in Lee voraus!»
Sie stürzten an die Reling, aber in Lee lag das Meer noch in tiefem Schatten.
Bitter sagte Starkie:»Also liegen wir diesem Satan genau im Wind. Der steht genau zwischen uns und unserer Sicherheit.»
«Wie gut kennen Sie diese Küste?«fragte Bolitho, und es war, als stelle sich diese Frage ganz von selbst, ohne sein Zutun.
«Gut genug. «Starkie blickte starr auf den Kompaß nieder, wie um seine Gedanken zu sammeln.»Eine schlechte Küste, wenn man versuchen will, schneller als eine Fregatte zu sein.»
Bolitho dachte an die Gorgon, die sich südlich zur Position der Sandpiper befand. Vielleicht wußte der Kapitän noch nicht einmal, daß sie die Brigg genommen hatten, sondern glaubte, sie sei zusammen mit der Fregatte entkommen.
Eben sagte Starkie:»Wir hatten monatelang nach den Piraten gesucht; und Käpt'n Wade hatte von einem Genueser Handelsschiff gehört, daß sich in diesen Gewässern ein solches Schiff herumtreiben soll. Damals dachte der Käpt'n, es wäre nur ein kleines Schiff und tauge wahrscheinlich nicht viel. Doch dieser Pirat versteht sein Geschäft, glauben Sie mir! Er soll halb Franzose, halb Engländer sein; aber eins ist sicher: er hat sich mit irgendwelchen algerischen Korsaren zusammengetan, die vom Mittelmeer gekommen sind, um hier sowohl Sklavenschiffe als auch ehrliche Kauffahrer auszurauben.»
Mit einem Seitenblick auf Dancer fragte Bolitho gelassen weiter:»Sind es viele?»
«Reichlich genug. Als sie die Sandpiper aufbrachten, waren sie gerade knapp an Leuten, aber jeden Tag kommen neue hinzu. Ganz egal, aus welchem Land und von welcher Rasse sie sind, Hauptsache, sie treten zum Islam über. Die Fregatte haben sie vor Oran aufgebracht. Sie war ein spanisches Schiff. Jetzt kommandiert sie dieser Jean Gauvin. Der ist regelrecht verrückt und hat vor nichts Angst. Früher saßen senegalesische Händler in dem Fort, aber ein algerischer Korsar, ein gewisser Rais Haddam, hat es ihnen weggenommen. Der hat auch unsere Offiziere umbringen lassen. Ganz langsam, und vor der gesamten Mannschaft. Es war fürchterlich anzusehen und anzuhören.»
Niemand sagte etwas dazu, und Bolitho sah, wie sich in Starkies gebräuntem Gesicht der Schrecken widerspiegelte, so lebhaft, als sei eben erst geschehen, was er da berichtete.
«Wir waren direkt unterhalb der Festung vor Anker gegangen. Es war ein schöner Tag, und die Mannschaft war vergnügt. Warum auch nicht in einem Monat würden wir auf dem Heimweg sein. Die Fregatte lag dicht bei uns, sie führte die spanische Flagge. Und auf dem Fort wehte die Flagge einer Handelsgesellschaft. «Starkie erschauerte.»Eigentlich hätte Käpt'n Wade Verdacht schöpfen müssen. Aber er war erst dreiundzwanzig und dienstgradmäßig eigentlich nur Leutnant. Wir setzten die Boote aus und gingen an Land, um dem Gouverneur der Insel unseren Besuch zu machen. Aber wir wurden sofort umzingelt, und die Batterie des Forts feuerte ein paar Schüsse rund um die Sandpiper, um der Wache zu zeigen, daß Widerstand zwecklos war. Nachdem dann das Abschlachten und Foltern vorbei war, hielt dieser algerische Korsar, Rais Haddam, uns paar Überlebenden eine Ansprache. Wenn wir das Schiff bedienten, würde er uns vielleicht leben lassen. «Er blickte zu Seite.»Gauvin war auch dabei, und als ein Midshipman zu protestieren versuchte, gab er Befehl, ihn zu töten. Sie haben ihn unten am Strand lebendig verbrannt.»
«Mein Gott!«flüsterte Dancer.
«Aye. «Starkie blickte an ihm vorbei auf die dunkle See.»Dieser Haddam hat sich den Abschaum der Menschheit unter seiner Flagge zusammengeholt.»
Bolitho nickte.»Rais Haddam. Ich habe von ihm gehört — mein Vater und seine Freunde haben von ihm gesprochen. Seit Jahren machte er die algerische Küste unsicher, und jetzt hat er anscheinend sein Tätigkeitsfeld verlegt. «Er blickte zum bleichen Himmel hinauf.»Ich habe nie gedacht, daß ich mit dem einmal persönlich zusammengeraten würde.»
Trübe sagte Starkie:»Keine Zeit für Verteidigungs-vorbereitungen.»
Bolitho blickte in die Gesichter der Umstehenden und sah nur Verzweiflung und Niedergeschlagenheit. Dancer war zu neu bei der Kriegsmarine, um etwas anderes zu empfinden. Starkie war von seiner Gefangenschaft her noch zu deprimiert, um mit Rat und Tat von Nutzen zu sein.
«Dann müssen wir uns eben zum Angriff vorbereiten«, sagte Bolitho möglichst gelassen.
Er dachte an Tergorren, der dank Edens schlimmem Streich vor Schmerzen und Trunkenheit nicht zu gebrauchen war. An Hope, der eine Pistolenkugel in der Schulter hatte und kaum noch atmete. An die Matrosen — manche waren von der plötzlichen Befreiung noch verwirrt, die anderen noch erschöpft von dem heißen Kampf auf eben diesem Deck.