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Möcht mal wissen, wer sich das hätte überlegen sollen, dachte Oleg. Machst dir genauso gescheite Gedanken wie die andern auch. Und was sie nicht alles hatten einfach mitschleppen müssen! Zwar behauptete Dick, sie brauchten sich ums Essen keine Sorgen zu machen, er als Jäger würde schon Nahrung herbeischaffen, trotzdem nahmen sie Dörrfleisch, Wurzeln und getrocknete Pilze mit. Die Hauptlast aber war das Holz — ohne Holz konnten sie weder Wasser heiß machen noch die Tiere vertreiben.

„Weißt du, woran dieser Fleck erinnert?“ sagte Marjana, als sie die Männer eingeholt hatte. „An den Hut eines Pilzes. Eines Riesenpilzes.“

„Kann schon sein“, sagte Dick, „es ist besser, wir machen einen Bogen um ihn.“

„Wozu?“ erwiderte Oleg. „Übers Geröll müssen wir mühsam klettern.“

„Ich versuch’s mal, ja?“ sagte Marjana, ließ sich auf die Knie nieder und holte ein kleines Messer hervor.

„Was hast du vor?“ fragte Thomas.

„Ich schneid ein Stück ab und rieche dran. Wenn es ein eßbarer Pilz sein sollte, wär’s toll, wir könnten die ganze Siedlung satt machen.“

„Anschneiden lohnt nicht“, sagte Dick, „mir gefällt dein Pilz nicht. Und überhaupt, das ist kein Pilz.“

Marjana hatte das Messer bereits in den Fleck gestoßen.

Freilich kam sie nicht mehr dazu, ein Stück abzuschneiden — sie konnte gerade noch ihr Messer schnappen. Der weiße Fleck begann sich plötzlich nach außen zu wölben und bewegte sich unter Zuckungen auf Marjana zu. Dick riß das Mädchen heftig an sich, und sie fielen beide auf die Steine. Thomas sprang gleichfalls zur Seite und hob die Armbrust. Dick saß auf den Steinen, er sagte lachend: „Um den zu erledigen, brauchst du einen Pfeil so groß wie ein Haus oder noch größer.“

„Und doch ist es ein Pilz“, sagte Marjana, „du hast dich ganz umsonst erschrocken, Dick. Er riecht auch so.“

Wellenförmige Zuckungen liefen vom Zentrum zu den Rändern des weißen Flecks, wie Ringe, die ein ins Wasser geworfener Stein auslöst. Die Mitte des Pilzes aber wölbte sich unaufhörlich nach oben, so als stieße jemand mit dem Kopf dagegen, um ins Freie zu gelangen. Danach breiteten sich kleine dunkle Risse vom Zentrum zu den Seiten aus, wurden breiter und schließlich zu riesigen Blütenblättern, deren Spitzen zur Mitte zeigten. Danach begannen sich die Blütenblätter aufzurichten und nach hinten einzurollen, so daß eine Blume daraus wurde.

„Sieht hübsch aus“, sagte Marjana, „ist doch wirklich hübsch, nicht wahr?“

„Und du wolltest drauf rumspazieren“, sagte Dick zu Oleg im Ton des Älteren, obwohl sie der gleiche Jahrgang waren. Sie waren beide zwei Jahre alt gewesen, als man sie über den Gebirgspaß trug. Thomas warf sich die Armbrust auf den Rücken und hob Marjanas Messer auf, das noch immer auf den Steinen lag.

„Auch Naturforscher sollten hin und wieder denken, bevor sie sich ans Erkunden machen.“

„Er kann uns doch gar nichts anhaben“, erwiderte Marjana, „er will nur zeigen, wie schön er ist.“ „Hauptsache, er trägt keine Parasiten in sich“, sagte Dick. „Na was ist, gehn wir weiter? Sonst ist es dunkel, und wir finden die Höhle nicht. Dann war all unsre Planung umsonst. Schließlich sind wir nicht von ungefähr so aufgebrochen, sondern weil wir an einem bekannten Ort übernachten wollten.“

Sie umgingen den Fleck über einen steinernen Wall.

Oleg wollte von oben einen Blick auf die Blütenmitte werfen, doch dort war es dunkel und hohl. Die Blätter schlossen sich allmählich wieder, der Pilzgigant beruhigte sich.

„Wie nennen wir ihn?“ fragte Marjana.

„Fliegenpilz“, sagte Thomas.

„Ist das ein richtiger Pilz?“

„Und ob das ein richtiger Pilz ist“, erwiderte Thomas.

„Er ist giftig und hat einen roten Hut mit weißen Flecken.“

„Dann sieht er dem hier aber nicht ähnlich“, sagte Dick.

„Klingt trotzdem hübsch“, sagte Marjana.

Es war seit langem Brauch, daß Thomas unbekannten Dingen einen Namen gab. Er griff dabei immer auf bereits Vorhandenes zurück, auch wenn es nicht unbedingt treffend war. Weshalb sollte er sich etwas neues einfallen lassen, Hauptsache, es gab eine Gemeinsamkeit. Pilze wuchsen in der Erde, und man konnte sie trocknen.

Folglich wurden runde, kuppelförmige Gewächse, ob nun orangefarben oder blau, sofern sie sich in den Boden gruben, als Pilze bezeichnet. Voraussetzung war, daß man sie trocknen und essen, kochen und braten konnte, wenn man sie vorher gründlich eingeweicht hatte. Oder die Schakale: Sie bewegten sich in Rudeln, ernährten sich von Aas, waren feige und gierig. Daß die hiesigen Schakale Kriechtieren ähnelten, tat nichts zur Sache. Oder der Bär: Er war ein großes Tier mit langem, zottigen Fell … Das Fell der einheimischen Bären dagegen erinnerte wie die Triebe der Kollerdistel an grünes Haar.

Oleg war beim Klettern über den Geröllhang ziemlich außer Atem geraten. Die Steine rutschten ihm unter den Füßen weg, Marjanas Sack zog seinen Arm nach unten, der eigene auf dem Rücken drückte. Oleg zählte die Schritte “

wo mochte diese verdammte Höhle sein? Die Luft färbte sich blau, der Tag war ohnehin trübe gewesen, und nun begannen die Gegenstände schon in zehn Schritt Entfernung zu verschwimmen. Vom Boden stieg grauer Nebel auf, es wurde Zeit, ein Versteck aufzusuchen, nachts wagte es nicht einmal Dick, in den Wald oder die Steppe zu gehen. Im Dunkeln kam alles mögliche Ungeziefer hervorgekrochen — wer nachts die Umzäunung des Dorfes verließ, kehrte nicht zurück. Und nun erst, weit von der Siedlung entfernt … Oleg drehte sich um, er hatte den Eindruck, jemand sei ihm auf den Fersen. Doch nein, es war nur der Nebel. Oleg beschleunigte unmerklich den Schritt, da drehte sich Thomas zu ihm um und rief leise: „He, halt ein bißchen Abstand, du wirfst mich um!“ Dennoch konnte sich Oleg des Eindrucks nicht erwehren, daß ihm jemand folgte.

Der Rücken von Thomas war auf einmal verschwunden, denn Thomas hatte Marjana überholt. Nun ging das Mädchen vor Oleg. Sie hatte einen schmalen Rücken, selbst in der dicken warmen Jacke wirkte er schmal.

Marjana stolperte verschiedentlich, sie konnte im Dunkeln schlecht sehen. Egli sagte, das sei Nachtblindheit, doch nicht die übliche, sondern eine endemische. „Endemisch … das heißt, auf einen bestimmten Bereich begrenzt“, klang in Olegs Ohren die Stimme des Alten, als ginge er neben ihm.

„Soll ich dich bei der Hand nehmen?“ fragte Oleg.

Sie stapften durch den endlosen Nebel, in dem sie bis zu den Knien einsanken.

„Danke, nicht nötig“, erwiderte Marjana.

„Halt!“ ertönte dumpf und von weit her Dicks Stimme.

„Wir sind an den Felsen!“

***

Gut nur, daß niemand die Höhle mit Beschlag belegt hatte.

Ein Bär hätte dort Zuflucht suchen können oder noch schlimmer, eins von jenen Dämmerungs— oder Nachttieren, die schemenhaft um den Zaun schlichen, mitunter sogar daran rüttelten, weil es sie zu den Menschen zog, auch wenn sie die Menschen fürchteten. Eines Tages hatte Marjana ein kleines Ziegenböckchen aus dem Wald angeschleppt, es reichte ihr gerade mal bis zur Hüfte. Das Böckchen hatte eine nervtötende Stimme, schlimmer als die Zwillinge; das grüne Haar hing in Strähnen bis zur Erde, es stampfte mit den gepanzerten Beinen und jaulte.

„Es meckert“, hatte Waitkus damals befriedigt erklärt, „ich liebe die Stimmen von Haustieren!“

„Also ist’s ein Ziegenbock“, hatte Thomas gesagt.

Der Ziegenbock lebte bis zum Winter, wo es fast ohne Unterbrechung Nacht war, in der Siedlung. Er hatte sich an die Menschen gewöhnt, biß fast nie und hielt sich die ganze Zeit in der Nähe von Sergejews Werkstatt auf, weil es dort schön warm war. Sergejew stellte Möbel her und schnitzte Geschirr. Oleg half ihm gern dabei, denn es gefiel ihm, etwas mit eigenen Händen herzustellen. Doch dann kamen eines Nachts die Raubtiere und entführten den Ziegenbock. Marjana fand einige von seinen grünen Haarbüscheln hinterm Friedhof, aber das war dann schon im Frühjahr. Es konnte auch ein Irrtum sein.

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