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448.

Die Wirklichkeit ehren. — Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Thränen und ohne Zustimmung zusehen! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres Jubels und würden noch immer so denken, wenn wir ihn nicht erlebt hätten! Wozu können uns also die Erlebnisse fortreissen! Was sind unsere Meinungen! Man muss, um sich nicht zu verlieren, um seine Vernunft nicht zu verlieren, vor den Erlebnissen flüchten! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen; er war voller Empfindung und wußte, wie leicht die Wellen der Empfindung über seiner Vernunft zusammenschlugen. — So hätte sich demnach der Weise zu sagen:»ich will die Wirklichkeit ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, weil ich sie kenne und fürchte«? — er müsste es machen wie africanische Völkerschaften vor ihrem Fürsten: welche ihm nur rückwärts nahen und ihre Verehrung zugleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen?

449.

Wo sind die Bedürftigen des Geistes? — Ah! Wie es mich anwidert, einem Anderen die eigenen Gedanken aufzudrängen! Wie ich mich jeder Stimmung und heimlichen Umkehr in mir freue, bei der die Gedanken Anderer gegen die eigenen zu Rechte kommen! Ab und zu giebt es aber ein noch höheres Fest, dann, wenn es einmal erlaubt ist, sein geistiges Haus und Habe wegzuschenken, dem Beichtvater gleich, der im Winkel sitzt, begierig, dass ein Bedürftiger komme und von der Noth seiner Gedanken erzähle, damit er ihm wieder einmal Hand und Herz voll und die beunruhigte Seele leicht mache! Nicht nur, dass er keinen Ruhm davon haben will: er möchte auch der Dankbarkeit aus dem Wege laufen, denn sie ist zudringlich und ohne Scheu vor Einsamkeit und Stillschweigen. Aber namenlos oder leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Erfahrungen ausgerüstet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein und Dem und Jenem, dessen Kopf durch Meinungen verstört ist, helfen, ohne dass er recht merkt, wer ihm geholfen hat! Nicht vor ihm Recht haben und einen Sieg feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, dass er das Rechte nach einem kleinen unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darüber fortgeht! Wie eine geringe Herberge sein, die Niemanden zurückstösst, der bedürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird! Nichts voraus haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigeren Geist, — sondern abgeben, zurückgeben, mittheilen, ärmer werden! Niedrig sein können, um Vielen zugänglich und für Niemanden demüthigend zu sein! Viel Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgänge aller Art Irrthümer gekrochen sein, um zu vielen verborgenen Seelen auf ihren geheimen Wegen gelangen zu können! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art Selbstsucht und Selbstgeniessens! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich verborgen und entsagend sein! Beständig in der Sonne und Milde der Anmuth liegen und doch die Aufstiege zum Erhabenen in der Nähe wissen! — Das wäre ein Leben! Das wäre ein Grund, lange zu leben!

450.

Die Lockung der Erkenntniss. — Auf leidenschaftliche Geister wirkt der Blick durch das Thor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber; und vermuthlich werden sie dabei zu Phantasten und im günstigen Falle zu Dichtern: so heftig ist ihre Begierde nach dem Glück der Erkennenden. Geht es euch nicht durch alle Sinne, — dieser Ton der süssen Lockung, mit dem die Wissenschaft ihre frohe Botschaft verkündet hat, in hundert Worten und im hundert-ersten und schönsten:»Lass den Wahn schwinden! Dann ist auch das Wehe mir! verschwunden; und mit dem Wehe mir! ist auch das Wehe dahin.«(Marc Aurel.)

451.

Wem ein Hofnarr nöthig ist. — Die sehr Schönen, die sehr Guten, die sehr Mächtigen erfahren fast nie über irgend Etwas die volle und gemeine Wahrheit, — denn in ihrer Gegenwart lügt man unwillkürlich ein Wenig, weil man ihre Wirkungen empfindet und diesen Wirkungen gemäss Das, was man an Wahrheit mittheilen könnte, in der Form einer Anpassung vorbringt (also Farben und Grade des Thatsächlichen fälscht, Einzelheiten weglässt oder hinzuthut und Das, was sich gar nicht anpassen lassen will, hinter seinen Lippen zurückbehält). Wollen Menschen der Art trotz Alledem und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofnarren halten, — ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen zu können.

452.

Ungeduld. — Es giebt einen Grad von Ungeduld bei Menschen der That und des Gedankens, welcher sie, bei einem Misserfolge, sofort in das entgegengesetzte Reich übertreten, sich dort passioniren und in Unternehmungen einlassen heisst, — bis auch von hier wieder ein Zögern des Erfolges sie vertreibt: so irren sie, abenteuernd und heftig, durch die Praxis vieler Reiche und Naturen und können zuletzt, durch die Allkenntniss von Menschen und Dingen, welche ihre ungeheuere Wanderung und Übung in ihnen zurücklässt, und bei einiger Milderung ihres Triebes, — zu mächtigen Praktikern werden. So wird ein Fehler des Charakters zur Schule des Genie's.

453.

Moralisches Interregnum. — Wer wäre jetzt schon im Stande, Das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefühle und Urtheile ablösen wird! — so sicher man auch einzusehen vermag, dass diese in allen Fundamenten irrthümlich angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist: ihre Verbindlichkeit muss von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu aufbauen, — zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medicin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug: und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und thun am besten, in diesem Interregnum, so sehr, als nur möglich, unsere eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!

454.

Zwischenrede. — Ein Buch, wie dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich finden.

455.

Die erste Natur. — So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine zweite Natur: und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige Wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustossen: dann, wenn unter ihrer Hülle ihre erste Natur reif geworden ist. Bei den Meisten vertrocknet der Keim davon.

456.

Eine werdende Tugend. — Solche Behauptungen und Verheissungen, wie die der antiken Philosophen von der Einheit der Tugend und der Glückseligkeit, oder wie die des Christenthums» Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches Alles zufallen!«— sind nie mit voller Redlichkeit, und doch immer ohne schlechtes Gewissen, gemacht worden: man stellte solche Sätze, deren Wahrheit man sehr wünschte, keck als die Wahrheit gegen den Augenschein auf, und empfand dabei nicht einen religiösen oder moralischen Gewissensbiss — denn man war in honorem majorem der Tugend oder Gottes über die Wirklichkeit hinausgegangen und ohne alle eigennützigen Absichten! Auf dieser Stufe der Wahrhaftigkeit stehen noch viele brave Menschen: wenn sie sich selbstlos fühlen, scheint es ihnen erlaubt, es mit der Wahrheit leichter Zunehmen. Man beachte doch, dass weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tugenden die Redlichkeit vorkommt: diese ist eine der jüngsten Tugenden, noch wenig gereift, noch oft verwechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst, — etwas Werdendes, das wir fördern oder hemmen können, je nachdem unser Sinn steht.

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