143.
Wehe, wenn dieser Trieb erst wüthet! — Gesetzt, der Trieb der Anhänglichkeit und Fürsorge für Andere (die» sympathische Affection«) wäre doppelt so stark, als er ist, so wäre es gar nicht auf der Erde auszuhalten. Man bedenke doch nur, was Jeder aus Anhänglichkeit und Fürsorge für sich selber an Thorheiten begeht, täglich und stündlich, und wie unausstehlich er dabei anzusehen ist: wie wäre es, wenn wir für Andere das Object dieser Thorheiten und Zudringlichkeiten würden, mit denen sie sich bisher nur selber heimgesucht haben! Würde man dann nicht blindlings flüchten, sobald ein» Nächster «uns nahe käme? Und die sympathische Affection mit ebenso bösen Worten belegen, mit denen wir jetzt den Egoismus belegen?
144.
Die Ohren vor dem Jammer zuhalten. — Wenn wir uns durch den Jammer und das Leiden der anderen Sterblichen verdüstern lassen und unsern eigenen Himmel mit Wolken bedecken, wer hat dann die Folgen dieser Verdüsterung zu tragen? Eben doch die anderen Sterblichen, und zu allen ihren Lasten noch hinzu! Wir können weder hülfreich noch erquicklich für sie sein, wenn wir das Echo ihres Jammers sein wollen, ja auch wenn wir immer nur nach ihm hin unser Ohr richten, — es sei denn, dass wir die Kunst der Olympier erlernten und uns fürderhin am Unglück der Menschen erbauten, anstatt daran unglücklich zu werden. Das ist aber etwas zu olympierhaft für uns: obwohl wir, mit dem Genuss der Tragödie, schon einen Schritt nach diesem idealischen Götter-Kanibalenthum gethan haben.
145.
«Unegoistisch! — Jener ist hohl und will voll werden, Dieser ist überfüllt und will sich ausleeren, — Beide treibt es, sich ein Individuum zu suchen, das ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt man beidemal mit Einem Worte: Liebe, — wie? die Liebe sollte etwas Unegoistisches sein?
146.
Auch über den Nächsten hinweg. — Wie? Das Wesen des wahrhaft Moralischen liege darin, dass wir die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen für den Anderen in's Auge fassen und uns darnach entscheiden? Diess ist nur eine enge und kleinbürgerliche Moral, wenn es auch Moral sein mag: aber höher und freier scheint es mir gedacht, auch über diese nächsten Folgen für den Anderen hinwegzusehen und entferntere Zwecke unter Umständen auch durch das Leid des Anderen zu fördern, — zum Beispiel die Erkenntniss zu fördern, auch trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei zunächst und unmittelbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird. Dürfen wir unseren Nächsten nicht wenigstens so behandeln, wie wir uns behandeln? Und wenn wir bei uns nicht so eng und kleinbürgerlich an die unmittelbaren Folgen und Leiden denken: warum müssten wir es bei ihm thun? Gesetzt, wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns: was würde uns verbieten, den Nächsten mit aufzuopfern? — so wie es bisher der Staat und der Fürst thaten, die den einen Bürger den anderen zum Opfer brachten,»der allgemeinen Interessen wegen«, wie man sagte. Aber auch wir haben allgemeine und vielleicht allgemeinere Interessen: warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen? sodass ihr Gram, ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nöthig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für Alle machen solle? — Endlich: wir theilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er sich als Opfer fühlen kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid? Aber wenn wir auch über unser Mitleid hinweg gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist diess nicht eine höhere und freiere Haltung und Stimmung, als jene, bei der man sich sicher fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten wohl oder wehe thut? Wir dagegen würden doch durch das Opfer — in welchem wir und die Nächsten einbegriffen sind — das allgemeine Gefühl der menschlichen Macht stärken und höher heben, gesetzt auch, dass wir nicht Mehr erreichten. Aber schon diess wäre eine positive Vermehrung des Glückes. — Zuletzt, wenn diess sogar — doch hier kein Wort mehr! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden.
147.
Ursache des» Altruismus«. — Von der Liebe haben die Menschen im Ganzen desshalb so emphatisch und vergöttlichend gesprochen, weil sie Wenig davon gehabt haben und sich niemals an dieser Kost satt essen durften: so wurde sie ihnen» Götterkost«. Möge ein Dichter einmal im Bilde einer Utopie die allgemeine Menschenliebe als vorhanden zeigen: gewiss, er wird einen qualvollen und lächerlichen Zustand zu beschreiben haben, dessengleichen die Erde noch nicht sah, — Jedermann nicht von Einem Liebenden umschwärmt, belästigt und ersehnt, wie es jetzt vorkommt, sondern von Tausenden, ja von Jedermann, vermöge eines unbezwingbaren Triebes, den man dann ebenso beschimpfen und verfluchen wird, wie es die ältere Menschheit mit der Selbstsucht gethan hat; und die Dichter jenes Zustandes, wenn man ihnen zum Dichten die Ruhe lässt, von Nichts träumend als von der seligen liebelosen Vergangenheit, der göttlichen Selbstsucht, der einstmals auf Erden noch möglichen Einsamkeit, Ungestörtheit, Unbeliebtheit, Gehasstheit, Verachtetheit und wie immer die ganze Niedertracht unserer lieben Thierwelt heisst, in der wir leben.
148.
Ausblick in die Ferne. — Sind nur die Handlungen moralisch, wie man wohl definirt hat, welche um des Anderen willen und nur um seinetwillen gethan werden, so giebt es keine moralischen Handlungen! Sind nur die Handlungen moralisch — wie eine andere Definition lautet — , welche in Freiheit des Willens gethan werden, so giebt es ebenfalls keine moralischen Handlungen! — Und was ist also Das, was man so nennt und das doch jedenfalls existirt und erklärt sein will? Es sind die Wirkungen einiger intellectueller Fehlgriffe. — Und gesetzt, man machte sich von diesen Irrthümern frei, was würde aus den» moralischen Handlungen«? — Vermöge dieser Irrthümer theilten wir bisher einigen Handlungen einen höheren Werth zu, als sie haben: wir trennten sie von den» egoistischen «und den» unfreien «Handlungen ab. Wenn wir sie jetzt diesen wieder zuordnen, wie wir thun müssen, so verringern wir gewiss ihren Werth (ihr Werthgefühl), und zwar unter das billige Maass hinab, weil die» egoistischen «und» unfreien «Handlungen bisher zu niedrig geschätzt wurden, auf Grund jener angeblichen tiefsten und innerlichsten Verschiedenheit. — So werden gerade sie von jetzt ab weniger oft gethan werden, weil sie von nun an weniger geschätzt werden? — Unvermeidlich! Wenigstens für eine gute Zeit, so lange die Wage des Werthgefühls unter der Reaction früherer Fehler steht! Aber unsere Gegenrechnung ist die, dass wir den Menschen den guten Muth zu den als egoistisch verschrieenen Handlungen zurückgeben und den Werth derselben wiederherstellen, — wir rauben diesen das böse Gewissen! Und da diese bisher weit die häufigsten waren und in alle Zukunft es sein werden, so nehmen wir dem ganzen Bilde der Handlungen und des Lebens seinen bösen Anschein! Diess ist ein sehr hohes Ergebniss! Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf, es zu sein!