133.
«Nicht mehr an sich denken.«— Man überlege es sich doch recht gründlich: warum springt man Einem, der vor uns in's Wasser fällt, nach, obschon man ihm gar nicht geneigt ist? Aus Mitleid: man denkt da nur noch an den Anderen, — sagt die Gedankenlosigkeit. Warum empfindet man Schmerz und Unbehagen mit Einem, der Blut speit, während man ihm sogar böse und feindlich gesinnt ist? Aus Mitleid: man denkt dabei eben nicht mehr an sich, — sagt die selbe Gedankenlosigkeit. Die Wahrheit ist: im Mitleid — ich meine in dem, was irreführender Weise gewöhnlich Mitleid genannt zu werden pflegt, — denken wir zwar nicht mehr bewusst an uns, aber sehr stark unbewusst, wie wenn wir beim Ausgleiten eines Fusses, für uns jetzt unbewusst, die zweckmässigsten Gegenbewegungen machen und dabei ersichtlich allen unseren Verstand gebrauchen. Der Unfall des Andern beleidigt uns, er würde uns unserer Ohnmacht, vielleicht unserer Feigheit überführen, wenn wir ihm nicht Abhülfe brächten. Oder er bringt schon an sich eine Verringerung unsrer Ehre vor Anderen oder vor uns selber mit sich. Oder es liegt im Unfalle und Leiden eines Anderen ein Fingerzeig der Gefahr für uns; und schon als Merkmale der menschlichen Gefährdetheit und Gebrechlichkeit überhaupt können sie auf uns peinlich wirken. Diese Art Pein und Beleidigung weisen wir zurück und vergelten sie durch eine Handlung des Mitleidens, in ihr kann eine feine Nothwehr oder auch Rache sein. Dass wir im Grunde stark an uns denken, lässt sich aus der Entscheidung errathen, welche wir in allen den Fällen treffen, wo wir dem Anblicke des Leidenden, Darbenden, Jammernden aus dem Wege gehen können: wir entschliessen uns, es nicht zu thun, wenn wir als die Mächtigeren, Helfenden hinzukommen können, des Beifalls sicher sind, unsern Glücks-Gegensatz empfinden wollen oder auch uns durch den Anblick aus der Langenweile herauszureissen hoffen. Es ist irreführend, das Leid, welches uns bei einem solchen Anblick angethan wird und das sehr verschiedener Art sein kann, Mit-Leid zu benennen, denn unter allen Umständen ist es ein Leid, von dem der vor uns Leidende frei ist: es ist uns zu eigen, wie ihm sein Leiden zu eigen ist. Nur dieses eigne Leid aber ist es, welches wir von uns abthun, wenn wir Handlungen des Mitleidens verüben. Doch thun wir Etwas der Art nie aus Einem Motive; so gewiss wir uns dabei von einem Leiden befreien wollen, so gewiss geben wir bei der gleichen Handlung einem Antriebe der Lust nach, — Lust entsteht beim Anblick eines Gegensatzes unsrer Lage, bei der Vorstellung, helfen zu können, wenn wir nur wollten, bei dem Gedanken an Lob und Erkenntlichkeit, im Falle wir hälfen, bei der Thätigkeit der Hülfe selber, insofern der Act gelingt und als etwas schrittweise Gelingendes dem Ausführenden an sich Ergötzen macht, namentlich aber in der Empfindung, dass unsere Handlung einer empörenden Ungerechtigkeit ein Ziel setzt (schon das Auslassen seiner Empörung erquickt). Diess Alles, Alles, und noch viel Feineres hinzugerechnet, ist Mitleid«: — wie plump fällt die Sprache mit ihrem Einen Worte über so ein polyphones Wesen her! — Dass dagegen das Mitleiden einartig mit dem Leiden sei, bei dessen Anblick es entsteht, oder dass es ein besonders feines durchdringendes Verstehen für dasselbe habe, diess Beides widerspricht der Erfahrung, und wer es gerade in diesen beiden Hinsichten verherrlicht hat, dem fehlte eben auf diesem Bereiche des Moralischen die ausreichende Erfahrung. Das ist mein Zweifel bei all den unglaublichen Dingen, welche Schopenhauer vom Mitleide zu berichten weiss: er, der uns damit zum Glauben an seine grosse Neuigkeit bringen möchte, das Mitleiden — eben das von ihm so mangelhaft beobachtete, so schlecht beschriebene Mitleiden — sei die Quelle aller und jeder ehemaligen und zukünftigen moralischen Handlung — und gerade um der Fähigkeiten willen, die er ihm erst angedichtet hat. — Was unterscheidet schliesslich die Menschen ohne Mitleid von den mitleidigen? Vor Allem — um auch hier nur im Groben zu zeichnen — haben sie nicht die reizbare Phantasie der Furcht, das feine Vermögen der Witterung für Gefahr; auch ist ihre Eitelkeit nicht so schnell beleidigt, wenn Etwas geschieht, das sie verhindern könnten (ihre Vorsicht des Stolzes gebietet ihnen, sich nicht unnütz in fremde Dinge zu mischen, ja sie lieben es von sich selbst aus, dass jeder sich selber helfe und seine eigenen Karten spiele). Zudem sind sie an das Ertragen von Schmerzen meistens gewöhnter, als die Mitleidigen; auch will es ihnen nicht so unbillig dünken, dass Andere leiden, da sie selber gelitten haben. Zuletzt ist ihnen der Zustand der Weichherzigkeit peinlich, wie den Mitleidigen der Zustand des stoischen Gleichmuthes; sie belegen ihn mit herabsetzenden Worten und meinen, dass ihre Männlichkeit und kalte Tapferkeit dabei in Gefahr sei, — sie verheimlichen die Thräne vor Anderen und wischen sie ab, unwillig über sich selber. Es ist eine andere Art von Egoisten, als die Mitleidigen; — sie aber im ausgezeichneten Sinne böse, und die Mitleidigen gut zu nennen, ist Nichts, als eine moralische Mode, welche ihre Zeit hat: wie auch die umgekehrte Mode ihre Zeit gehabt hat, und eine lange Zeit!
134.
In wie fern man sich vor dem Mitleiden zu hüten hat. — Das Mitleiden, sofern es wirklich Leiden schafft — und diess sei hier unser einziger Gesichtspunct — , ist eine Schwäche, wie jedes Sich-verlieren an einen schädigenden Affect. Es vermehrt das Leiden in der Welt: mag mittelbar auch hie und da in Folge des Mitleidens ein Leiden verringert oder gehoben werden, so darf man diese gelegentlichen und im Ganzen unbedeutenden Folgen nicht benutzen, um sein Wesen zu rechtfertigen, welches, wie gesagt, schädigend ist. Gesetzt, es herrschte auch nur Einen Tag: so gienge die Menschheit an ihm sofort zu Grunde. An sich hat es so wenig einen guten Charakter, wie irgend ein Trieb: erst dort, wo es gefordert und gelobt wird — und diess geschieht dort, wo man das Schädigende in ihm nicht begreift, aber eine Quelle der Lust darin entdeckt — , hängt sich ihm das gute Gewissen an, erst dann giebt man sich ihm gern hin und scheut nicht seine Kundgebung. Unter anderen Verhältnissen, wo begriffen wird, dass es schädigend ist, gilt es als Schwäche: oder, wie bei den Griechen, als ein krankhafter periodischer Affect, dem man durch zeitweilige willkürliche Entladungen seine Gefährlichkeit nehmen könne. — Wer einmal, versuchsweise, den Anlässen zum Mitleiden im praktischen Leben eine Zeitlang absichtlich nachgeht und sich alles Elend, dessen er in seiner Umgebung habhaft werden kann, immer vor die Seele stellt, wird unvermeidlich krank und melancholisch. Wer aber gar als Arzt in irgend einem Sinne der Menschheit dienen will, wird gegen jene Empfindung sehr vorsichtig werden müssen, — sie lähmt ihn in allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine hülfreiche feine Hand.
135.
Das Bemitleidetwerden. — Unter Wilden denkt man mit moralischem Schauder an's Bemitleidetwerden: da ist man aller Tugend bar. Mitleid-gewähren heisst so viel wie Verachten: ein verächtliches Wesen will man nicht leiden sehen, es gewährt diess keinen Genuss. Dagegen einen Feind leiden zu sehen, den man als ebenbürtig-stolz anerkennt und der unter Martern seinen Stolz nicht preisgiebt, und überhaupt jedes Wesen, welches sich nicht zum Mitleid-Anrufen, das heisst zur schmählichsten und tiefsten Demüthigung verstehen will, — das ist ein Genuss der Genüsse, dabei erhebt sich die Seele des Wilden zur Bewunderung: er tödtet zuletzt einen solchen Tapferen, wenn er es in der Hand hat, und giebt ihm, dem Ungebrochenen, seine letzte Ehre: hätte er gejammert, den Ausdruck des kalten Hohnes aus dem Gesichte verloren, hätte er sich verächtlich gezeigt, — nun, so hätte er leben bleiben dürfen, wie ein Hund, — er hätte den Stolz des Zuschauenden nicht mehr gereizt und an Stelle der Bewunderung wäre Mitleiden getreten.