8.
Was kann allein unsre Lehre sein? — Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaften giebt, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst (- der Unsinn der hier zuletzt abgelehnten Vorstellung ist als »intelligible Freiheit« von Kant, vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden). Niemand ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird. Er ist nicht die Folge einer eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks, mit ihm wird nicht der Versuch gemacht, ein »Ideal von Mensch« oder ein »Ideal von Glück« oder ein »Ideal von Moralität« zu erreichen, — es ist absurd, sein Wesen in irgend einen Zweck hin abwälzen zu wollen. Wir haben den Begriff »Zweck« erfunden: in der Realität fehlt der Zweck ... Man ist nothwendig, man ist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man ist im Ganzen, — es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen ... Aber es giebt Nichts ausser dem Ganzen! — Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als »Geist« eine Einheit ist, dies erst ist die grosse Befreiung, — damit erst ist die Unschuld des Werdens wieder hergestellt ... Der Begriff »Gott« war bisher der grösste Einwand gegen das Dasein ... Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott: damit erst erlösen wir die Welt. —
Die »Verbesserer« der Menschheit.
1.
Man kennt meine Forderung an den Philosophen, sich jenseits von Gut und Böse zu stellen, — die Illusion des moralischen Urtheils unter sich zu haben. Diese Forderung folgt aus einer Einsicht, die von mir zum ersten Male formulirt worden ist: dass es gar keine moralischen Thatsachen giebt. Das moralische Urtheil hat Das mit dem religiösen gemein, dass es an Realitäten glaubt, die keine sind. Moral ist nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine Missdeutung. Das moralische Urtheil gehört, wie das religiöse, einer Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff des Realen, die Unterscheidung des Realen und Imaginären noch fehlt: so dass »Wahrheit« auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute »Einbildungen« nennen. Das moralische Urtheil ist insofern nie wörtlich zu nehmen: als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als Semiotik unschätzbar: es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten, die nicht genug wussten, um sich selbst zu »verstehn«. Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie: man muss bereits wissen, worum es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehen.
2.
Ein erstes Beispiel und ganz vorläufig. Zu allen Zeiten hat man die Menschen »verbessern« wollen: dies vor Allem hiess Moral. Aber unter dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt. Sowohl die Zähmung der Bestie Mensch als die Züchtung einer bestimmten Gattung Mensch ist »Besserung« genannt worden:, erst diese zoologischen termini drücken Realitäten aus — Realitäten freilich, von denen der typische »Verbesserer«, der Priester, Nichts weiss — Nichts wissen will ... Die Zähmung eines Thieres seine »Besserung« nennen ist in unsren Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiss, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, dass die Bestie daselbst »verbessert« wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur krankhaften Bestie. — Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester »verbessert« hat. Im frühen Mittelalter, wo in der That die Kirche vor Allem eine Menagerie war, machte man allerwärts auf die schönsten Exemplare der »blonden Bestie« Jagd, — man »verbesserte« zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher »verbesserter«, in's Kloster verführter Germane aus? Wie eine Caricatur des Menschen, wie eine Missgeburt: er war zum »Sünder« geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt ... Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig; voller Hass gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen Alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein »Christ«... Physiologisch geredet: im Kampf mit der Bestie kann Krank machen das einzige Mittel sein, sie schwach zu machen. Das verstand die Kirche: sie verdarb den Menschen, sie schwächte ihn, — aber sie nahm in Anspruch, ihn »verbessert« zu haben ...
3.
Nehmen wir den andern Fall der sogenannten Moral, den Fall der Züchtung einer bestimmten Rasse und Art. Das grossartigste Beispiel dafür giebt die indische Moral, als »Gesetz des Manu« zur Religion sanktionirt. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier Rassen auf einmal zu züchten: eine priesterliche, eine kriegerische, eine händler- und ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Thierbändigern: eine hundert Mal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die Voraussetzung, um auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu concipiren. Man athmet auf, aus der christlichen Kranken- und Kerkerluft in diese gesündere, höhere, weitere Welt einzutreten. Wie armselig ist das »neue Testament« gegen Manu, wie schlecht riecht es! — Aber auch diese Organisation hatte nöthig, furchtbar zu sein, — nicht dies Mal im Kampf mit der Bestie, sondern mit ihrem Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen, dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn krank zu machen, — es war der Kampf mit der »grossen Zahl«. Vielleicht giebt es nichts unserm Gefühle Widersprechenderes als diese Schutzmaassregeln der indischen Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra 1), das »von den unreinen Gemüsen«, ordnet an, dass die einzige Nahrung, die den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in Anbetracht, dass die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder Früchte, die Körner tragen, oder Wasser oder Feuer zu geben. Dasselbe Edikt setzt fest, dass das Wasser, welches sie nöthig haben, weder aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen werden dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern, welche durch die Fusstapfen der Thiere entstanden sind. Insgleichen wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu waschen und sich selbst zu waschen, da das Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich ein Verbot an die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehen, insgleichen noch eins für die letzteren, einander dabei beizustehen ... — Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus: mörderische Seuchen, scheussliche Geschlechtskrankheiten und darauf hin wieder »das Gesetz des Messers«, die Beschneidung für die männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen Kinder anordnend. — Manu selbst sagt: »die Tschandala sind die Frucht von Ehebruch, Incest und Verbrechen (- dies die nothwendige Consequenz des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister; sie sollen ohne Ruhe von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten, von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu bedienen: der Gebrauch der rechten Hand und des von Links nach Rechts ist bloss den Tugendhaften vorbehalten, den Leuten von Rasse.« —