(Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.)
5.
Die »wahre Welt« — eine Idee, die zu Nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpflichtend, — eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee: schaffen wir sie ab!
(Heller Tag; Frühstück; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit; Schamröthe Plato's; Teufelslärm aller freien Geister.)
6.
Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? die scheinbare vielleicht? ... Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!
(Mittag; Augenblick des kürzesten Schattens; Ende des längsten Irrthums; Höhepunkt der Menschheit; INCIPIT ZARATHUSTRA.)
Moral als Widernatur.
1.
Alle Passionen haben eine Zeit, wo sie bloss verhängnissvoll sind, wo sie mit der Schwere der Dummheit ihr Opfer hinunterziehen — und eine spätere, sehr viel spätere, wo sie sich mit dem Geist verheirathen, sich »vergeistigen«. Ehemals machte man, wegen der Dummheit in der Passion, der Passion selbst den Krieg: man verschwor sich zu deren Vernichtung, — alle alten Moral-Unthiere sind einmüthig darüber »il faut tuer les passions.« Die berühmteste Formel dafür steht im neuen Testament, in jener Bergpredigt, wo, anbei gesagt, die Dinge durchaus nicht aus der Höhe betrachtet werden. Es wird daselbst zum Beispiel mit Nutzanwendung auf die Geschlechtlichkeit gesagt »wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus«: zum Glück handelt kein Christ nach dieser Vorschrift. Die Leidenschaften und Begierden vernichten, bloss um ihrer Dummheit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit vorzubeugen, erscheint uns heute selbst bloss als eine akute Form der Dummheit. Wir bewundern die Zahnärzte nicht mehr, welche die Zähne ausreissen, damit sie nicht mehr weh thun ... Mit einiger Billigkeit werde andrerseits zugestanden, dass auf dem Boden, aus dem das Christenthum gewachsen ist, der Begriff »Vergeistigung der Passion« gar nicht concipirt werden konnte. Die erste Kirche kämpfte ja, wie bekannt, gegen die »Intelligenten« zu Gunsten der »Armen des Geistes«: wie dürfte man von ihr einen intelligenten Krieg gegen die Passion erwarten? — Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem Sinne: ihre Praktik, ihre »Kur« ist der Castratismus. Sie fragt nie: »wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man eine Begierde?« — sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin auf die Ausrottung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der Rachsucht) gelegt. — Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst das Leben an der Wurzel angreifen: die Praxis der Kirche ist lebensfeindlich ...
2.
Dasselbe Mittel, Verschneidung, Ausrottung, wird instinktiv im Kampfe mit einer Begierde von Denen gewählt, welche zu willensschwach, zu degenerirt sind, um sich ein Maass in ihr auflegen zu können: von jenen Naturen, die la Trappe nöthig haben, im Gleidiniss gesprochen (und ohne Gleichniss —), irgend eine endgültige Feindschafts-Erklärung, eine Kluft zwischen sich und einer Passion. Die radikalen Mittel sind nur den Degenerirten unentbehrlich; die Schwäche des Willens, bestinunter geredet, die Unfähigkeit, auf einen Reiz nicht zu reagiren, ist selbst bloss eine andre Form der Degenerescenz. Die radikale Feindschaft, die Todfeindschaft gegen die Sinnlichkeit bleibt ein nachdenkliches Symptom: man ist damit zu Vermuthungen über den Gesammt-Zustand eines dergestalt Excessiven berechtigt. — Jene Feindschaft, jener Hass kommt übrigens erst auf seine Spitze, wenn solche Naturen selbst zur Radikal-Kur, zur Absage von ihrem Teufel« nicht mehr Festigkeit genug haben. Man überschaue die ganze Geschichte der Priester und Philosophen, der Künstler hinzugenommen: das Giftigste gegen die Sinne ist nicht von den Impotenten gesagt, auch nicht von den Asketen, sondern von den unmöglichen Asketen, von Solchen, die es nöthig gehabt hätten, Asketen zu sein ...
3.
Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heisst Liebe: sie ist ein grosser Triumph über das Christenthum. Ein andrer Triumph ist unsre Vergeistigung der Feindschaft. Sie besteht darin, dass man tief den Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben: kurz, dass man umgekehrt thut und schliesst als man ehedem that und schloss. Die Kirche wollte zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde: wir, wir Immoralisten und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche besteht ... Auch im Politischen ist die Feindschaft jetzt geistiger geworden, — viel klüger, viel nachdenklicher, viel schonender. Fast jede Partei begreift ihr Selbsterhaltungs-Interesse darin, dass die Gegenpartei nicht von Kräften kommt; dasselbe gilt von der grossen Politik. Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde nöthiger als Freunde: im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig, im Gegensatz wird es erst nothwendig ... Nicht anders verhalten wir uns gegen den »inneren Feind«: auch da haben wir die Feindschaft vergeistigt, auch da haben wir ihren Werth begriffen. Man ist nur fruchtbar um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein; man bleibt nur jung unter der Voraussetzung, dass die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt ... Nichts ist uns fremder geworden als jene Wünschbarkeit von Ehedem, die vom »Frieden der Seele«, die christliche Wünschbarkeit; Nichts macht uns weniger Neid als die Moral-Kuh und das fette Glück des guten Gewissens. Man hat auf das große Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet ... In vielen Fällen freilich ist der »Frieden der Seele« bloss ein Missverständniss, — etwas Anderes, das sich nur nicht ehrlicher zu benennen weiss. Ohne Umschweif und Vorurtheil ein paar Fälle. »Frieden der Seele« kann zum Beispiel die sanfte Ausstrahlung einer reichen Animalität in's Moralische (oder Religiöse) sein. Oder der Anfang der Müdigkeit, der erste Schatten, den der Abend, jede Art Abend wirft. Oder ein Zeichen davon, dass die Luft feucht ist, dass Südwinde herankommen. Oder die Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche Verdauung (»Menschenliebe« mitunter genannt). Oder das Stille-werden des Genesenden, dem alle Dinge neu schmecken und der wartet ... Oder der Zustand, der einer starken Befriedigung unsrer herrschenden Leidenschaft folgt, das Wohlgefühl einer seltnen Sattheit. Oder die Altersschwäche unsres Willens, unsrer Begehrungen, unsrer Laster. Oder die Faulheit, von der Eitelkeit überredet, sich moralisch aufzuputzen. Oder der Eintritt einer Gewissheit, selbst furchtbaren Gewissheit, nach einer langen Spannung und Marterung durch die Ungewissheit. Oder der Ausdruck der Reife und Meisterschaft mitten im Thun, Schaffen, Wirken, Wollen, das ruhige Athmen, die erreichte »Freiheit des Willens« ... Götzen-Dämmerung: wer weiss? vielleicht auch nur eine Art »Frieden der Seele« ...
4.
— Ich bringe ein Princip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral, das heisst jede gesunde Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht, — irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten Kanon von »Soll« und »Soll nicht« erfüllt, irgend eine Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschafft. Die widernatürliche Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade gegen die Instinkte des Lebens, — sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche Verurtheilung dieser Instinkte. Indem sie sagt »Gott sieht das Herz an«, sagt sie Nein zu den untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Feind des Lebens ... Der Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat ... Das Leben ist zu Ende, wo das »Reich Gottes« anfängt ...