39.
Kritik der Modernität. — Unsre Institutionen taugen nichts mehr: darüber ist man einmüthig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an uns. Nachdem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden, weil wir nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jeder Zeit die Niedergangs-Form der organisirenden Kraft: ich habe schon in »Menschliches, Allzumenschliches« 1, 318 die moderne Demokratie sammt ihren Halbheiten, wie »deutsches Reich«, als Verfallsform des Staats gekennzeichnet. Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit: den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur Solidarität von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infinitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich Etwas wie das imperium Romanum: oder wie Russland, die einzige Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann, — Russland der Gegensatz-Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des deutschen Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist ... Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Zukunft wächst: seinem »modernen Geiste« geht vielleicht Nichts so sehr wider den Strich. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind, — man lebt sehr unverantwortlich: dies gerade nennt man »Freiheit«. Was aus Institutionen Institutionen macht, wird verachtet, gehasst, abgelehnt: man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort »Autorität« auch nur laut wird. So weit geht die décadence im Werth-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien: sie ziehn instinktiv vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt ... Zeugniss die moderne Ehe. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle Vernunft abhanden gekommen: das giebt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe — sie lag in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Mannes: damit hatte die Ehe Schwergewicht, während sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe — sie lag in ihrer principiellen Unlösbarkeit: damit bekam sie einen Accent, der, dem Zufall von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, sich Gehör zu schaffen wusste. Sie lag insgleichen in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz zu Gunsten der Liebes-Heirath geradezu die Grundlage der Ehe, Das, was erst aus ihr eine Institution macht, eliminirt. Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe nicht, wie gesagt, auf die »Liebe«, — man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf den Herrschafts-Trieb, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisirt, der Kinder und Erben braucht, um ein erreichtes Maass von Macht, Einfluss, Reichthum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich: wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich gutsagen kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. — Die moderne Ehe verlor ihren Sinn, — folglich schafft man sie ab. —
40.
Die Arbeiter-Frage. — Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache aller Dummheiten ist, liegt darin, dass es eine Arbeiter-Frage giebt. Über gewisse Dinge fragt man nicht: erster Imperativ des Instinktes. — Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem europäischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befindet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die grosse Zahl für sich. Die Hoffnung ist vollkommen vorüber, dass hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde: und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Nothwendigkeit gewesen. Was hat man gethan? — Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten, — man hat die Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, sich selber möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Coalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben: was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Nothstand (moralisch ausgedrückt als Unrecht —) empfindet? Aber was will man? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muss man auch die Mittel wollen: will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht. —
41.
»Freiheit, die ich nicht meine ...« In solchen Zeiten, wie heute, seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängniss mehr. Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich unter einander; ich definirte das Moderne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft der Erziehung würde wollen, dass unter einem eisernen Drucke wenigstens Eins dieser Instinkt-Systeme paralysirt würde, um einem andren zu erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müsste man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe beschneidet: möglich, das heisst ganz ... Das Umgekehrte geschieht: der Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von Denen am hitzigsten gemacht, für die kein Zügel zu streng wäre — dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das ist ein Symptom der décadence: unser moderner Begriff »Freiheit« ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr. —
42.
Wo Glaube noth thut. — Nichts ist seltner unter Moralisten und Heiligen als Rechtschaffenheit; vielleicht sagen sie das Gegentheil, vielleicht glauben sie es selbst. Wenn nämlich ein Glaube nützlicher, wirkungsvoller, überzeugender ist, als die bewusste Heuchelei, so wird, aus Instinkt, die Heuchelei alsbald zur Unschuld: erster Satz zum Verständniss grosser Heiliger. Auch bei den Philosophen, einer andren Art von Heiligen, bringt es das ganze Handwerk mit sich, dass sie nur gewisse Wahrheiten zulassen: nämlich solche, auf die hin ihr Handwerk die öffentliche Sanktion hat, — Kantisch geredet, Wahrheiten der praktischen Vernunft. Sie wissen, was sie beweisen müssen, darin sind sie praktisch, — sie erkennen sich unter einander daran, dass sie über »die Wahrheiten« übereinstimmen. — »Du sollst nicht lügen« — auf deutsch: hüten Sie sich, mein Herr Philosoph, die Wahrheit zu sagen ...
43.
Den Conservativen in's Ohr gesagt. — Was man früher nicht wusste, was man heute weiss, wissen könnte —, eine Rückbildung, eine Umkehr in irgend welchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das. Aber alle Priester und Moralisten haben daran geglaubt, — sie wollten die Menschheit auf ein früheres Maass von Tugend zurückbringen, zurückschrauben. Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht: es giebt auch heute noch Parteien, die als Ziel den Krebsgang aller Dinge träumen. Aber es steht Niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts: man muss vorwärts, will sagen Schritt für Schritt weiter in der décadence (- dies meine Definition des modernen »Fortschritts« ... ). Man kann diese Entwicklung hemmen und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plötzlicher machen: mehr kann man nicht. —
44.
Mein Begriff vom Genie. — Grosse Männer sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, — dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das »Genie«, die »That«, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an »Zeitgeist«, an »öffentlicher Meinung«! — Man nehme den Fall Napoleon's. Das Frankreich der Revolution, und noch mehr das der Vorrevolution, würde aus sich den entgegengesetzten Typus, als der Napoleon's ist, hervorgebracht haben: es hat ihn auch hervorgebracht. Und weil Napoleon anders war, Erbe einer stärkeren, längeren, älteren Civilisation als die, welche in Frankreich in Dampf und Stücke gieng, wurde er hier Herr, war er allein hier Herr. Die grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufällig; dass sie fast immer über dieselbe Herr werden, liegt nur darin, dass sie stärker, dass sie älter sind, dass länger auf sie hin gesammelt worden ist. Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein Verhältniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt und jung: die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger, unsicherer, kindischer. — Dass man hierüber in Frankreich heute sehr anders denkt (in Deutschland auch: aber daran liegt nichts), dass dort die Theorie vom milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen Glauben findet, das »riecht nicht gut«, das macht Einem traurige Gedanken. — Man versteht es auch in England nicht anders, doch darüber wird sich kein Mensch betrüben. Dem Engländer stehen nur zwei Wege offen, sich mit dem Genie und »grossen Manne« abzufinden: entweder demokratisch in der Art Buckle's oder religiös in der Art Carlyle's. — Die Gefahr, die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausser ordentlich; die Erschöpfung jeder Art, die Sterilität folgt ihnen auf dem Fusse. Der grosse Mensch ist ein Ende; die grosse Zeit, die Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie — in Werk, in That — ist nothwendig ein Verschwender: dass es sich ausgiebt, ist seine Grösse ... Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt; der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das »Aufopferung«; man rühmt seinen »Heroismus« darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung für eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland: Alles Missverständnisse ... Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht, — mit Fatalität, verhängnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art höherer Moral ... Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit: sie missversteht ihre Wohlthäter.-