Er kletterte auf den Kirschbaum und kroch zum Bienennest. Der Ast unter ihm bog sich tiefer und tiefer und als der glücklose Drache fast sein Wunschziel erreichte und den „Sack“ beinahe in den Pfoten hielt, brach der Ast und Nico fiel zusammen mit seiner Beute zu Boden.
Durch die unsanfte Landung erdrückte Nico das Bienenhaus und eine Unmenge wütender Bewohner stürmte hervor. Es bildete sich eine große, bedrohliche Wolke in der Luft, die sich direkt auf den Drachen stürzte. Erst stach ihn eine Biene, dann eine zweite…
Nico lief stolpernd über die Wiese, warf mit Zapfen nach den Bienen, versteckte sich hinter Bäumen und unter deren Wurzeln, aber die kleinen Bienen fanden ihn überall. Um der schrecklichen Horde zu entkommen, warf Nico einen Zweig nach ihnen. Der Bienenschwarm zerfiel für einen Moment, kam aber schnell wieder zusammen und attackierte den Zerstörer ihres Nestes erneut unter lautem Gedröhne. Jedoch gab, die vorübergehende Verwirrung der Bienen, Nico die Möglichkeit fortzulaufen und in ein kleines Gewässer in der Nähe eines Felsens zu springen.
Der glücklose Langfinger saß nun unter Wasser und seine riesigen Augen blickten, wie zwei starre Bälle, durchs Nass auf die Bienen, die darüber kreisten und ihm nun noch schrecklicher
vorkamen. Sie wollten offensichtlich nicht weg fliegen. Nico saß still, bis er fast keine Luft mehr hatte, dann kroch er auf dem Boden zum nächstgelegenen Ufer, dort wuchs Schilf und hohes Gras. Er machte sich aus Schilf ein Röhrchen, mit dessen Hilfe er atmen konnte und blickte sich um, fieberhaft überlegend, wie er nur aus dieser Situation herauskommen könnte. Plötzlich sah Nico unter Wasser eine ziemlich breite Felsspalte. Mit Hilfe seines neuen „Atemgeräts“ nahm er tief Luft, schob sich durch die Felsspalte und tatsächlich, schon bald erreichte er einen trockenen Platz. Er schaute sich um und begriff, dass er in einer kleinen Höhle gelandet war.
Bald stellte er fest, dass es einen weiteren Ausgang gab. Dieser war mit Gebüsch überwuchert und über ihm hing ein Teil eines Hauses. Aber die Höhle war Dank des Gebüschs so gut versteckt, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, sie hier zu vermuten.
Auf diesem Weg fand Nico ein neues Zuhause. Auf Honigjagd ging er nicht mehr, er hatte genügend Obst und Beeren. Der kleine Drache war nie auf einer der schwebenden Inseln von Atalanta gewesen, denn er konnte nicht fliegen. Genauer gesagt, er konnte, aber nicht höher als einen Meter und auch das nur wenn er hochsprang. Aber der kleine Nico fand auch so genügend Vergnügungen. Tagelang wanderte er über die große Insel, insbesondere aber liebte er es, wenn in der Stadt ein Fest veranstaltet wurde. Dann bemühte sich der kleinen Drache, ein Versteck zu finden, in dem er von keinem gesehen wurde, denn die einheimischen Kinder hätten ihn nur wieder ausgelacht. Aus einem solchen Versteck beobachtete er dann alles was sich in der Stadt abspielte.
In der Zwischenzeit stahl sich Nico immer öfter in das Haus über seiner Höhle. Er stibitzte von den dortigen Tischen alles Mögliche: Löffel, Gabeln, Messer, verschiedenen Knöpfe, Haarklammern. Kurz gesagt alles was in seine, nicht besonders großen Pfoten passte. Eines Tages schlich er sich durch einen Flur ein und sah eine Rüstung durch die geöffnete Tür des Herrenzimmers. Diese war so blank geputzt, dass es möglich war, seine Zahnfüllungen darin zu betrachten, nur falls man welche hatte natürlich.
Nico erlag der Versuchung. Er kroch in das Panzerhemd, setzte die Blechhaube auf seinen Kopf, nahm ganz nebenbei ein Schwert, dessen Handgriff mit funkelnden Edelsteinen verziert war und schleppte sich mit all diesen Gegenständen Richtung Zuhause. Mit unglaublicher Mühe schlich sich der Abenteurer, die ganze Last auf seinen schmächtigen Schultern, zu einer Wendeltreppe. Als er bereits einige Stufen geschafft hatte steckte plötzlich das Schwert fest und Nico, der den Griff festhielt, hing daran. Nico schaute hoch und sah einen riesigen Fuß auf der flachen Klinge des Schwertes stehen, das nun waagerecht festsaß, weshalb Nico über den Stufen hing.
Der Herr des Hauses hatte den Langfinger auf frischer Tat erwischt und sah nun, die Fäuste in die Hüften gestemmt, finster und mürrisch auf den glücklosen Drachen herab. Nico lies vor Angst das Schwert los und rollte Hals über Kopf die Treppe hinunter. Die Unmengen an Metall die Nico umgaben, machten so einen Krach, dass das ganze Haus in Aufruhr geriet. Als er endlich bis zum Boden hinunter gekullert war, wand sich Nico aus der Rüstung heraus, wartete bis er aufhörte Sterne zu sehen und suchte, langsam zur Besinnung kommend, das Weite. Er lief über Flure, stürzte auf eine Terrasse, schlüpfte zwischen den figürlichen Balustern des Geländers hindurch und klammerte sich an die Zweige und Wurzeln der Pflanzen. Lange Zeit wurde im ganzen Haus nach ihm gesucht und von den Balkonen nach ihm Ausschau gehalten, aber es gelang dem Drachen über die Zweige zu seinem Versteck hinunter zu klettern und nach diesem Vorfall ging er nicht mehr ins Haus.
Nico war kein böser oder gieriger Drache, er hatte einfach von klein auf eine Schwäche für alles was glänzt. Er verstand selbst nicht warum, aber der Besitz dieser Dinge machte ihn glücklich. Vielleicht war es das Empfinden etwas Besonderes tun zu können. Wirkte es so auf ihn? Nein, wohl eher gab es ihm ein aufregendes Gefühl der Gefahr, mit dem er versuchte den Mangel an Liebe und Aufmerksamkeit seitens seiner Familie zu ersetzen. Er hatte den Eindruck auf diese Weise allen zeigen zu können, wie tapfer er ist und dass sie ihn nun endlich bemerken würden und dem kleinen unglücklichen Drachen die Aufmerksamkeit schenken würden, die ihm so sehr fehlte. Und so schleppte Nico ständig, alles Glänzende das er finden konnte, in seine klitzekleine Höhle am Rande der größten Stadt der Insel. Die Besitzer des Hauses, hatten nicht den Schimmer einer Ahnung, dass es unten im Felsen eine Höhle gab, in der sich Vorräte aller Art, wie Steine, Metall, Knöpfe, Haarklammern und Besteck türmten.
***
Als der König, anlässlich des Zweihundertsten Geburtstages seiner Söhne einen Ball gab, schaffte es Nico, sich in den Empfang hinein zu schmuggeln. Es kostete ihn unglaubliche Kräfte, aber er wünschte sich so sehr zu sehen was dort stattfand.
Den kleinen Drachen hatte schon immer der Glanz und Glimmer angezogen der ihn umgeben hatte, wenn er mit seiner Familie königliche Feste besucht hatte. Aber jetzt, wo er von zu Hause weg war, hatte er keine Möglichkeit mehr an so einem Fest teilzunehmen.
Er wusste, dass die Teilnehmer des Festes viele glänzende Schmuckstücke tragen würden und das gab Nico keine Ruhe.
Auf Schloss Leimader war der gesamte Hochadel im Anflug und dem kleinen Abenteurer kam die Idee, unter die Kleidung einer eben gelandeten Dame zu kriechen. Die Dame war eine der Ältesten und trug Mode nach der alten Art – einen sehr dichten und langen Überwurf, der sowohl den durch ihr Alter hängenden Bauch, als auch ihren Rücken und Schwanz bedeckte. Nico machte sich diese Möglichkeit zunutze und da er nicht groß war hatte er gerade genug Platz zwischen den riesigen Falten des dichten Überwurfs. Das einzig Störende waren seine Federn, diese kitzelten die alte Dame und sie hüpfte und kicherte die ganze Zeit, aber der Hofzwang erlaubte ihr es nicht, sich zu kratzen. So gelang es Nico, ohne Vorkommnisse in das Schloss vorzudringen.
Die Gäste traten durch das Haupttor ein und vor ihnen öffnete sich eine Phalanx vergoldeter Türen, eine nach der anderen führte tiefer in das Schloss hinein. Die letzte Tür führte in einen riesigen Saal mit Säulen bis zur Decke. Die Decke dieses Saals war durchsichtig und öffnete sich wie in einem Planetarium.
Auf Atalanta gab es immer gutes Wetter. Hier schien immer die Sonne, Winter gab es nicht. An diesem Tag, der Feier zur Volljährigkeit der königlichen Söhne, schien sie besonders hell. Ihre Strahlen, die durch die Glasmalerei der Fenster strömten, verzierten die Räume mit Sonnenflecken in allen Regenbogenfarben.