Das» Himmelreich «ist ein Zustand des Herzens — nicht Etwas, das»über der Erde «oder» nach dem Tode «kommt. Der ganze Begriff des natürlichen Todes fehlt im Evangelium: der Tod ist keine Brücke, kein Übergang, er fehlt, weil einer ganz andern bloss scheinbaren, bloss zu Zeichen nützlichen Welt zugehörig. Die» Todesstunde «ist kein christlicher Begriff — die» Stunde«, die Zeit, das physische Leben und seine Krisen sind gar nicht vorhanden für den Lehrer der» frohen Botschaft«… Das» Reich Gottes «ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in» tausend Jahren«— es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da…
Dieser» frohe Botschafter «starb wie er lebte, wie er lehrte — nicht um» die Menschen zu erlösen«, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterliess: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn, — sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äusserste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus… Und er bittet, er leidet, er liebt mit denen, in denen, die ihm Böses thun… Die Worte zum Schächer am Kreuz enthalten das ganze Evangelium.»Das ist wahrlich ein göttlicher Mensch gewesen, ein Kind Gottes «sagt der Schächer.»Wenn du dies fühlst — anwortet der Erlöser — so bist du im Paradiese, so bist auch du ein Kind Gottes…«Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen… Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, — ihn lieben…
Erst wir, wir freigewordenen Geister, haben die Voraussetzung dafür, Etwas zu verstehn, das neunzehn Jahrhunderte missverstanden haben, — jene Instinkt und Leidenschaft gewordene Rechtschaffenheit, welche der» heiligen Lüge «noch mehr als jeder andren Lüge den Krieg macht… Man war unsäglich entfernt von unsrer liebevollen und vorsichtigen Neutralität, von jener Zucht des Geistes, mit der allein das Errathen so fremder, so zarter Dinge ermöglicht wird: man wollte jeder Zeit, mit einer unverschämten Selbstsucht, nur seinen Vortheil darin, man hat aus dem Gegensatz zum Evangelium die Kirche aufgebaut…
Wer nach Zeichen dafür suchte, dass hinter dem grossen Welten-Spiel eine ironische Göttlichkeit die Finger handhabte, er fände keinen kleinen Anhalt in dem ungeheuren Fragezeichen, das Christenthum heisst. Dass die Menschheit vor dem Gegensatz dessen auf den Knien liegt, was der Ursprung, der Sinn, das Recht des Evangeliums war, dass sie in dem Begriff» Kirche «gerade das heilig gesprochen hat, was der» frohe Botschafter «als unter sich, als hinter sich empfand — man sucht vergebens nach einer grösseren Form welthistorischer Ironie -
— Unser Zeitalter ist stolz auf seinen historischen Sinn: wie hat es sich den Unsinn glaublich machen können, dass an dem Anfange des Christenthums die grobe Wunderthäter — und Erlöser-Fabel steht, — und dass alles Spirituale und Symbolische erst eine spätere Entwicklung ist? Umgekehrt: die Geschichte des Christenthums — und zwar vom Tode am Kreuze an — ist die Geschichte des schrittweise immer gröberen Missverstehns eines ursprünglichen Symbolismus. Mit jeder Ausbreitung des Christenthums über noch breitere, noch rohere Massen, denen die Voraussetzungen immer mehr abgiengen, aus denen es geboren ist, wurde es nöthiger, das Christenthum zu vulgarisiren, zu barbarisiren, — es hat Lehren und Riten aller unterirdischen Culte des imperium Romanurn, es hat den Unsinn aller Arten kranker Vernunft in sich eingeschluckt. Das Schicksal des Christenthums liegt in der Nothwendigkeit, dass sein Glaube selbst so krank, so niedrig und vulgär werden musste, als die Bedürfnisse krank, niedrig und vulgär waren, die mit ihm befriedigt werden sollten. Als Kirche summirt sich endlich die kranke Barbarei selbst zur Macht, — die Kirche diese Todfeindschaftsform zu jeder Rechtschaffenheit, zu jeder Höhe der Seele, zu jeder Zucht des Geistes, zu jeder freimüthigen und gütigen Menschlichkeit. — Die christlichen — die vornehmen Werthe: erst wir, wir freigewordnen Geister, haben diesen grössten Werth-Gegensatz, den es giebt, wiederhergestellt! —
— Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer nicht. Es giebt Tage, wo mich ein Gefühl heimsucht, schwärzer als die schwärzeste Melancholie — die Menschen-Verachtung. Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich verachte: der Mensch von heute ist es, der Mensch, mit dem ich verhängnissvoll gleichzeitig bin. Der Mensch von heute — ich ersticke an seinem unreinen Athem… Gegen das Vergangne bin ich, gleich allen Erkennenden, von einer grossen Toleranz, das heisst grossmüthigen Selbstbezwingung: ich gehe durch die Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende, heisse sie nun» Christenthum«,»christlicher Glaube«,»christliche Kirche «mit einer düsteren Vorsicht hindurch, — ich hüte mich, die Menschheit für ihre Geisteskrankheiten verantwortlich zu machen. Aber mein Gefühl schlägt um, bricht heraus, sobald ich in die neuere Zeit, in unsre Zeit eintrete. Unsre Zeit ist wissend… Was ehemals bloss krank war, heute ward es unanständig, — es ist unanständig, heute Christ zu sein. Und hier beginnt mein Ekel. — Ich sehe mich um: es ist kein Wort von dem mehr übrig geblieben, was ehemals» Wahrheit «hiess, wir halten es nicht einmal mehr aus, wenn ein Priester das Wort» Wahrheit «auch nur in den Mund nimmt. Selbst bei dem bescheidensten Anspruch auf Rechtschaffenheit muss man heute wissen, dass ein Theologe, ein Priester, ein Papst mit jedem Satz, den er spricht, nicht nur irrt, sondern lügt, — dass es ihm nicht mehr freisteht, aus» Unschuld«, aus» Unwissenheit «zu lügen. Auch der Priester weiss, so gut es Jedermann weiss, dass es keinen» Gott «mehr giebt, keinen» Sünder«, keinen» Erlöser«, — dass» freier Wille«,»sittliche Weltordnung «Lügen sind: — der Ernst, die tiefe Selbstüberwindung des Geistes erlaubt Niemandem mehr, hierüber nicht zu wissen… Alle Begriffe der Kirche sind erkannt als das was sie sind, als die bösartigste Falschmünzerei, die es giebt, zum Zweck, die Natur, die Natur-Werthe zu entwerthen; der Priester selbst ist erkannt als das, was er ist, als die gefährlichste Art Parasit, als die eigentliche Giftspinne des Lebens… Wir wissen, unser Gewissen weiss es heute — , was überhaupt jene unheimlichen Erfindungen der Priester und der Kirche werth sind, wozu sie dienten, mit denen jener Zustand von Selbstschändung der Menschheit erreicht worden ist, der Ekel vor ihrem Anblick machen kann — die Begriffe» Jenseits«,»jüngstes Gericht«,»Unsterblichkeit der Seele«, die» Seele «selbst; es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge deren der Priester Herr wurde, Herr blieb… Jedermann weiss das: und trotzdem bleibt Alles beim Alten. Wohin kam das letzte Gefühl von Anstand, von Achtung vor sich selbst, wenn unsere Staatsmänner sogar, eine sonst sehr unbefangne Art Menschen und Antichristen der That durch und durch, sich heute noch Christen nennen und zum Abendmahl gehn?… Ein junger Fürst, an der Spitze seiner Regimente<r>, prachtvoll als Ausdruck der Selbstsucht und Selbstüberhebung seines Volks, — aber, ohne jede Scham, sich als Christen bekennend!… Wen verneint denn das Christenthum? was heisst es» Welt«? Dass man Soldat, dass man Richter, dass man Patriot ist; dass man sich wehrt; dass man auf seine Ehre hält; dass man seinen Vortheil will; dass man stolz ist… Jede Praktik jedes Augenblicks, jeder Instinkt, jede zur That werdende Werthschätzung ist heute antichristlich: was für eine Missgeburt von Falschheit muss der moderne Mensch sein, dass er sich trotzdem nicht schämt, Christ noch zu heissen! -
— Ich kehre zurück, ich erzähle die echte Geschichte des Christenthums. — Das Wort schon» Christenthum «ist ein Missverständniss — , im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. Das» Evangelium «starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an» Evangelium «heisst, war bereits der Gegensatz dessen, was er gelebt: eine» schlimme Botschaft«, ein Dysangelium. Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem» Glauben«, etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus das Abzeichen des Christen sieht: bloss die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich… Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein… Nicht ein Glauben, sondern ein Thun, ein Vieles nicht — thun vor Allem, ein andres Sein… Bewusstseins-Zustände, irgend ein Glauben, ein Für-wahr-halten zum Beispiel — jeder Psycholog weiss das — sind ja vollkommen gleichgültig und fünften Ranges gegen den Werth der Instinkte: strenger geredet, der ganze Begriff geistiger Ursächlichkeit ist falsch. Das Christ-sein, die Christlichkeit auf ein Für-wahr-halten, auf eine blosse Bewusstseins-Phänomenalität reduziren heisst die Christlichkeit negiren. In der That gab es gar keine Christen. Der» Christ«, das, was seit zwei Jahrtausenden Christ heisst, ist bloss ein psychologisches Selbst-Missverständniss. Genauer zugesehn, herrschten in ihm, trotz allem» Glauben«, bloss die Instinkte — und was für Instinkte! — Der» Glaube «war zu allen Zeiten, beispielsweise bei Luther, nur ein Mantel, ein Vorwand, ein Vorhang, hinter dem die Instinkte ihr Spiel spielten — , eine kluge Blindheit über die Herrschaft gewisser Instinkte… Der» Glaube«— ich nannte ihn schon die eigentliche christliche Klugheit, — man sprach immer vom» Glauben«, man that immer nur vom Instinkte… In der Vorstellungs-Welt des Christen kommt Nichts vor, was die Wirklichkeit auch nur anrührte: dagegen erkannten wir im Instinkt-Hass gegen jede Wirklichkeit das treibende, das einzig treibende Element in der Wurzel des Christenthums. Was folgt daraus? Dass auch in psychologicis hier der Irrthum radikal, das heisst wesen-bestimmend, das heisst Substanz ist. Ein Begriff hier weg, eine einzige Realität an dessen Stelle — und das ganze Christenthum rollt in's Nichts! — Aus der Höhe gesehn, bleibt diese fremdartigste aller Thatsachen, eine durch Irrthümer nicht nur bedingte, sondern nur in schädlichen, nur in leben und herzvergiftenden Irrthümern erfinderische und selbst geniale Religion ein Schauspiel für Götter, — für jene Gottheiten, welche zugleich Philosophen sind, und denen ich zum Beispiel bei jenen berühmten Zwiegesprächen auf Naxos begegnet bin. Im Augenblick, wo der Ekel von ihnen weicht (— und von uns!), werden sie dankbar für das Schauspiel des Christen: das erbärmliche kleine Gestirn, das Erde heisst, verdient vielleicht allein um dieses curiosen Falls willen einen göttlichen Blick, eine göttliche Antheilnahme… Unterschätzen wir nämlich den Christen nicht: der Christ, falsch bis zur Unschuld, ist weit über dem Affen, — in Hinsicht auf Christen wird eine bekannte Herkunfts-Theorie zur blossen Artigkeit…