Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christenthume mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen (»Gott«,»Seele«,»Ich«»Geist«,»der freie Wille«— oder auch» der unfreie«); lauter imaginäre Wirkungen (»Sünde«,»Erlösung«,»Gnade«,»Strafe«,»Vergebung der Sünde«). Ein Verkehr zwischen imaginären Wesen (»Gott«»Geister«»Seelen«); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropocentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen) eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst- Missverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus mit Hülfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie, — »Reue«,»Gewissensbiss«,»Versuchung des Teufels«,»die Nähe Gottes«); eine imaginäre Teleologie (»das Reich Gottes«,»das jüngste Gericht«,»das ewige Leben«). — Diese reine Fiktions-Welt unterscheidet sich dadurch sehr zu ihren Ungunsten von der Traumwelt, dass letztere die Wirklichkeit wiederspiegelt, während sie die Wirklichkeit fälscht, entwertete, verneint. Nachdem erst der Begriff» Natur «als Gegenbegriff zu» Gott «erfunden war, musste» natürlich «das Wort sein für» verwerflich«, — jene ganze Fiktions-Welt hat ihre Wurzel im Hass gegen das Natürliche (— die Wirklichkeit! — ), sie ist der Ausdruck eines tiefen Missbehagens am Wirklichen… Aber damit ist Alles erklärt. Wer allein hat Gründe sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden heisst eine verunglückte Wirklichkeit sein… Das Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle ist die Ursache jener fiktiven Moral und Religion: ein solches Übergewicht giebt aber die Formel ab für décadence…
Zu dem gleichen Schlusse nöthigt eine Kritik des christlichen Gottesbegriffs. — Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, — es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben; ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern… Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. — Ein solcher Gott muss nützen und schaden können, muss Freund und Feind sein können, — man bewundert ihn im Guten wie im Schlimmen. Die widernatürliche Castration eines Gottes zu einem Gotte bloss des Guten läge hier ausserhalb aller Wünschbarkeit. Man hat den bösen Gott so nöthig als den guten: man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit… Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewaltthat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man ihn haben? — Freilich: wenn ein Volk zu Grunde geht; wenn es den Glauben an Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit endgültig schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen in's Bewusstsein treten, dann muss sich auch sein Gott verändern. Er wird jetzt Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, räth zum» Frieden der Seele«, zum Nicht-mehr-Hassen, zur Nachsicht, zur» Liebe «selbst gegen Freund und Feind. Er moralisirt beständig, er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für Jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit… Ehemals stellte er ein Volk, die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes dar: jetzt ist er bloss noch der gute Gott… In der That, es giebt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht — und so lange werden sie Volksgötter sein — oder aber die Ohnmacht zur Macht — und dann werden sie nothwendig gut…
Wo in irgend welcher Form der Wille zur Macht niedergeht, giebt es jedes Mal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichsten Tugenden und Trieben, wird nunmehr nothwendig zum Gott der physiologisch-Zurückgegangenen, der Schwachen. Sie heissen sich selbst nicht die Schwachen, sie heissen sich» die Guten«… Man versteht, ohne dass ein Wink noch Noth thäte, in welchen Augenblicken der Geschichte erst die dualistische Fiktion eines guten und eines bösen Gottes möglich wird. Mit demselben Instinkte, mit dem die Unterworfnen ihren Gott zum» Guten an sich «herunterbringen, streichen sie aus dem Gotte ihrer Überwinder die guten Eigenschaften aus; sie nehmen Rache an ihren Herrn, dadurch dass sie deren Gott verteufeln. — Der gute Gott, ebenso wie der Teufel: Beide Ausgeburten der décadence. — Wie kann man heute noch der Einfalt christlicher Theologen so viel nachgeben, um mit ihnen zu dekretiren, die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom» Gotte Israels«, vom Volksgotte zum christlichen Gotte, zum Inbegriff alles Guten sei ein Fortschritt? — Aber selbst Renan thut es. Als ob Renan ein Recht auf Einfalt hätte! Das Gegentheil springt doch in die Augen. Wenn die Voraussetzungen des aufsteigenden Lebens, wenn alles Starke Tapfere, Herrische, Stolze aus dem Gottesbegriffe eliminirt werden, wenn er Schritt für Schritt zum Symbol eines Stabs für Müde, eines Rettungsankers für alle Ertrinkenden heruntersinkt, wenn er Arme-Leute-Gott, Sünder-Gott, Kranken-Gott par excellence wird, und das Prädikat» Heiland«,»Erlöser «gleichsam übrig bleibt als göttliches Prädikat überhaupt: wovon redet eine solche Verwandlung? eine solche Reduktion des Göttlichen? — Freilich:»das Reich Gottes «ist damit grösser geworden. Ehemals hatte er nur sein Volk, sein» auserwähltes «Volk. Inzwischen gieng er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf Wanderschaft, er sass seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall heimisch wurde, der grosse Cosmopolit, — bis er» die grosse Zahl «und die halbe Erde auf seine Seite bekam. Aber der Gott» der grossen Zahl«, der Demokrat unter den Göttern, wurde trotzdem kein stolzer Heidengott: er blieb Jude, er blieb der Gott der Winkel, der Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt!… Sein Weltreich ist nach wie vor ein Unterwelts-Reich, ein Hospital, ein Souterrain-Reich, ein Ghetto-Reich… Und er selbst, so blass, so schwach, so décadent… Selbst die Blassesten der Blassen wurden noch über ihn Herr, die Herrn Metaphysiker, die Begriffs-Albinos. Diese spannen so lange um ihn herum, bis er, hypnotisirt durch ihre Bewegungen, selbst Spinne, selbst Metaphysicus wurde. Nunmehr spann er wieder die Welt aus sich heraus — sub specie Spinozae — , nunmehr transfigurirte er sich ins immer Dünnere und Blässere, ward» Ideal«, ward» reiner Geist«, ward» absolutum«, ward, Ding an sich… Verfall eines Gottes: Gott ward» Ding an sich»…
Der christliche Gottesbegriff — Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist — ist einer der corruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; er stellt vielleicht selbst den Pegel des Tiefstands in der absteigenden Entwicklung des Götter-Typus dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein. In Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt! Gott die Formel für jede Verleumdung des» Diesseits«, für jede Lüge vom» Jenseits«! In Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen!
Dass die starken Rassen des nördlichen Europa den christlichen Gott nicht von sich gestossen haben, macht ihrer religiösen Begabung wahrlich keine Ehre, um nicht vom Geschmacke zu reden. Mit einer solchen krankhaften und altersschwachen Ausgeburt der décadence hätten sie fertig werden müssen. Aber es liegt ein Fluch dafür auf ihnen, dass sie nicht mit ihm fertig geworden sind: sie haben die Krankheit, das Alter, den Widerspruch in alle ihre Instinkte aufgenommen, — sie haben seitdem keinen Gott mehr geschaffen! Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des christlichen Monotono-Theismus! dies hybride Verfalls-Gebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle Décadence-Instinkte, alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben! -
Mit meiner Verurtheilung des Christenthums möchte ich kein Unrecht gegen eine verwandte Religion begangen haben, die der Zahl der Bekenner nach sogar überwiegt, gegen den Buddhismus. Beide gehören als nihilistische Religionen zusammen — sie sind décadence-Religionen — , beide sind von einander in der merkwürdigsten Weise getrennt. Dass man sie jetzt vergleichen kann, dafür ist der Kritiker des Christenthums den indischen Gelehrten tief dankbar. — Der Buddhismus ist hundert Mal realistischer als das Christenthum, — er hat die Erbschaft des objektiven und kühlen Probleme-Stellens im Leibe, er kommt nach einer Hunderte von Jahren dauernden philosophischen Bewegung, der Begriff» Gott «ist bereits abgethan, als er kommt. Der Buddhismus ist die einzige eigentlich positivistische Religion, die uns die Geschichte zeigt, auch noch in seiner Erkenntnisstheorie (einem strengen Phänomenalismus — ), er sagt nicht mehr» Kampf gegen Sünde«, sondern, ganz der Wirklichkeit das Recht gebend,»Kampf gegen das Leiden«. Er hat — dies unterscheidet ihn tief vom Christenthum — die Selbst-Betrügerei der Moral-Begriffe bereits hinter sich, — er steht, in meiner Sprache geredet, jenseits von Gut und Böse. — Die zwei physiologischen Thatsachen, auf denen er ruht und die er ins Auge fasst, sind: einmal eine übergrosse Reizbarkeit der Sensibilität, welche sich als raffinirte Schmerzfähigkeit ausdrückt, sodann eine Übergeistigung, ein allzulanges Leben in Begriffen und logischen Prozeduren, unter dem der Person-Instinkt zum Vortheil des» Unpersönlichen «Schaden genommen hat (— Beides Zustände, die wenigstens Einige meiner Leser, die» Objektiven«, gleich mir selbst, aus Erfahrung kennen werden) Auf Grund dieser physiologischen Bedingungen ist eine Depression entstanden: gegen diese geht Buddha hygienisch vor. Er wendet dagegen das Leben im Freien an, das Wanderleben, die Mässigung und die Wahl in der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen gegen alle Affekte, die Galle machen, die das Blut erhitzen; keine Sorge, weder für sich, noch für Andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder Ruhe geben oder erheitern — er erfindet Mittel, die andren sich abzugewöhnen. Er versteht die Güte, das Gütig-sein als gesundheitfördernd. Gebet ist ausgeschlossen, ebenso wie die Askese; kein kategorischer Imperativ, kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft (— man kann wieder hinaus — ) Das Alles wären Mittel, um jene übergrosse Reizbarkeit zu verstärken. Eben darum fordert er auch keinen Kampf gegen Andersdenkende; seine Lehre wehrt sich gegen nichts mehr als gegen das Gefühl der Rache, der Abneigung, des ressentiment (—»nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende«: der rührende Refrain des ganzen Buddhismus…) Und das mit Recht: gerade diese Affekte wären vollkommen ungesund in Hinsicht auf die diätetische Hauptabsicht. Die geistige Ermüdung, die er vorfindet, und die sich in einer allzugrossen» Objektivität«(das heisst Schwächung des Individual-Interesses, Verlust an Schwergewicht, an» Egoismus«) ausdrückt, bekämpft <er> mit einer strengen Zurückführung auch der geistigsten Interessen auf die Person. In der Lehre Buddha's wird der Egoismus Pflicht: das» Eins ist Noth«, das» wie kommst du vom Leiden los «regulirt und begrenzt die ganze geistige Diät (— man darf sich vielleicht an jenen Athener erinnern, der der reinen» Wissenschaftlichkeit «gleichfalls den Krieg machte, an Sokrates, der den Personal-Egoismus auch im Reich der Probleme zur Moral erhob.)