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Die Ahne erzählte heute vom Hexendorf. Sie erzählte:

»Manchmal gibt es in einem Dorf eine Frau, die von böser Art ist und es mit niemandem gut meint. Meistens bekommen diese Frauen keine Kinder. Manchmal ist eins von diesen Weibern so böse, daß das Dorf sie nicht mehr bei sich haben will. Dann holt man das Weib in der Nacht, legt ihren Mann in Fesseln, züchtigt das Weib mit Ruten und treibt es dann weit in die Wälder und Sümpfe hinaus, man verflucht es mit einem Fluch und läßt es dort draußen. Dem Mann nimmt man alsdann die Fesseln wieder ab, und wenn er nicht zu alt ist, kann er sich zu einer andern Frau gesellen. Die Hinausgejagte aber, wenn sie nicht umkommt, streift in den Wäldern und Sümpfen, lernt die Tiersprache, und wenn sie lang gestreift und gewandert ist, findet sie eines Tages ein kleines Dorf, das heißt das Hexendorf. Dort sind alle die bösen Frauen, die man aus ihren Dörfern vertrieben hat, zusammengekommen und haben sich selber ein Dorf gemacht. Dort leben sie, tun Böses und treiben Zauber, und namentlich locken sie, weil sie selber keine Kinder haben, gerne Kinder aus den richtigen Dörfern an sich, und wenn ein Kind sich im Walde verläuft und nie mehr wiederkommt, dann ist es vielleicht nicht im Sumpf ertrunken oder vom Wolf zerrissen, sondern von einer Hexe auf Irrwege gelockt und von ihr mit ins Hexendorf genommen worden. Zur Zeit, als ich noch klein und meine Großmutter die Älteste im Dorf war, ist einmal ein Mädchen mit den andern in die Heidelbeeren gegangen, und beim Beerenpflücken wurde es müd und schlief ein; es war noch klein, die Farnkräuter bedeckten es, und die andern Kinder zogen weiter und merkten nichts, und erst als sie wieder zum Dorf zurückkamen und es schon Abend war, sahen sie, daß das Mädchen nicht mehr bei ihnen war. Man schickte die Jungburschen, die suchten und riefen nach ihr im Wald, bis es Nacht war, dann kamen sie zurück und hatten sie nicht gefunden. Die Kleine aber war, als sie genug geschlafen hatte, im Walde weiter und weiter gegangen. Und je mehr es ihr bang wurde, desto schneller lief sie, aber sie wußte schon lange nicht mehr, wo sie war, und lief bloß immer weiter vom Dorfe weg bis dahin, wo noch niemand gewesen war. Am Halse trug sie an einem Bastfaden einen Eberzahn, ihr Vater hatte ihn ihr geschenkt, er hatte ihn von der Jagd mitgebracht, und durch den Zahn hatte er mit einem Steinsplitter ein Loch gebohrt, durch das man den Bast ziehen konnte, und hatte den Zahn vorher dreimal im Eberblut gekocht und gute Sprüche dazu gesungen, und wer einen solchen Zahn bei sich trug, der war vor manchem Zauber geschützt. Jetzt kam eine Frau zwischen den Bäumen heraus, die war eine Hexe, sie machte ein süßes Gesicht und sagte: »Ich grüße dich, du hübsches Kind, hast du dich verlaufen? Komm nur mit mir, ich bringe dich nach Hause.« Das Kind ging mit ihr. Aber es fiel ihm ein, was Mutter und Vater ihm gesagt hatten: daß es niemals einem Fremden den Eberzahn zeigen dürfe, und so machte es im Gehen unbemerkt den Zahn vom Bastfaden los und steckte ihn in den Gürtel. Die fremde Frau lief mit dem Mädchen stundenlang, es war schon Nacht, da kamen sie ins Dorf, es war aber nicht unser Dorf, es war das Hexendorf. Da wurde das Mädchen in einen finsteren Stall gesperrt, die Hexe aber ging in ihre Hütte schlafen. Am Morgen sagte die Hexe: »Hast du nicht einen Eberzahn bei dir?« Das Kind sagte: nein, es habe wohl einen gehabt, aber der sei ihm im Walde verlorengegangen, und sie zeigte ihr Halsbändchen aus Bast, an dem kein Zahn mehr hing. Da holte die Hexe einen steinernen Topf, in dem war Erde, und in der Erde wuchsen drei Kräuter. Das Kind schaute die Krauter an und fragte, was damit sei. Die Hexe deutete auf das erste Kraut und sagte: »Das ist das Leben deiner Mutter.« Dann deutete sie auf das zweite und sagte: »Das ist das Leben deines Vaters.« Dann deutete sie auf das dritte Kraut: »Und das ist dein eigenes Leben. Solang diese Kräuter grün sind und wachsen, seid ihr am Leben und gesund. Wird eines welk, dann wird der krank, dessen Leben es bedeutet. Wird eins ausgerissen, so wie ich jetzt eins ausreißen werde, dann muß der sterben, dessen Leben es bedeutet.« Sie faßte das Kraut, das des Vaters Leben bedeutete, mit den Fingern und fing an, daran zu ziehen, und als sie ein wenig gezogen hatte und ein Stück von der weißen Wurzel zu sehen war, tat das Kraut einen tiefen Seufzer…«

Bei diesem Wort sprang das kleine Mädchen neben Knecht auf, wie von einer Schlange gebissen, tat einen Schrei und rannte Hals über Kopf davon. Lang hatte sie mit der Angst gekämpft, die ihr die Geschichte machte, jetzt hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Eine alte Frau lachte. Andere unter den Zuhörern hatten kaum weniger Angst als die Kleine, aber sie hielten an sich und blieben sitzen. Knecht aber, sobald er recht aus dem Traum des Zuhörens und Angsthabens erwacht war, sprang ebenfalls auf und rannte dem Mädchen nach. Die Ahne erzählte weiter.

Der Regenmacher hatte seine Hütte nahe beim Dorfweiher stehen, in dieser Richtung suchte Knecht die Davongelaufene. Mit lockendem, beruhigendem Brummen, Singen und Sumsen suchte er sie zu ködern, mit einer Stimme, wie sie die Weiber beim Heranlocken der Hühner machen, langgezogen, süß, auf Bezauberung bedacht. »Ada,« rief er und sang er, »Ada, Adalein, komm her. Ada, hab keine Angst, ich bin es, ich, Knecht.« So sang er wieder und wieder, und noch ehe er etwas von ihr gehört oder gesehen hatte, fühlte er plötzlich ihre kleine weiche Hand sich in die seine drängen. Sie war am Weg gestanden, den Rücken dicht an eine Hüttenwand gelehnt, und hatte ihn erwartet, seit sein Rufen sie erreicht hatte. Aufatmend schloß sie sich ihm an, der ihr groß und stark und schon wie ein Mann vorkam.

»Hast du Angst gehabt, ja?« fragte er. »Ist nicht nötig, niemand tut dir was, alle haben Ada gern. Komm, wir gehen heim.« Sie zitterte noch und schluchzte ein wenig, war aber schon ruhiger und kam dankbar und vertrauensvoll mit.

Aus der Hüttentür schimmerte schwaches rotes Licht, innen hockte der Wettermacher am Herd gebückt, durch seine hängenden Haare schimmerte es hell und rot, er hatte Feuer brennen und kochte etwas in zwei kleinen Topf dien. Ehe Knecht mit Ada eintrat, schaute er von draußen neugierig ein paar Augenblicke zu; er sah sogleich, daß es kein Essen sei, was hier gekocht wurde, das tat man in anderen Töpfen, und es war ja auch dazu schon viel zu spät. Aber der Regenmacher hatte ihn schon gehört. »Wer steht da in der Tür?« rief er. »Vorwärts, herein! Bist du es, Ada?« Er deckte Deckel auf seine Töpfchen, umbaute sie mit Glut und Asche und wendete sich um.

Knecht schielte noch immer nach den geheimnisvollen Töpfchen, es war ihm neugierig, ehrfürchtig und beklommen zumut wie jedesmal, wenn er diese Hütte betrat. Er tat es, sooft er nur konnte, er schuf sich mancherlei Anlässe und Vorwände dazu, aber immer spürte er dabei dies halb kitzelnde, halb warnende Gefühl von leiser Beklemmung, in dem lüsterne Neugierde und Freude mit Furcht im Streite lag. Der Alte mußte es ja doch sehen, daß Knecht ihm seit langem nachfolgte und überall in der Nähe auftauchte, wo er ihn vermuten konnte, daß er ihm wie ein Jäger auf der Spur war und stumm seine Dienste und seine Gesellschaft anbot.

Turu, der Wettermacher, sah ihn mit den hellen Raubvogelaugen an. »Was willst du hier?« fragte er kühl. »Keine Tageszeit für Besuche in fremden Hütten, mein Junge.«

»Ich habe Ada heimgebracht, Meister Turu. Sie war bei der Urahne, wir hörten Geschichten erzählen, von den Hexen, und auf einmal ist es ihr Angst geworden, und sie hat geschrien, da habe ich sie begleitet.«

Der Vater wandte sich an die Kleine: »Ein Angsthase bist du, Ada. Kluge Mädchen brauchen die Hexen nicht zu fürchten. Du bist doch ein kluges Mädchen, nicht?«

»Ja, schon. Aber die Hexen können doch lauter böse Künste, und wenn man keinen Eberzahn hat…«

»So, einen Eberzahn möchtest du haben? Wir werden sehen. Aber ich weiß etwas, was noch besser ist. Ich weiß eine Wurzel, die werde ich dir bringen, im Herbst müssen wir sie suchen und ziehen, die schützt kluge Mädchen vor allem Zauber und macht sie sogar noch hübscher.«

Ada lächelte und freute sich, sie war schon beruhigt, seit der Geruch der Hütte und das bißchen Feuerschein um sie war. Schüchtern fragte Knecht: »Könnte nicht ich die Wurzel suchen gehen? Du müßtest sie mir beschreiben…«

Turu kniff die Augen klein. »Das möchte mancher kleine Junge gern wissen,« sagte er, aber seine Stimme klang nicht böse, nur etwas spöttisch. »Es hat noch Zeit damit. Im Herbst vielleicht.«

Knecht zog sich zurück und verschwand in der Richtung nach dem Knabenhaus, wo er schlief. Eltern hatte er nicht, er war eine Waise, und auch darum empfand er bei Ada und in ihrer Hütte einen Zauber.

Der Regenmacher Turu liebte die Worte nicht, er hörte weder andre noch sich gern reden; viele hielten ihn für wunderlich, manche für mürrisch. Er war es nicht. Er wußte von dem, was um ihn her vorging, immerhin mehr, als man seiner gelehrten und einsiedlerischen Zerstreutheit zutraute. Er wußte unter andrem genau darum, daß dieser etwas lästige, aber hübsche und offenbar kluge Knabe ihm nachlaufe und ihn beobachte, von allem Anfang an hatte er es bemerkt, es dauerte schon ein Jahr und länger. Er wußte auch genau, was das bedeute. Es bedeutete viel für den Jungen und bedeutete viel auch für ihn, den Alten. Es bedeutete, daß dieser Bursche in die Wettermacherei verliebt war und nichts sehnlicher wünschte, als sie zu lernen. Immer einmal gab es einen solchen Knaben in der Siedlung. Mancher war schon so dahergekommen. Mancher ließ sich leicht abschrecken und entmutigen, andre nicht, und er hatte schon zwei von ihnen jahrelang zu Schülern und Lehrlingen gehabt, die hatten dann weit fort in andre Dörfer geheiratet und waren dort Regenmacher oder Kräutersammler geworden; seither war Turu allein geblieben, und wenn er je nochmals einen Lehrling annähme, dann würde er es tun, um einst einen Nachfolger zu haben. So war es immer gewesen, so war es richtig und konnte nicht anders sein: immer wieder mußte ein begabter Knabe auftauchen und mußte dem Manne anhängen und nachlaufen, den er sein Handwerk als Meister beherrschen sah. Knecht war begabt, er hatte, was man braucht, und hatte auch einige Zeichen, die ihn empfahlen: den forschenden, zugleich scharfen und träumerischen Blick vor allem, das Verhaltene und Lautlose im Wesen und im Ausdruck des Gesichts und Kopfes etwas Spürendes, Witterndes, Waches, auf Geräusche und Gerüche Aufmerkendes, etwas Vogelhaftes und Jägerhaftes. Gewiß, aus diesem Knaben konnte ein Wetterkundiger werden, vielleicht auch ein Magier, er war zu brauchen. Aber es hatte keine Eile damit, er war ja noch zu jung, und man brauchte ihm keineswegs zu zeigen, daß man ihn erkannte, man durfte es ihm nicht zu leicht machen, es sollte ihm kein Weg erspart werden. Wenn er einzuschüchtern, abzuschrecken, abzuschütteln, zu entmutigen war, dann war es nicht schade um ihn. Mochte er warten und dienen, mochte er herumschleichen und um ihn werben.

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