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Mein Haupt und Glieder,
Die lagen darnieder,
Aber nun steh ich,
Bin munter und fröhlich,
Schaue den Himmel mit meinem Gesicht.

Dann setzte er das Instrument an die Lippen und blies die Melodie, schaute in die sanft glänzende Weite gegen das ferne Hochgebirge hin, hörte das heiter fromme Lied im süßen Flötenton dahinklingen und fühlte sich mit Himmel, Bergen, Lied und Tag einig und zufrieden. Mit Vergnügen fühlte er das glatte runde Holz zwischen seinen Fingern und dachte daran, daß außer dem Kleid auf seinem Leibe dies Flötchen das einzige Stück Eigentum war, das er sich erlaubt hatte, von Waldzell mitzunehmen. Es hatte sich in den Jahren manches um ihn angesammelt, was mehr oder weniger die Eigenschaft persönlichen Besitztums trug, vor allem an Aufzeichnungen, Exzerptheften und dergleichen; das alles hatte er zurückgelassen, es mochte vom Spielerdorf beliebig verwendet werden. Das Flötchen aber hatte er mitgenommen und war froh darüber, es bei sich zu haben; es war ein bescheidener und liebenswürdiger Reisekamerad.

Andern Tages traf der Wanderer in der Hauptstadt ein und sprach im Hause Designori vor. Plinio kam ihm die Treppe herab entgegen und umarmte ihn bewegt.

»Wir haben dich sehnlich und mit Sorgen erwartet,« rief er. »Du hast einen großen Schritt getan, Freund, möge er uns allen Gutes bringen. Aber daß sie dich fortgelassen haben! Ich hätte es nie geglaubt.«

Knecht lachte. »Du siehst, ich bin da. Aber davon werde ich dir gelegentlich erzählen. Jetzt möchte ich vor allem meinen Schüler begrüßen und natürlich auch deine Frau und alles mit euch besprechen, wie wir es mit meinem neuen Amt halten wollen. Ich bin begierig darauf, es anzutreten.«

Plinio rief eine Magd herbei und gab ihr den Auftrag, sofort seinen Sohn zu holen.

»Den jungen Herrn?« fragte sie, anscheinend verwundert, lief dann aber rasch davon, während der Hausherr seinen Freund in dessen Gastzimmer führte und ihm eifrig zu berichten begann, wie er alles für Knechts Ankunft und sein Zusammenleben mit dem jungen Tito vorbedacht und vorbereitet habe. Alles habe sich nach Knechts Wünschen einrichten lassen, auch Titos Mutter habe diese Wünsche nach einigem Widerstreben begriffen und sich ihnen gefügt. Sie besäßen ein Ferienhäuschen im Gebirge, Belpunt geheißen, hübsch an einem See gelegen, dort sollte Knecht mit seinem Zögling vorerst leben, eine alte Magd werde sie bedienen, sie sei schon dieser Tage hingereist, um alles einzurichten. Freilich sei dies nur ein Aufenthalt für kürzere Zeit, bis zum Eintritt des Winters höchstens, aber gerade für diese erste Zeit sei gewiß eine solche Abgeschiedenheit nur förderlich. Auch sei es ihm lieb, daß Tito ein großer Freund der Berge und jenes Hauses Belpunt sei, so daß er sich auf den Aufenthalt dort oben freue und ohne Widerstreben hingehe. Es fiel Designori ein, daß er eine Mappe mit Lichtbildern von Haus und Gegend besitze; er zog Knecht mit sich in sein Arbeitszimmer, suchte eifrig nach der Mappe und begann, als er sie gefunden und geöffnet hatte, seinem Gaste das Haus zu zeigen und zu schildern, die Bauernstube, den Kachelofen, die Lauben, den Badeplatz am See, den Wasserfall.

»Gefällt es dir?« fragte er angelegentlich. »Wirst du dich dort wohlfühlen können?«

»Warum nicht?« sagte Knecht gelassen. »Aber wo bleibt wohl Tito? Es ist schon eine gute Weile her, seit du nach ihm geschickt hast.«

Sie sprachen noch ein wenig hin und her, dann hörte man Schritte draußen, die Tür ging auf, und es kam jemand herein, doch war es weder Tito noch die nach ihm ausgesandte Magd. Es war Titos Mutter, Frau Designori. Knecht erhob sich zur Begrüßung, sie streckte ihm die Hand entgegen und lächelte ihn mit einer etwas mühsamen Freundlichkeit an, während er sah, daß unter diesem höflichen Lächeln ein Ausdruck von Sorge oder Ärger lag. Sie hatte kaum ein paar Worte des Willkommens hervorgebracht, als sie sich ihrem Mann zuwandte und sich ungestüm der Mitteilung entledigte, welche ihr auf der Seele lag.

»Es ist wirklich peinlich,« rief sie, »denke dir, der Junge ist verschwunden und nirgends zu finden.«

»Nun, er wird ausgegangen sein,« beruhigte Plinio. »Er wird schon kommen.«

»Leider ist das nicht wahrscheinlich,« sagte die Mutter, »er ist nämlich schon seit heut morgen fort. Ich habe es schon in der Frühe bemerkt.«

»Und warum erfahre ich es erst jetzt?«

»Weil ich natürlich mit jeder Stunde seine Rückkehr erwartete und weil ich dich nicht unnütz aufregen wollte. Anfangs dachte ich ja auch gar nicht an etwas Schlimmes, ich dachte, er sei spazierengegangen. Erst als er mittags ausblieb, begann ich mir Sorge zu machen. Du warst heut zu Tische nicht da, sonst hättest du es mittags erfahren. Auch da noch wollte ich mir einreden, es sei nur eine Nachlässigkeit von ihm, mich so lang warten zu lassen. Aber das war es also nicht.«

»Erlauben Sie mir eine Frage,« sagte Knecht. »Der junge Mann hat doch von meiner baldigen Ankunft und von Ihren Absichten mit ihm und mir gewußt?«

»Selbstverständlich, Herr Magister, und er schien mit diesen Absichten sogar nahezu zufrieden, zumindest war es ihm lieber, Sie zum Lehrer zu bekommen, als nochmals auf irgendeine Schule geschickt zu werden.«

»Nun,« meinte Knecht, »dann ist ja alles gut. Ihr Sohn, Signora, ist an sehr viel Freiheit gewöhnt, besonders in letzter Zeit, da ist ihm die Aussicht auf einen Erzieher und Zuchtmeister begreiflicherweise eher fatal. Und so hat er sich im Augenblick, ehe er dem neuen Lehrer übergeben werden sollte, davongemacht, vielleicht weniger in der Hoffnung, seinem Schicksal wirklich zu entlaufen, als in der Meinung, bei einem Aufschub könne er nichts verlieren. Und außerdem wollte er vermutlich seinen Eltern und dem von ihnen bestellten Schulmeister einen Puff geben und seinen Trotz gegen die ganze Welt der Erwachsenen und Lehrer zum Ausdruck bringen.«

Designori war es lieb, daß Knecht den Vorfall so wenig tragisch nahm. Er selbst aber war voll Sorge und Beunruhigung, seinem liebenden Herzen schien jede Gefährdung des Sohnes möglich. Vielleicht, dachte er, war er allen Ernstes entflohen, vielleicht dachte er sogar daran, sich ein Leid anzutun? Ach, alles, was in der Erziehung dieses Knaben versäumt und falsch gemacht worden war, schien sich jetzt rächen zu sollen, grade im Augenblick, wo man es gutzumachen hoffte.

Gegen Knechts Rat bestand er darauf, daß etwas geschehe, etwas getan werde; er fühlte sich unfähig, den Schlag leidend und untätig hinzunehmen, und steigerte sich in eine Ungeduld und nervöse Aufgeregtheit hinein, die seinem Freunde höchlich mißfiel. So beschloß man denn, Botschaften in einige Häuser zu senden, in welchen Tito zuweilen bei Altersgenossen verkehrte. Knecht war froh, als Frau Designori gegangen war, um dies anzuordnen, und er den Freund für sich allein hatte.

»Plinio,« sagte er, »du machst ein Gesicht, als hätte man dir deinen Sohn tot ins Haus getragen. Er ist kein kleines Kind mehr und wird weder unter einen Wagen geraten sein noch Tollkirschen gegessen haben. Also fasse dich, Lieber. Da das Söhnchen nicht da ist, erlaube mir, für einen Augenblick an seiner Stelle dich in die Schule zu nehmen. Ich habe dich ein wenig beobachtet und finde, daß du nicht eben gut in Form bist. In dem Augenblick, in dem ein Athlet einen unerwarteten Schlag oder Druck erleidet, macht seine Muskulatur wie von selbst die nötigen Bewegungen, dehnt oder duckt sich und hilft ihm, der Lage Herr zu werden. So hättest du, Schüler Plinio, im Augenblick, als du den Schlag empfingst – oder was dir übertriebenerweise wie ein Schlag vorkam –, das erste Abwehrmittel bei seelischen Angriffen anwenden und auf langsame, sorgfältig beherrschte Atmung bedacht sein müssen. Statt dessen hast du geatmet wie ein Schauspieler, der Erschüttertsein darstellen muß. Du bist nicht gut genug gerüstet, ihr Weltleute scheinet dem Leiden und den Sorgen auf eine ganz besondere Art offenzustehen. Es hat etwas Hilfloses und Rührendes und manchmal, nämlich wenn es sich um echte Leiden handelt und das Martyrium Sinn hat, auch etwas Großartiges. Aber für den Alltag ist dieser Verzicht auf Abwehr keine Waffe; ich werde dafür sorgen, daß dein Sohn einmal besser gerüstet sein wird, wenn er es nötig hat. Und jetzt, Plinio, sei so gut und mache ein paar Übungen mit mir, damit ich sehe, ob du wirklich alles schon wieder verlernt hast.«

Mit den Atemübungen, zu denen er streng rhythmische Kommandos gab, lenkte er den Freund heilsam von seiner Selbstquälerei ab, und danach fand er ihn auch willig, auf Vernunftgründe zu hören und den Schreckens- und Sorgenaufwand wieder abzubauen. Sie gingen in Titos Zimmer hinauf; mit Vergnügen betrachtete Knecht das Durcheinander knabenhafter Besitztümer, er griff nach einem auf dem Tischchen beim Bett liegenden Buch, sah ein darein gestecktes Stück Papier hervorragen, und siehe, es war ein Zettel mit einer Botschaft des Verschwundenen. Er reichte das Blatt Designori hin und lachte, und auch dessen Gesicht ward nun wieder hell. Auf dem Zettel teilte Tito seinen Eltern mit, er sei heute in aller Frühe aufgebrochen und reise allein ins Gebirge, wo er in Belpunt auf den neuen Lehrer warte. Man möge ihm, ehe seine Freiheit wieder so lästig beschränkt werde, dieses kleine Vergnügen gönnen, er habe einen unüberwindlichen Widerwillen dagegen, diese schöne kleine Reise in Begleitung des Lehrers, schon als Beaufsichtigter und Gefangener, zu machen.

»Sehr verständlich,« meinte Knecht. »Ich werde ihm also morgen nachreisen und ihn wohl schon in deinem Landhaus finden. Jetzt aber geh vor allem zu deiner Frau und bringe ihr die Nachricht.«

Für den Rest dieses Tages war die Stimmung im Hause heiter und entspannt. An jenem Abend hat Knecht auf Plinios Drängen dem Freund in Kürze die Vorgänge der letzten Tage und namentlich seine beiden Gespräche mit Meister Alexander erzählt. An jenem Abend hat er auch einen wunderlichen Vers auf ein Zettelchen geschrieben, das heute im Besitz Tito Designoris ist. Damit hat es folgende Bewandtnis:

Der Hausherr hatte ihn vor der Abendmahlzeit für eine Stunde allein gelassen. Knecht sah einen Schrank voll alter Bücher stehen, der seine Neugierde weckte. Auch dies war ein Vergnügen, das er in vielen Jahren der Enthaltsamkeit verlernt und beinah vergessen hatte und das ihn jetzt innig an seine Studenten jähre erinnerte: vor unbekannten Büchern stehen, aufs Geratewohl hineingreifen und sich da und dort einen Band herausfischen, dessen Vergoldung oder Autorname, dessen Format oder Lederfarbe einen ansprach. Mit Behagen überflog er vorerst die Titel auf den Bücherrücken und stellte fest, daß es lauter schöne Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts sei, was er da vor sich habe. Schließlich zog er einen abgebleichten Leinenband heraus, dessen Titel »Weisheit des Brahmanen« ihn lockte. Stehend erst, dann sitzend blätterte er in dem Buch, das viele Hunderte von Lehrgedichten enthielt, ein kurioses Nebeneinander von lehrhafter Gesprächigkeit und wirklicher Weisheit, von Philistrosität und echtem Dichtergeist. Es fehlte diesem sonderbaren und rührenden Buch, so wollte es ihm scheinen, keineswegs an Esoterik, aber sie stak in derben hausbackenen Schalen, und nicht jene Gedichte darin waren die hübschesten, in welchen wirklich eine Lehre und Weisheit nach Gestalt strebte, sondern jene, in welchen des Dichters Gemüt, sein Liebesvermögen, seine Redlichkeit und Menschenliebe, sein bürgerlich gediegener Charakter Ausdruck fand. Indem er mit einer eigenen Mischung von Respekt und Belustigung in das Buch einzudringen versuchte, fiel ein Vers ihm in die Augen, den er mit Befriedigung und Zustimmung in sich einließ und dem er lächelnd zunickte, als sei er ihm eigens für diesen Tag entgegengeschickt. Er hieß:

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