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Es war aber ein Radioapparat, den er da aufgestellt hatte und in Gang brachte, und jetzt schaltete er den Lautsprecher ein und sagte: »Man hört München, das Concerto grosso F-Dur von Händel.«

In der Tat spuckte, zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen und Entsetzen, der teuflische Blechtrichter nun alsbald jene Mischung von Bronchialschleim und zerkautem Gummi aus, welchen die Besitzer von Grammophonen und Abonnenten des Radios übereingekommen sind, Musik zu nennen – und hinter dem trüben Geschleime und Gekrächze war wahrhaftig, wie hinter dicker Schmutzkruste ein altes köstliches Bild, die edle Struktur dieser göttlichen Musik zu erkennen, der königliche Aufbau, der kühle weite Atem, der satte breite Streicherklang.

»Mein Gott«, rief ich entsetzt, »was tun Sie, Mozart? Ist es Ihr Ernst, daß Sie sich und mir diese Schweinerei antun? Daß Sie diesen scheußlichen Apparat auf uns loslassen, den Triumph unsrer Zeit, ihre letzte siegreiche Waffe im Vernichtungskampf gegen die Kunst? Muß das sein, Mozart?«

O wie lachte da der unheimliche Mann, wie lachte er kalt und geisterhaft, lautlos und doch alles durch sein Lachen zutrümmernd! Mit innigem Vergnügen sah er meinen Qualen zu, drehte an den verfluchten Schrauben, rückte am Blechtrichter. Lachend ließ er die entstellte, entseelte und vergiftete Musik weiter in den Raum sickern, lachend gab er mir Antwort.

»Bitte kein Pathos, Herr Nachbar! Haben Sie übrigens das Ritardando da beachtet? Ein Einfall, hm? Ja, und nun lassen Sie einmal, Sie ungeduldiger Mensch, den Gedanken dieses Ritardando in sich hinein – hören Sie die Bässe? Sie schreiten wie Götter – und lassen Sie diesen Einfall des alten Händel Ihr unruhiges Herz durchdringen und beruhigen! Hören Sie einmal, Sie Männlein, ohne Pathos und ohne Spott, hinter dem in der Tat hoffnungslos idiotischen Schleier dieses lächerlichen Apparates die ferne Gestalt dieser Göttermusik vorüberwandeln! Merken Sie auf, es läßt sich etwas dabei lernen. Achten Sie darauf, wie diese irrsinnige Schallröhre scheinbar das Dümmste, Unnützeste und Verbotenste von der Welt tut und eine irgendwo gespielte Musik wahllos, dumm und roh, dazu jämmerlich entstellt, in einen fremden, nicht zu ihr gehörigen Raum hinein schmeißt – und wie sie dennoch den Urgeist dieser Musik nicht zerstören kann, sondern an ihr nur ihre eigene ratlose Technik und geistlose Betriebmacherei erweisen muß! Hören Sie gut zu, Männlein, es tut Ihnen not! Also, Ohren auf! So. Und nun hören Sie ja nicht bloß einen durch das Radio vergewaltigten Händel, der dennoch auch in dieser scheußlichen Erscheinungsform noch göttlich ist – Sie hören und sehen, Wertester, zugleich ein vortreffliches Gleichnis alles Lebens. Wenn Sie dem Radio zuhören, so hören und sehen Sie den Urkampf zwischen Idee und Erscheinung, zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Göttlichem und Menschlichem. Gerade so, mein Lieber, wie das Radio die herrlichste Musik der Welt zehn Minuten lang wahllos in die unmöglichsten Räume wirft, in bürgerliche Salons und in Dachkammern, zwischen schwatzende, fressende, gähnende, schlafende Abonnenten hinein, so, wie er diese Musik ihrer sinnlichen Schönheit beraubt, sie verdirbt, verkratzt und verschleimt und dennoch ihren Geist nicht ganz umbringen kann – gerade so schmeißt das Leben, die sogenannte Wirklichkeit, mit dem herrlichen Bilderspiel der Welt um sich, läßt auf Händel einen Vortrag über die Technik der Bilanzverschleierung in mittleren industriellen Betrieben folgen, macht aus zauberhaften Orchesterklängen einen unappetitlichen Töneschleim, schiebt seine Technik, seine Betriebsamkeit, seine wüste Notdurft und Eitelkeit überall zwischen Idee und Wirklichkeit, zwischen Orchester und Ohr. Das ganze Leben ist so, mein Kleiner, und wir müssen es so sein lassen, und wenn wir keine Esel sind, lachen wir dazu. Leuten von Ihrer Art steht es durchaus nicht zu, am Radio oder am Leben Kritik zu üben. Lernen Sie lieber erst zuhören! Lernen Sie ernst nehmen, was des Ernstnehmens wert ist, und lachen über das andre! Oder haben Sie selber es denn etwa besser gemacht, edler, klüger, geschmackvoller? O nein, Monsieur Harry, das haben Sie nicht. Sie haben aus Ihrem Leben eine scheußliche Krankengeschichte gemacht, aus Ihrer Begabung ein Unglück. Und Sie haben, wie ich sehe, da ein so hübsches, ein so entzückendes junges Mädchen zu nichts andrem zu brauchen gewußt, als daß Sie ihm ein Messer in den Leib gestochen und es kaputt gemacht haben! Halten Sie denn das für richtig?«

»Richtig? O nein!« rief ich verzweifelt. »Mein Gott, alles ist ja so falsch, so höllisch dumm und schlecht! Ich bin ein Vieh, Mozart, ein dummes böses Vieh, krank und verdorben, da haben Sie tausendmal recht. – Aber was dieses Mädchen betrifft: sie hat es selbst so gewollt, ich habe nur ihren eigenen Wunsch erfüllt.«

Mozart lachte lautlos, hatte nun aber doch die große Güte, das Radio abzustellen.

Meine Verteidigung klang mir selbst, der ich eben noch treuherzig an sie geglaubt hatte, unversehens recht töricht. Als einst Hermine – so erinnerte ich mich plötzlich – über Zeit und Ewigkeit gesprochen hatte, da war ich sofort bereit gewesen, ihre Gedanken für ein Spiegelbild meiner eigenen Gedanken anzusehen. Daß aber der Gedanke, sich von mir töten zu lassen, Herminens eigenster Einfall und Wunsch und von mir nicht im mindesten beeinflußt sei, hatte ich als selbstverständlich angenommen. Aber warum hatte ich damals diesen schrecklichen und so befremdlichen Gedanken nicht bloß angenommen und geglaubt, sondern sogar im voraus erraten? Vielleicht doch, weil es mein eigener war? Und warum hatte ich Hermine gerade in dem Augenblick umgebracht, wo ich sie nackt in den Armen eines andern fand? Allwissend und voll Spott klang Mozarts lautloses Lachen.

»Harry«, sagte er, »Sie sind ein Spaßvogel. Sollte wirklich dieses schöne Mädchen von Ihnen nichts anderes zu wünschen gehabt haben als einen Messerstich? Machen Sie das einem andern weis! Na, wenigstens haben Sie brav zugestochen, das arme Kind ist mausetot. Es wäre nun vielleicht an der Zeit, daß Sie sich die Folgen Ihrer Galanterie gegen diese Dame klarmachen. Oder sollten Sie sich um die Folgen drücken wollen?«

»Nein«, schrie ich, »verstehen Sie denn gar nicht? Ich mich um die Folgen drücken! Ich begehre ja nichts anderes als zu büßen, zu büßen, zu büßen, den Kopf unters Beil zu legen und mich strafen und vernichten zu lassen.«

Unerträglich spöttisch sah Mozart mich an.

»Wie pathetisch Sie immer sind! Aber Sie werden schon noch Humor lernen, Harry. Humor ist immer Galgenhumor, und nötigenfalls lernen Sie ihn eben am Galgen. Sind Sie dazu bereit? Ja? Gut, dann gehen Sie zum Staatsanwalt, und lassen Sie den ganzen humorlosen Apparat der Gerichtsmenschen über sich ergehen, bis zum kühlen Kopfabhacken in früher Morgenstunde im Gefängnishof. Sie sind also bereit dazu?«

Eine Inschrift blitzte plötzlich vor mir auf:

Harrys Hinrichtung

und ich nickte dazu mein Einverständnis. Ein kahler Hof zwischen vier Mauern mit kleinen vergitterten Fenstern, ein sauber hergerichtetes Fallbeil, ein Dutzend Herren in Talaren und Gehröcken, und inmitten stand ich fröstelnd in einer grauen Frühmorgenluft, das Herz zusammengezogen von jammervoller Bangigkeit, aber bereit und einverstanden. Auf Befehl trat ich vor, auf Befehl kniete ich nieder. Der Staatsanwalt nahm seine Mütze ab und räusperte sich, auch alle ändern Herren räusperten sich. Er hielt ein feierliches Papier vor sich entfaltet, daraus las er vor:

»Meine Herren, vor Ihnen steht Herr Haller, angeklagt und schuldig befunden des mutwilligen Mißbrauchs unsres magischen Theaters. Haller hat nicht nur die hohe Kunst beleidigt, indem er unsern schönen Bildersaal mit der sogenannten Wirklichkeit verwechselte und ein gespiegeltes Mädchen mit einem gespiegelten Messer totgestochen hat, er hat sich außerdem unsres Theaters humorloserweise als einer Selbstmordtechnik zu bedienen die Absicht gezeigt. Wir verurteilen infolgedessen den Haller zur Strafe des ewigen Lebens und zum zwölfstündigen Entzug der Eintrittsbewilligung in unser Theater. Auch kann dem Angeklagten die Strafe einmaligen Ausgelachtwerdens nicht erlassen werden. Meine Herren, stimmen Sie an: Eins – zwei – drei!«

Und auf drei stimmten sämtliche Anwesende mit tadellosem Einsatz ein Gelächter an, ein Gelächter im höheren Chor, ein furchtbares, für Menschen kaum erträgliches Gelächter des Jenseits.

Als ich wieder zu mir kam, saß Mozart neben mir wie zuvor, klopfte mir auf die Schultern und sagte: »Sie haben Ihr Urteil gehört. Sie werden sich also daran gewöhnen müssen, der Radiomusik des Lebens weiter zuzuhören. Es wird Ihnen guttun. Sie sind ungewöhnlich schwach begabt, lieber dummer Kerl, aber so allmählich werden Sie nun doch begriffen haben, was von Ihnen verlangt wird. Sie sollen lachen lernen, das wird von Ihnen verlangt. Sie sollen den Humor des Lebens, den Galgenhumor dieses Lebens erfassen. Aber natürlich sind Sie zu allem in der Welt bereit, nur nicht zu dem, was von Ihnen verlangt wird! Sie sind bereit, Mädchen totzustechen, Sie sind bereit, sich feierlich hinrichten zu lassen, Sie wären gewiß auch bereit, hundert Jahre lang sich zu kasteien und zu geißeln. Oder nicht?«

»O ja, von Herzen bereit«, rief ich in meinem Elend.

»Natürlich! Für jede dumme und humorlose Veranstaltung sind Sie zu haben, Sie großzügiger Herr, für alles, was pathetisch und witzlos ist! Nun, ich aber bin dafür nicht zu haben, ich gebe Ihnen für Ihre ganze romantische Buße keinen Groschen. Sie wollen hingerichtet werden, Sie wollen den Kopf abgehackt kriegen, Sie Berserker! Für dieses blöde Ideal würden Sie noch zehn Totschläge begehen. Zum Teufel, aber leben sollen Sie ja gerade! Es geschähe Ihnen recht, wenn Sie zur schwersten Strafe verurteilt würden.«

»Oh, und was für eine Strafe wäre das?«

»Wir könnten zum Beispiel das Mädchen wieder lebendig machen und Sie mit ihr verheiraten.«

»Nein, dazu wäre ich nicht bereit. Es gäbe ein Unglück.«

»Als ob es nicht schon genug Unglück wäre, was Sie angerichtet haben! Aber mit Pathetik und den Totschlägen soll es jetzt ein Ende haben. Nehmen Sie endlich Vernunft an! Sie sollen leben, und Sie sollen das Lachen lernen. Sie sollen die verfluchte Radiomusik des Lebens anhören lernen, sollen den Geist hinter ihr verehren, sollen über den Klimbim in ihr lachen lernen. Fertig, mehr wird von Ihnen nicht verlangt.«

Leise, hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, fragte ich: »Und wenn ich mich weigere? Und wenn ich Ihnen, Herr Mozart, das Recht abspreche, über den Steppenwolf zu verfügen und in sein Schicksal einzugreifen?«

»Dann«, sagte Mozart friedlich, »würde ich dir vorschlagen, noch eine von meinen hübschen Zigaretten zu rauchen.« Und indes er es sagte und eine Zigarette aus der Westentasche zauberte, die er mir anbot, war er plötzlich nicht Mozart mehr, sondern blickte warm aus dunklen Exotenaugen, und war mein Freund Pablo, und glich auch wie ein Zwillingsbruder dem Mann, der mich das Schachspiel mit den Figürchen gelehrt hatte.

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